Vorgeblättert

Leseprobe zu Betina Gonzalez: Nach allen Regeln der Kunst. Teil 3

11.03.2010.
2.
Eine Eigenschaft von Nina - die nie eine Ballettikone wurde - ist zweifellos, dass sie keine einzige Episode vergisst, die ein wenig ihre Eitelkeit kitzelt. Es genügt, sie von Stolen, Tüll und Glitzerpuder umgeben zu sehen, um das zu verstehen. Selbst wenn sie das alles gerade verschachert. Jedes dieser Dinge beschwört die Königin in ihr herauf und nicht die verblühte Frau, die mit den Käufern um jeden Peso feilscht.
     Es war nicht schwer, sie mit Komplimenten und offenem Interesse herumzubekommen, ich erzählte ihr sogar etwas von einem möglichen Artikel in der Zeitschrift von Radio Clasica, wo ich jemanden in der Redaktion zu kennen vorgab. Ich musste mich ihrem Rhythmus anpassen, geduldig zuhören, wenn sie in Kindheitserinnerungen und nichtssagende Episoden abdriftete, musste die langen Ausführungen über andere, unrechtmäßig zu Ruhm gekommene Tänzerinnen über mich ergehen lassen, die in irgendwelchen Büchern zur Geschichte des argentinischen Balletts verewigt worden waren. Doch mit jedem Sonntag wuchs mein Vater oder wurde neu erfunden, als erlangte er eine Körperlichkeit, die er für mich nie gehabt hatte, als wäre mein aufmerksames Zuhören am Schöpfungswillen der Erinnerung beteiligt.
     Nina war fünfunddreißig, als sie ihn kennenlernte (obwohl ich den Verdacht habe, dass sie schwindelt und um einige Jahre älter war). Ihre Karriere neigte sich schon langsam dem Ende zu, ohne dass sie je im erhofften Glanz erstrahlt wäre. Tief verletzt durch das Unabänderliche - wenn es noch etwas Schlimmeres gibt, als kein Star zu werden, obwohl man es sich so sehnlichst gewünscht hat, dann, sich seines Scheiterns so sehr bewusst zu sein -, ging nicht nur die Eitelkeit mit ihr durch wie ein scheuendes Pferd, sobald man sie daran erinnerte, sie hatte auch Jahre damit zugebracht, einen gefährlich artifiziellen Kreis von Bewunderern aus der intellektuellen Szene von Buenos Aires um sich zu scharen.
     In den schlimmsten Momenten verflucht sie das Tanzen, bemitleidet sich selbst in unvollständigen, melodramatischen Sätzen, es habe alles viel zu früh für sie begonnen, ihr bleibe nicht einmal der Trost, dem Leben auch nur die geringste Chance gegeben zu haben, anders zu verlaufen.
     Schon mit neun hatte sie beim Durchstöbern der Zeitschriften ihrer Tante in einer südamerikanischen Reader?s Digest-Ausgabe die Geschichte der Isadora Duncan gefunden. Von da an verkörperte jene für Nina die perfekte Kombination aus Anmut und Popularität. Sie hatte keine Ruhe gegeben, bis ihre Mutter sie an der Tanzschule ihres Stadtviertels angemeldet hatte, einer kleinen Schule unter dem würdevollen Regime zweier Schwestern, die es als Ballerinas immerhin zu Ensemblemitgliedern des Teatro Colon gebracht hatten. Über dem kleinen, stickigen Spiegelsaal hingen ein Foto von Dora del Grande und eines von Anna Pawlowa. Zweimal die Woche hatte Nina Unterricht. Abgesehen von den Grundpositionen, mochte sie es am liebsten, wenn Ofelia sie Gesichtsausdrücke üben ließ. "Eine Ballerina", sagte diese, "muss mit ihrem Gesicht genauso streng sein wie mit ihrem Körper. Wie einen Muskel muss sie es trainieren, bis sie damit jede Gefühlsregung zum Ausdruck bringen kann." Während der Grundübungen ließ sie sie vor dem Spiegel posieren und auf die unterschiedlichsten Arten lächeln, Blicke feuchter Beklommenheit und Grimassen tiefster Verachtung üben. Es war eine wirkungsvolle Methode. Während ihr die schreckliche Hitze der Anstrengung die Adern entlangkroch, vergaß Nina alles: den Schmerz im Bein, das sie über den Haarknoten hinweg in die Höhe streckte, die Angst, zu zerreißen, und ihre trockene Kehle, um stattdessen zu lächeln wie eine Porzellangeisha. Glücklich ging sie dann nach Hause, mit dem Gefühl frühreifer Falten auf dem schmerzenden Gesicht.
     Ihren zehnten Geburtstag feierte sie im Tutu, das Haar in das kleine weiße Netz gesperrt, das sie sonst nur bei Aufführungen trug. Im letzten Moment hatte sie ihrem Aufzug eine Stola ihrer Mutter beigefügt, die vom Hals bis auf den Boden fiel. Die Jungs lachten sie zwar aus, die Mädchen jedoch betasteten ehrfürchtig den Tüllsaum, und Ninas kleiner Triumph war, als eines der Mädchen unter Tränen von ihrer Mutter verlangte, ihr das gleiche Kostüm zu kaufen.
     Isadora Duncan würde die erste einer ganzen Reihe von Enttäuschungen sein, bei der die Realität sich nicht in die gezackte Gussform ihrer Vorstellungen einfügen ließ. Zwei Jahre Philosophie und Praxis der Grundgebote des BallettHoffmann und Campes, herbe Auseinandersetzungen mit ihren Lehrerinnen und ein beredtes Foto der fülligen, burschikosen Amerikanerin würden noch nötig sein, um ihr bewusst zu machen, wie weit entfernt die Tänzerin von der fragilen Elfe aus ihren Träumen war. Als Nina ihre Biographie las, die sie jubelnd an einem Stand gebrauchter Bücher auf der Plaza Italia entdeckt hatte, kam ihr die bittere Erkenntnis, dass die Duncan, die barfuß getanzt hatte, ganz Enthemmung und Improvisation gewesen war, dass sie wie weißer Rauch wallte, der zwischen den Brettern hervorquoll, ohne Schmuck, Glamour und Bühnenzauber, und nichts gemein hatte mit ihr, ganz Selbstbeherrschung und Angestrengtheit. Und doch übte ihr Tod eine solche Anziehungskraft auf sie aus, dass sie weiter von ihr gefangen genommen wurde. Sie verbrachte ganze Nachmittage damit, sich in allen Einzelheiten den letzten Spaziergang der Duncan durch Nizza vorzustellen, durch staubige Wäldchen hindurch, während ihr langer Seidenschal wie ein Wurmfortsatz mit der seiner güldenen Trägerin angemessenen Schwerelosigkeit hinter ihr herflatterte. Nina war davon fasziniert, dass sie auf dem Gipfel ihres Ruhms und in einem fremden Land gestorben war. Einsam wie immer, denn darum war es in ihrer Kunst gegangen, den Tanz in ein zartes Monogramm zu verwandeln. Ihr Tod glich der letzten Szene eines Lebens, wie man sie nur im Film sieht.
     Nach der Lektüre des Buches hatte sich die Duncan, die nichts durch harte Arbeit erreicht, die sich herausgenommen hatte, die Pawlowa zu bemitleiden, und die, während sie sich im harten Sankt Petersburger Winter Schmalzstullen einverleibte, ihren Sternen ironisch für die Liebenswürdigkeit dankte, ihr keine Karriere als Balletttänzerin beschert zu haben, in ein Fiasko verwandelt.
     Trotz allem hatte Nina sich Fotos von beiden Tänzerinnen über das Bett gehängt. Es war eine Art Altar, der sie daran erinnerte, dass Extravaganz, wie Ofelia sagte, ein kurzer, gefährlicher Weg war und man ohne Qual nichts erreichen konnte. Und doch musste es auch etwas für sich haben, in irgendeinem Vorort vor einem andächtigen, unverständigen Publikum so rasch wie ein Funke zu verglimmen.

Als sie Fabio kennenlernte, war von diesen Überlegungen nur noch technische Routine übrig, eine leere, beschwichtigende Methode, an die sich Nina all die Jahre geklammert hatte. Alles andere war ihr schlichtweg egal geworden. Außer Armando. Die Engagements in Europa, die jahrelang eine so große Rolle gespielt hatten, die Kritiker, die ihr Wandlungsfähigkeit absprachen, ihre dreckigen Freundinnen, die mit dem Finger auf die Verbindungen ihrer Familie zum Militär zeigten, ihre etwas saubereren Freundinnen, die sie insgeheim bemitleideten, weil sie nicht verheiratet war und keine Kinder hatte - sie alle konnten ihr ebenso gut gestohlen bleiben.
     Bei einem meiner Besuche hat mir Nina auch Fotos gezeigt. Jetzt, da Julian im Nebenzimmer schläft und ich mal wieder aufgeblieben bin und meine eigenen Fotokartons durchsehe, während ich die Geräusche der Nachbarn und von fern den Zug höre, habe ich das Gefühl, ich hätte ihr mehr Fragen stellen sollen, hätte sie nicht so leicht davonkommen lassen sollen mit einer Geschichte, die so wohlgeordnet daherkam wie die Schachtel, aus der sie einen Radiolandia-Artikel zog, eine Schachtel, auf der mit dickem Filzstift "Armando" stand. In jenem Moment fragte ich mich, ob Nina wohl auch eine Schachtel hatte, auf der "Fabio" stand (für jeden Liebhaber eine), sagte aber nichts, saß nur da und hörte ihr zu, zum einen, weil ich so überrascht war, zum anderen, weil ich mich durch meine Fragen nur verraten hätte.
     Das Foto auf dem Zeitungsausschnitt zeigte sie neben dem stämmigen italienischen Tenor. Und da waren noch andere junge Mädchen. Doch "Nina Vazquez, eine der Schönheiten des nationalen Balletts", war die Einzige, die nicht in die Kamera blickte. Man sah sie nur im Halbprofil, den gereckten Hals, das winzig kleine Ohr verloren in dem vollen schwarzen Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. In den Augen der anderen war ein klebriger, nach Öffentlichkeit lechzender Schimmer zu erahnen. Ihre dagegen sahen eindringlich zu dem Tenor auf, der, ohne irgendjemanden anzublicken, etwas zu breit lächelte, während sich sein Arm ungestraft um ihre Taille schlang. Nur wenig früher - erinnert sie sich - hätte sie genauso in die Kamera geblickt. Nur wenig früher, da hatten Dinge wie die Presse und Beziehungen ihr sehr viel bedeutet. Um einiges früher hatte sie noch keine Beruhigungspillen nehmen müssen, wenn Armando auf Tournee ging. Sehr viel früher war sie selbst ihre einzige Herausforderung gewesen.
     Doch in der heruntergekommenen Welt des Colon, das, in seinen beinahe kolonialen Ruhm eingelullt, vor sich hin dämmerte, war Nina noch eine Figur. Unter ihren Ensemblekollegen war sie bekannt dafür, mehr Trainingsstunden durchzuhalten als jeder andere, und für ihre Elastizität, die der einer Jugendlichen glich. Die Kritiker nannten sie die Letzte ihres Schlages, der "schmachtenden Ballerinas" der alten Schule. Wenn sie tanzte, dann so, als sträubte sie sich dagegen, als zerrte man an ihr. Sie war die Solotänzerin, die alle für Giselle wollten, nicht aber für Coppelia oder den Nussknacker.
     Ich bin mir sicher, mein Vater hatte keine Ahnung von alldem. Für ihn, der die Welt ohne Umschweife zu beurteilen pflegte, war sie eine Ballerina und Punkt. Für Ballett hat er sich niemals interessiert, und wenn er Musik hörte, dann eine seltsame Mischung aus Tangos und Songs der Beatgruppe Joven Guardia, mit der er uns sonntags die Ohren zudröhnte, wenn meine Mutter in der Kirche war und er uns Frühstück im Patio machte, wo wir genüsslich auf seinem frischen Ton herumtrampelten.
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Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hoffmann und Campe

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