Vorgeblättert

Leseprobe zu Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Teil 2

04.08.2014.
(Seite 238 ff)


Jede Schilderung der beiden Aufführungen von Ubu Roi wird von der Tatsache verkompliziert, dass das Publikum an den zwei Abenden unterschiedlich reagierte und man sich nicht sicher sein kann, von welchem Abend in den Kritiken oder Memoiren jeweils die Rede ist. Außerdem besuchten einige von Jarrys Anhängern beide, Gide zum Beispiel. Die meisten Berichte scheinen sich auf die zweite Aufführung zu beziehen, also auf die Premiere am 10. Dezember. Sämtliche Kritiken erschienen am 11. Dezember oder aber erst viel später; auch wer das Ereignis in einem Tagebuch festhielt, wie zum Beispiel Renard, oder sich anderweitig dazu äußerte, wie zum Beispiel Régnier in seinen Aufzeichnungen, der erwähnte fast immer den 10. Dezember. Die erste Aufführung, die öffentliche Generalprobe, diente als eine Art von Publikumsouvertüre zum eigentlichen Ereignis, und da es daraufhin sofort in der Gerüchteküche zu brodeln begonnen hatte, vor allem da auch die parteiischen Kritiker schon in der Generalprobe gewesen waren, war das Premierenpublikum mit Sicherheit bereits vorbereitet gewesen auf das, was es am nächsten Abend zu erwarten hatte. Ergo wird allgemein angenommen, dass es bei der Premiere chaotischer zuging als bei der Generalprobe. Doch selbst diese Behauptung muss mit Vorbehalt betrachtet werden, denn einige Premierengäste, und sogar Gémier selbst, sollten das Gegenteil behaupten - allerdings erst in fünfundzwanzig Jahre später geführten Interviews.(76)
     Es war unmöglich, an Karten heranzukommen. Colette waren von Jarry Karten für die Generalprobe versprochen worden, der sie dann jedoch zu schicken vergaß, weshalb sie sich im letzten Moment zu einem flehentlichen Telegramm an Vallette veranlasst sah. Am Premierenabend waren sämtliche wichtigen Zeitschriften und Zeitungen vertreten. Auch Jarrys Freunde (und Feinde) aus der Literaturszene waren mehr oder weniger alle gekommen, ausgenommen Mallarmé. Die jüngere Avantgarde war durch die eng geschlossenen Reihen der Schreiber vom Mercure und der Revue Blanche repräsentiert. Ehrwürdigere littérateurs waren ebenfalls da: Catulle Mendès, Jean Richepin, Jean Lorrain, José-Maria de Heredia (der Jarry eigens persönlich geschrieben hatte, um sich einen Platz nahe der Bühne zu sichern, damit "ich kein einziges Wort verpasse"). Willy, der damals um ein Vielfaches umjubelter war als seine junge Frau Colette und ja nicht nur das Stück, sondern auch dessen Autor bereits gut kannte, erwartete gespannt einen tumultösen Abend. Valéry kam mit Marguerite Moreno und Schwob (trotz seiner Erkrankung), Fanny Zaessinger mit ihrem Liebhaber, dem Maler Charles Léandre. Antoine war da, wie auch traditionellere Theoretiker, angeführt von den Kritikern Sarcey und Henry Fouquier, die in der Gesellschaft von Georges Courteline und Edmond Rostand gekommen waren. Unter den Reaktionären erwähnenswert war vor allem Arthur Meyer, der Herausgeber von Le Gaulois. Madame Boehmer-Clark führte die Prozession ihres Salons mit den aristokratischen Rive-Droite-Ästheten samt Armory, Roig und deren Freunden an. Henri Morin kam, nicht aber sein Bruder. Dem angelsächsischen Kontingent gehörten unter anderem Arthur Symons und William Butler Yeats an.(77)
     Jarry hatte ein paar Vorkehrungen getroffen, die er vermutlich für sich behielt. Ein paar Monate zuvor war er erstmals wieder zu Ernest gegangen, durfte aber feststellen, dass man ihm seinen Initiationsschabernack dort mittlerweile vergeben hatte. Und da er fand, dass es eine Partei im Publikum geben müsse, die unabhängig von seinen Freunden agierte, lud er die Stammgäste von Ernest ein und beauftragte sie, die Gruppe der "Gegenclaqueure" zu bilden. Das Ganze bedurfte eines umsichtigen Plans. Jarry erklärte ihnen: "Es muss ein sogar noch größerer Skandal werden als Phèdre oder Hernani. Das Stück darf seinen Schluss nicht erleben, das Theater muss explodieren." Falls man Beifall zollen würde, müssten sie einen Sturm des Protests loslassen, falls das Publikum buhen würde, sollten sie ekstatische Ausrufe der Bewunderung von sich geben. Sie sollten Kämpfe mit ihren Sitznachbarn provozieren und, da sie auf dem Balkon sitzen würden, das Parkett mit Geschossen bewerfen. Also nahmen Rémond, Sior Carlo, Don Beppi, Fluchaire und viele andere Stammgäste von Ernest vor der Vorstellung ihre Sitze ein, begleitet von Père Ernest höchstselbst, der sich unbeabsichtigt in eine äußerst ubueske Garderobe samt chapeau Cronstadt (ein niedriger Zylinder) geschmissen hatte, sich in dem vollgepackten Theater umsah, die quirlige laute Menschenmenge unter sich betrachtete und mit einigem Erstaunen meinte: "Und das alles wegen meines Gastes Jarry?" Von da an durfte Jarry bei ihm anschreiben.(78)

                                                   *

Das morgendliche Großereignis am 9. Dezember 1896 war für die Theater-Hautevolee ein festlicher Brunch zu Ehren von Sarah Bernhardt im Grand Hôtel gewesen. Fünfhundert Gäste nahmen teil und zogen dann gemeinsam weiter zum Théâtre de la Renaissance, um sich die Matinee anzusehen, in der die Schauspielerin Szenen aus Racines Phèdre (Phädra) und Voltaires Rome sauvée (Das gerettete Rom) spielte. Doch der Abend gehörte Jarry und der öffentlichen Generalprobe von Ubu Roi.(79)
     Nach dreimaligem Klopfen auf der Bühne wurde das Licht gedämpft und zwei Arbeiter, sehr angemessen für das OEuvre, betraten die Bühne vor dem geschlossenen Vorhang mit einem kleinen Holztisch, der mit einem Kohlensack umwickelt war, und einem Stuhl, dessen Sitzfläche aus Rohrgeflecht bestand. Jarry - das Gesicht weiß gepudert, das Haar an den Kopf geklatscht und in ein "unmöglich" großes, schwarzes Gewand samt kragenlosem weißem Hemd und einer riesigen Pierrotschleife gehüllt - folgte auf dem Fuße und nahm Platz, um die Vorrede zu halten, von der Rachilde Lugné-Poë so abgeraten hatte. Letzterer wird dann wohl nicht umhingekommen sein festzustellen, dass sie weniger der Erklärung des Stückes als der Entschuldigung seiner Schwächen diente - aufgrund der Änderungen, die dem Autor aufgezwungen worden waren. Jarry sprach ruhig, wohlgesetzt und so tonlos wie immer, weshalb man ihn auch nicht überall im Zuschauerraum hören konnte. Die Rede endete mit einer Erläuterung der mise en scène(80):

     Wir haben übrigens eine vollkommen genaue Dekoration; denn ebenso wie es keine Schwierigkeiten macht, ein Stück in die Ewigkeit zu legen, indem man zum Beispiel im Jahr tausend und soundso viel Revolverschüsse abfeuern läßt, werden Sie sehen, wie sich Türen unter blauem Himmel auf verschneite Ebenen öffnen, wie mit Pendeluhren verzierte Schornsteine sich spalten, um als Türen zu dienen, und wie Palmen am Fuße von Betten grünen, damit kleine, auf Regalen sitzende Elefanten sie abweiden können.
     Was unser fehlendes Orchester angeht, so wird man nur die Intensität und die Klangfarbe vermissen, denn mehrere Klaviere und Pauken spielen hinter den Kulissen Ubus Themen. Was die Handlung betrifft, die jetzt beginnt, so spielt sie in Polen, das heißt Nirgendwo.(81)

Nach dem letzten Wort: nichts. Kein Applaus, keine Buhrufe. Stille. Rémond und seinen Mitverschwörern wurde es unbehaglich. Moreno behauptet, es sei während Jarrys Vortrag zu Störungen gekommen, aber das könnte sich auch auf den Premierenabend bezogen haben.(82)
     Die aufgeführte Fassung bestand aus drei Akten von jeweils rund zwanzig Minuten, wie ein Kritiker schrieb.(83) Andere berichten jedoch von einer wesentlich längeren Dauer wegen der vielen Unterbrechungen. Das Drama selbst hat fünf Akte, und da Jarry in seiner Vorrede angekündigt hatte, dass die ersten drei vollständig aufgeführt und nur von Auszügen aus den beiden letzten gefolgt würden, stimmten vermutlich auch deren Zeitabläufe nicht mehr mit der schriftlichen Fassung überein. Es lässt sich also schwer einschätzen, wie lange die erste Aufführung wirklich gedauert hat - bevor allen alles zu viel wurde. Gémier schilderte den entscheidenden Moment:

     Wissen Sie, was die ersten Worte über das Stück waren? Es kam gut an! Der Szenenwechsel mit der Tafel amüsierte das Publikum. Jeder lachte. Manche lachten verhalten, andere zustimmend, aber wenigstens lachten sie. Die Szenen mit dem Boten, in Ubus Haus, im Königspalast, auf dem Paradeplatz und in der Höhle mit den Schatten der Ahnen, das Massaker an den Adligen und Phynanzherren im Prunksaal des Palasts, alles lief sehr gut, das heißt, so gut man es eben erwarten konnte. Doch bei der Szene im Verlies von Thorn brach sich mit einem Mal heftige Feindseligkeit Bahn. Sie werden sich erinnern, dass Père Ubu, nachdem er fünf Tage lang König gewesen war, Capitaine Bordure aufsucht, den er gefangen hält. Anstelle des Tors zu seinem Verlies stand ein Schauspieler auf der Bühne, den linken Arm ausgestreckt. Ich legte ihm die Schlüssel in die Hand, als sei diese das Schloss. Dann ahmte ich das Quietschen eines sich öffnenden Schlosses nach und bewegte seinen Arm zur Seite, so als öffnete ich eine Tür. An dieser Stelle begann das Publikum, das zweifellos fand, dieser Jux sei jetzt wirklich ausgelutscht, aufzuheulen, von allen Seiten brach ein regelrechter Sturm aus Zurufen, Schreien, Beleidigungen aus, begleitet von einer ganzen Breitseite an Pfiffen und tausend anderen lärmenden Dingen, ein Getobe, wie ich es noch nie gehört hatte. Es überstieg alles, was ich jemals erlebt hatte, ich hatte schon andere Avantgarde-Rollen gespielt, die schlecht aufgenommen wurden, aber noch nie zuvor das Gefühl gehabt, dass das Publikum schlicht und einfach genug von allem hatte.(84)

Gémier begann daraufhin wild herumzuhüpfen, in dem Versuch, wieder Ruhe herzustellen. Das Stück ging weiter. Dass ein so simples theatralisches Detail, das heute jeder als ein Klischee empfinden würde, zu derart extremen Reaktionen herausfordern konnte, beweist nur, wie innovativ diese Inszenierung wirklich war. Das Ganze war deutlich erkennbar eine Schöpfung von Jarry, angelehnt an die Pantomimen, für die er sich so ungemein begeisterte. Die Aufführung wurde auch weiterhin von Buhrufen, Pfiffen und sogar Faustkämpfen unterbrochen, wie Moreno schrieb: "Ich weiß nicht, wie viele Hiebe unter den Zuschauern während der drei Stunden, die diese Aufführung dauerte, ausgetauscht wurden, aber eines ist gewiss: Kein Boxkampf könnte jemals mit der Generalprobe von Ubu Roi konkurrieren." An einem Punkt gab der unter seiner Maske und dem Kostüm fast erstickende Gémier schlicht auf, setzte sich an den Bühnenrand und ließ die Beine baumeln. Der Theaterdirektor Alphonse Franck, der in der ersten Reihe saß, gab ihm gestisch zu verstehen: "Der Ausgang ist dort drüben!"(85)
     Das war nicht ganz die Art von Explosion, die Jarry sich erhofft hatte. Doch der nächste Abend sollte ihn nicht enttäuschen.

                                                        *

Die Premiere begann genauso wie die Generalprobe. Nach der Vorrede hängte Jarry das Pierrotkostüm an einen Garderobenständer und verschwand hinter dem Vorhang. Begleitet von Terrasses kurzer Ouvertüre am Piano erloschen die Lichter im Saal. Der Vorhang öffnete sich und gab den Blick auf Allerorts/Nirgendwo frei, das ziemlich woanders war als Ibsens nebelhafter Nordwald oder Maeterlincks Traumkulisse. Ein Herr im Kaftan und mit den Attributen des Kronos - extrem langer weißer Bart und lange weiße Haare - schlurfte an den Bühnenrand und hängte ein Schild an den Garderobenständer, das die Szene andeutete: "Im Haus von Vatter und Mutter Ubu". Dann zwängte sich Gémier mit seinem enormen Wanst und dem maskierten Gesicht durch den Kamin, wölbte sich hervor und deklamierte das berühmte erste Wort des Stückes: "Merdre!" (mit einem zweiten "r", um es klangvoller zu machen, in der deutschen Übersetzung "Scheitze").(86)
     Diesmal brach augenblicklich Tumult aus. "Sofort erhob sich von allen Seiten protestierendes Getöse, ein Chaos aus Zurufen, Pfiffen, Gequake, Gejohle und Gebell, welchem die schändliche Derbheit eines fast jeden Satzes genügend Vorwand für stetige Wiederholungen bot", berichtete ein Kritiker. Nicht wenige standen auf und gingen. Zwischen Befürwortern und Gegnern flogen so ordinäre Schimpfworte hin und her, dass das Stück rund fünfzehn Minuten lang völlig zum Stillstand kam. Die seltsamsten Varianten "des Wortes" hallten durch den Saal. Willy peitschte den Aufruhr an: "Weitermachen!", brüllte er und wedelte mit seinem Hut. Das Stück spielte sich nun im Saal ab, während die Schauspieler unbewegt von der Bühne aus zusahen. Die eine Hälfte des Publikums war vor Begeisterung hingerissen, erinnerte er sich, die andere fuchsteufelswild. Jean de Tinan spornte beide Fraktionen an, indem er gleichzeitig lautstark applaudierte und gellende Pfiffe von sich gab. Gémier hatte sich mit einer Tröte bewaffnet und versuchte das Publikum damit zu bezwingen, jedenfalls gelang es ihm damit, den Protest in Gelächter zu verwandeln. Schließlich war wieder ein gewisses Maß an Ruhe hergestellt, doch sobald dieses "Wort" fiel, brach neuerlicher und jedes Mal lauterer Krawall aus. Noch ein "merdre" von Gémier, prompt folgte zu großem Gelächter ein "mangre!" ("friss!", ebenfalls mit einem zweiten "r") aus dem Publikum. Sarcey verließ den Saal schon während des ersten Aktes, vielleicht, weil er den lauten Applaus der Frau hinter sich nicht ertragen konnte, vielleicht aber auch, weil sie sich zu ihm vorgebeugt und ihm "alter Bastard!" ins Ohr geflüstert hatte. Der Kritiker Jules Lemaître war verunsichert: "Das kann doch nur ein Scherz sein?" Jarrys Freunde aus dem Ernest schmissen sich mit Elan auf die ihnen gestellte Aufgabe: Morand beleidigte jeden in Hörweite, um einen Faustkampf zu provozieren, die anderen pfiffen und schrien sich die Lunge aus dem Leib, nur Ernest selbst saß verwirrt dabei: "Warum dieses ganze Spektakel? Worüber regen die sich alle so auf?"(87)
     Gute Frage. Die Theaterbesucher sahen sich an diesem Abend mit etwas konfrontiert, das sie sich einfach nicht erklären konnten, mit einer Art Albtraum, den ein Kritiker in die Worte fasste: "Fünf Akte des Gekreisches und Gestikulierens von ungemein grotesken Puppen, die den Eindruck erweckten, als hätte man so etwas wie eine Halluzination." Jarry hatte seine Idee von einem Stück erläutert, das in der Ewigkeit angesiedelt ist, doch dieses Spektakel bot nun eine ganz andere Art von Anachronismus: Es wirkte, als habe man ein modernes Drama aus der Mitte des nächsten Jahrhunderts auf die Bühne plumpsen lassen und dabei all die zwischenliegenden Entwicklungen am Theater übersprungen, die das Publikum auf die neuen Bräuche hätten vorbereiten können. Georges Courteline platzte der Kragen bei der Gefängnisszene. Er stellte sich auf seinen Sitz und rief: "Könnt ihr nicht sehen, dass sie verdammte Narren aus uns machen?!" Was die Details auf der Bühne betrifft, so wissen wir nicht nur von der Tür zum Verlies, sondern auch von anderen Innovationen, von denen es ja eine Menge gegeben haben muss. An einem Punkt sollten die drei Palotins (Pfahlgeister) im Gänsemarsch abgehen, wobei es jedoch so aussehen musste, als stiegen sie eine Treppe hinab, also wurden ihre Körper von der Taille abwärts von einem niedrigen Stellschirm verdeckt, während sie peu à peu tiefer in die Knie gingen und am Ende vermutlich von der Bühne abkriechen mussten. Solch offenkundiger Blödsinn war schon schlimm genug für das Publikum, aber noch gar nichts im Vergleich zur Hauptfigur, einem unmenschlichen Monster hinter einer bärtigen Maske und mit einem umgeschnallten Wanst, dem es auch noch am letzten Hauch von Anstand mangelte, ein sogenannter König, der mit einer Klobürste anstelle eines Zepters herumwedelte. Und wie alle anderen Schauspieler tollte auch er aus unerfindlichen Gründen in einem marionettenartigen Taumeln auf der Bühne herum: "Dieses Gezucke und Gehopse, diese obszönen, kampflustigen, fluchenden hölzernen Rüpel", beschrieb Symons sie. Weidenrohrpuppen "spielten" die Adligen, Gerichtsherren und Pfuinanzherren, die hämisch in den Graben geworfen wurden; Schlachten wurden gekämpft zwischen den Soldaten des Zaren (der erst jüngst so bejubelt worden war auf den Straßen von Paris) und des Ubu, hoch zu seinem lächerlich angemalten Weidenross. Die Kulisse ergab überhaupt keinen Sinn; die Kostüme waren nicht nur erbärmlich, sondern auch ein hoffnungsloses Durcheinander aus verschiedenen Epochen und Regionen; und die Schauspieler sprachen ihre Texte, sofern sie überhaupt durch die Masken hindurchdrangen, in einer Fülle von unterschiedlich eigentümlichen Akzenten - Mère Ubu in einem seltsamen Patois, Bordure (Tatzensaum) mit englischem Akzent, la Reine Rosemonde (Königin Rosmunde) klang wie aus der Auvergne usw. Das alles gehörte natürlich zu Jarrys "universellem" Gerüst, doch auf den Großteil des Publikums wirkte es bestenfalls unnötig und unverständlich, schlimmstenfalls verrückt oder wie ein bewusster Affront. Und was die Handlung betraf, so wirkte sie lediglich grob und die blaustichige Beleuchtung lediglich unheimlich und Ubus Possen lediglich lahm, na ja, und dann diese Fäkalsprache …(88)
     Am Ende des ersten Aktes trat Gémier an den Bühnenrand und schmetterte ein weiteres, noch bedrohlicheres "Merdre"! Und das mit solcher Verve, dass das völlig verblüffte Publikum erst ganz still wurde und dann in lauten Applaus ausbrach. Doch kaum hob sich der Vorhang wieder, brach erneuter Tumult aus. Im weiteren Verlauf des Abends musste Herold immer wieder das Licht im Saal anmachen, um Ruhe und Ordnung herzustellen, doch dann geschah wieder etwas Skandalöses auf der Bühne, und es brach neuerliches Protestgeschrei aus. Zwischenrufe wie "Lang lebe Scribe!" (Sarceys Lieblingsdramatiker) oder, etwas obskurer, "Mistkäfer!" (war Ubu gemeint?) wechselten sich mit den üblicheren Zurufen wie "Bravo!", "Schande!", "superb!" oder "dämlich!" ab. Der Theaterdirektor wurde unter großem Beifall von mehr als nur einem Witzbold zum "Lugné-Poë de Chambre " geadelt (ein verballhornter pot de chambre: Nachttopf ). Louise Franc" puppenartige Gebärden forderten zu regelrecht persönlichen Beleidigungen heraus: "Du bist ja besoffen, Schlampe!", was Jarrys Claqueure prompt mit übertriebenen Akklamationen wie "sublim!", "besser als Aischylos!" konterten oder mit Angriffen auf die Gegner: "Ihr habt auch Wagner ausgebuht!" Der Dichter Fernand Gregh rief: "Wundervoll, wie Shakespeare!", worauf sein eigener Bruder vom Balkon zurückschoss: "Du hast Shakespeare ja nicht einmal gelesen, Schwach kopf!" Jean Lorrain schrieb in seiner Kolumne im Journal, dass um zehn Uhr Sitze durch die Luft zu fliegen begannen, begleitet vom viehischen Gebrüll und den Protestschreien der eleganten Ästheten und ihrer blassen Gefährtinnen mit den geflochtenen Haarschnecken, alldieweil Claude Terrasse im Dunkel hinter der Bühne hilflos zwischen den Pauken und Cinellen und seinem Piano stand. Lugné-Poës Bericht zufolge war der Aufruhr so laut, dass nicht einmal er, Terrasse, der Handlung noch folgen konnte und deshalb mehr oder weniger beliebig, "wie ein Hund nach Fliegen schnappt", hie und da auf die Cinellen schlug. Das Ergebnis war, wie der Kritiker von La Patrie schrieb, ein "Zing, zing, batta-zing, bummbumm".(89)
     Schließlich war es vorbei. Gémier trat an den Bühnenrand, erleichterte sich um ein letztes "Merrrrdrrrrre", nahm die Maske ab und verkündete: "Das soeben aufgeführte Stück ist von Monsieur Alfred Jarry!" Neuerlicher Tumult. Der Vorhang fiel. Es gabb keine Verbeugung. Die Lichter gingen an, dann wieder aus, dann wieder an: ein Versuch, die Masse zur Räson zu bringen. Das Gezänk ging weiter, hie und da traf noch ein Faustschlag sein Ziel, während aus allen Ecken immer wieder "das Wort" zu hören war. Die Polizei wurde gerufen, um mitzuhelfen, das Publikum aus dem Theater zu treiben. Rémond und seine Gang liefen auf einen Absacker zu Ernest zurück, wo der Patron wieder und wieder vor sich hin stammelte: "Und all das, diese ganze feine Gesellschaft, nur wegen meines Gastes Monsieur Alfred!"(90)

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(74) Béhar, Les Cultures de Jarry, op. cit., S. 248; Robichez, Le Symbolisme au théâtre, op. cit., S. 376.
(75) Béhar, ibd., S. 248; Robichez, Lugné-Poë, op. cit., S. 126; Jourdain, Né en 76, op. cit., S. 207f.; Goujon, Jean de Tinan, op. cit., S. 146.
(76) André Gide, Journal, Bd. 1, Gallimard, Paris 1996, S. 245; Jules Renard, Journal, François Bernouard, Paris 1927: Die Quellenangaben beziehen sich auf die Gallimard-Edition aus dem Jahr 1935, hier S. 246; Régnier, De mon Temps, op. cit., S. 151; Firmin Gémier, "La Création d"Ubu Roi", in: Excelsior, 4. November 1921: Die Quellenangaben beziehen sich auf den Nachdruck in: Europe, op. cit., S. 143.
(77) CCP 10, S. 85; Goujon, "Menus propos sur une lettre de Heredia à Jarry", in: EA 7-8 (1980), S. 45ff.; Dominique Sineux, "Alfred Jarry et Paul Valéry", in: EA 13-14 (1982), S. 16; Goudemare, Marcel Schwob ou les vies imaginaires, op. cit., S. 210; Roig, "Mon ami Alfred Jarry", op. cit., S. 508; Arnaud, Alfred Jarry d"Ubu roi au Docteur Faustroll, op. cit., S. 253.
(78) Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", op. cit., S. 664.
(79) Robichez, Lugné-Poë, op. cit., S. 77.
(80) Arthur Symons, "A Symbolist Farce", in: Saturday Review, 19. Dezember 1896: Quellenangaben beziehen sich auf den Nachdruck in: Studies in Seven Arts, Constable and Co., London 1906, S. 645; Gémier, "La Création d"Ubu Roi", op. cit., S. 142; Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", S. 66; Caradec, "André Gide et Jarry", op. cit., S. 44.
(81) Jarry, OC 1, S. 400f./GW: Ubu, "Vorrede", op. cit., S. 322f.
(82) Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", S. 665; Moreno, La Statue de sel et le bonhomme de neige, op. cit., S. 114.
(83) Lucien Besnard, "Ubu Roi", in: Revue d"Art dramatique, 1, 1896, S. 193.
(84) Gémier, "La Création d"Ubu Roi", op. cit., S. 142.
(85) Moreno, La Statue de sel et le bonhomme de neige, op. cit., S. 114f.; Gémier, "La Création d"Ubu Roi", op. cit., S. 142.
(86) Jarry, OC 1, S. 401/GW: Ubu, op. cit., S. 9; EA 4, 1979, S. 16; Robillot, "La Presse d"Ubu Roi", op. cit., S. 76.
(87) Robillot, "La Presse d"Ubu Roi", op. cit., S. 76; Rachilde, Alfred Jarry, op. cit., S. 71f.; Willy, Souvenirs littéraires et autres, Éditions Montaigne, Paris 1925, S. 19; Renard, Journal, op. cit., S. 246; Louis Perche, Alfred Jarry. Éditions Universitaires, Paris 1965, S. 31f.; Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", op. cit., S. 666f.; Valentin Mandelstamm, "Dans la coulisse d"Ubu Roi", in: Fantasio, 42, 15. April 1908. Die Quellenangaben beziehen sich auf den Nachdruck in: EA 7-8 (1980), S. 68; Moreno, La Statue de sel et le bonhomme de neige, op. cit., S. 114.
(88) Robillot, "La Presse d"Ubu Roi", op. cit., S. 81, 83; Lugné-Poë, Parade, op. cit., Bd. 2, S. 177; Robichez, Le Symbolisme au théâtre, op. cit., S. 366; Symons, "A Symbolist Farce", op. cit., S. 375; Henri Béhar, Jarry dramaturge, A.-G. Nizet, Paris 1980, S. 71f.; Jarry, OC 1, S. 402f./GW: Ubu, op. cit., "Kostümverzeichnis", S. 328ff.; EA 4, 1979, S. 16.
(89) Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", op. cit., S. 666ff.; Julien Schuh, "Articles non répértoriés sur les premières représentations d"Ubu Roi", in: EA 119-120 (2007), S. 104; Robillot, "La Presse d"Ubu Roi", op. cit., S. 787, 82; Robichez, Lugné-Poë, op. cit., S. 80; Lugné-Poë, Parade, op., cit., Bd. 1, S. 177.
(90) Rémond, "Souvenirs sur Jarry et autres", op. cit., S. 668; EA 4, 1979, S. 16

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