Vorgeblättert

Leseprobe zu Betina Gonzalez: Nach allen Regeln der Kunst. Teil 1

11.03.2010.
1.
Mein Vater hat oft gesagt, jeder in unserer Familie leide unter irgendeiner Art von Essstörung. Und es stimmt, dass meine Schwester und ich die Gefräßigkeit unserer Mutter geerbt haben. Krügeweise Milch, Schokolade, Reisspeisen und mit Vorliebe Äpfel. Er dagegen nahm manchmal den ganzen Tag nichts als Graubrot und Oregano zu sich. Sein eigener Vater war entgegen allen medizinischen Prognosen dank einer strengen Speiseeis- und Hustensaftdiät über die letzten Winter gekommen, was ihn allerdings nicht davor bewahrt hatte, schleichend an Magenkrebs zu sterben. Vielleicht gingen wir deshalb jahrelang davon aus, meinem Vater würde es einmal genauso ergehen. Doch der hatte seine Methoden, Erwartungen zu enttäuschen, die wie eine Hypothek des Körpers oder Geistes über ihm schwebten. Also ist er auf besonders absurde Weise gestorben, nämlich indem er die Avenida del Libertador überquerte, ohne auf die Ampel zu achten. Ich bin mir fast sicher, er hat das mit Absicht getan - und sei es nur, um eine entfernte Verwandtschaft zu Gaudi herzustellen. Was auch immer es war, Zerstreutheit oder Vorsatz, eins wie das andere hätte ihm ein stolzes Lächeln entlockt.
     Natürlich hätte er nie eine Sagrada Familia als guten Grund für seine Schusseligkeit anführen können. Das Einzige, was er als Bildhauer zuwege gebracht hat, ist ein Standbild vom Unbekannten Soldaten, das man auf dem lehmigen Friedhof San Martin platziert hat, wo die Toten, mit tristen Passfotos und eitlem Tand versehen, dicht an dicht in ungeordneten Parzellen liegen. Es ist schon Ironie genug, dass er nur ein paar Meter entfernt von seinem Meisterwerk aus Bronze ruht.
     Die Nachricht seines Todes erreichte uns spät, da lag er schon einen ganzen Tag lang bewusstlos im Rivadavia-Krankenhaus. Ich hatte ihn ohnehin lange nicht gesehen. In dem Moment, als ich erfuhr, dass er überfahren worden war, zeichneten sich weder seine Gesichtszüge scharf vor meinem inneren Auge ab noch die Situation, bei der ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, an dem Tag, an dem er endgültig von zu Hause ausgezogen war, den gelben Taunus bis obenhin vollgestopft mit Werkzeug, Gips und irgendwelchem Kram und mit der dampfenden Schüssel frischgekochtem Mittagessen auf dem Beifahrersitz. Nein. Alles, was mir in dem Augenblick in den Sinn kam, war ein Schokoriegel.
     Oft hatte ich gehört, wie er in mein Zimmer kam und irgendetwas Süßes auf den Nachttisch oder unter mein Kissen legte. Manchmal hatte er es sogar eingepackt, ein nicht zu vernachlässigendes Detail, wenn man bedenkt, wie sparsam er in seinen Gesten war. Ich weiß noch, wie er mich einmal mit einem Kärtchen überraschte, auf dem "Für Claudia" stand, mit einer Karikatur von mir und meiner Lieblingskatze.
     Er kam immer spät nach Hause, trieb sich in der Kneipe herum oder im Schachklub, wo er lediglich Billard spielte (das Esszimmerregal trug neben allen möglichen unnützen Dingen eine lange Reihe seiner Stadtteilpokale). Auf Partys oder an Karneval tanzte er ständig mit anderen, denn seiner Frau wollte - falls er sie dazu überreden konnte - kein einziger Schritt glücken. Meist sah sie ihm nur von irgendeiner Ecke aus zu und biss sich auf die langgezogenen, dünnen Lippen, die von Zornesfalten umrankt waren wie von einer liebevollen, starken Kletterpflanze, die wir nur zu gern erklommen hätten.
     Meine Erinnerung an die Beerdigung ist noch verschwommener, als läge diese weiter zurück. Ich weiß nicht, wie es Florencia und meiner Mutter ging, für mich war es das letzte Eindringen Fabio Gemellis in unser Leben, so unvermittelt wie seine Anrufe. Die banalen Gespräche der wenigen Besucher wurden von der unerträglichen Januarmittagshitze erstickt; die unbequeme, steife Kleidung glich einer endlosen Tortur, so wie der ganze Tag eine Tortur war, ein verlorener Schultag, vergeudet an eine Prozession unbekannter Gesichter, neben der wir drei einhergingen wie in einem Stummfilm.
     Keine seiner Frauen ließ sich an jenem Tag blicken: weder Graciela Lujan, mit der mein Vater über zwei Jahre zusammengelebt hatte, noch die mysteriöse Liliana, aus der meine kindliche Phantasie anhand von Randnotizen in einer zerlesenen Rayuela-Ausgabe eine konfuse Heldin gemacht hatte. Jenes Buch und die Erinnerung an eine Frauenskulptur waren bis zu diesem Zeitpunkt das Einzige, was mir mein Vater vererbt hatte, oder zumindest das Einzige, was ihn zu einem anderen machte, zu einem, der nichts mit den Familiengeschichten zu tun hatte.
     Ein paar Künstler waren allerdings da. An dem Tag erfuhr ich, dass man ihn in Santos Lugares (jedoch nicht viel weiter darüber hinaus) für einen talentierten Bildhauer hielt und dass er nur wenige Freunde gehabt hatte. Darunter einige, die ich wiedererkannte, weil sie sich ab und zu abends bei uns zu Hause getroffen hatten, als ich noch zur Schule ging.
     Tatsächlich ist es einem dieser Abende zu verdanken, dass ich die Skulptur zum ersten Mal sah. Damals hatte mein Vater seine Freunde im Wohnzimmer sich selbst überlassen und zeigte einem dünnen Mann mit schwarzen Augen und Haaren, von denen etwas Furchterregendes ausging, begeistert einen Quebracho-Holzpflock. Vom dunklen Flur aus ähnelten ihre großen Silhouetten den Schatten böser Geister, die gleich wieder in ihre Lampen zurückfahren würden.
     Der Kupferstecher fuhr mit den Fingern über die raue Oberfläche des Holzes und kniff die Augen zusammen. Er sagte nichts. Dann entdeckte er das kleine, unförmige, mit einem Tuch bedeckte Etwas auf dem Tisch, das schon seit zwei Wochen Objekt meiner zaghaften Erkundungen und Mutmaßungen gewesen war.
     Er nahm das Tuch von der Skulptur, und die harten Konturen in dem braunen Gesicht wurden weicher, als er unterschwellig witzelte:
     "Schon wieder eine, Gemelli?"
"Es ist albern, ich weiß." Doch sein Lachen widersprach dem.
     "Albern und geschmacklos. Ich verstehe es nicht."
     "Ach was. Kommen Sie schon, es ist ein harmloses Geschenk."
     "Aus ästhetischer Sicht, lassen Sie sich das sagen, hat es durchaus etwas Kränkendes."
     "Das macht es doch nur amüsanter, oder? Schließlich stehe ich dafür gerade. Sehen Sie, ich habe sie alle signiert."
     Der Sinn der Unterhaltung erschloss sich mir erst ganz, als sie zurück ins Wohnzimmer gegangen waren. Das Licht hatten sie angelassen, und es fiel auf die kleine Bronzefrau. Sie hatte Beulen am Körper, Beulen, die aus dieser Entfernung nur mit Mühe als Äpfel zu identifizieren waren.

Erst jetzt, im sicheren Winkel eines Bücherschranks, gibt sich jeder einzelne Auswuchs an der Skulptur ganz zu erkennen, derweil sich die beiden Frauen weiter über Preise und Antiquitäten unterhalten. Aus dem Gemurmel der Käufer und Neugierigen dringt, angeregt vom Schaumwein und den Miniquiches, die eine Hausangestellte mit anachronistischem Häubchen herumreicht, Tante Carmens Stimme erstaunlich klar zu mir herüber.
     Schräg und träge scheint die Sonne durch die Häkelgardinen und versiegt auf ihrem Weg zu jenem Möbelstück. Eine ganze Weile bleibe ich in die Betrachtung der kleinen Statue versunken, während ich ihren Stimmen lausche wie einer fernen, angenehmen Sonate, die meinen Forscherdrang im Hintergrund belässt. Doch schließlich - die Neugier siegt - verlasse ich meinen lila Cretonne-Sessel und nähere mich dem Bücherschrank.
     Die Hausherrin folgt mir heimlich, stellt ihr Glas auf das wurmstichige Holzbord, das die Skulptur mit weiteren Scheußlichkeiten aus falschem Porzellan, mit Vasen und Haarspangen teilt, und legt mir die Hand auf die Schulter. Eine kleine, schlanke Frau mit einer sanften Stimme. Sie ist so stark geschminkt, dass ihr Gesicht grausam nah wirkt.
     "Nein, meine Liebe, die ist nicht zu verkaufen. Die ist mein ganz persönlicher Schatz."
     Ich will mit einem Lachen darauf antworten, doch der plötzliche Glanz in ihren Augen lässt es zu einer unbequemen Grimasse erstarren. Ich lege meine Hand auf den Rücken der Skulptur, meine Finger gleiten die Beine hinab, an denen die Äpfel, in plumper Symmetrie zu den Brüsten, Knie nachbilden.

Teil 2
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