Vorgeblättert

Leon Blum: Beschwörung der Schattung. Teil 3

04.08.2005.
Das Marschgepäck des Dreyfusards, wenn ich so sagen darf, bestand damals aus zwei Konvoluten von verschiedener Herkunft, die sich aber nun ineinandergeschoben hatten. Die Arbeit von Bernard Lazare und die Entdeckungen von Major Picquart kamen zusammen. Lazare hatte die Legende vom Geständnis zerstört, und auf ihn ging die Entdeckung zurück, daß die Handschrift der Liste mit der von Esterhazy identisch war. Picquart verdankte man die eindeutigen Informationen über den Inhalt der Anklageschrift und des geheimen Dossiers und insbesondere die Enthüllung jenes Dokuments, das den entscheidenden Beweis gegen Esterhazy bildete, des Rohrpostbriefs des deutschen Militärattaches Schwarzkoppen. Als Chef des Zweiten Büros im Generalstab hatte Picquart diesen Brief in den Händen gehabt ; er hatte seinen Vorgesetzten ihren entsetzlichen Mißgriff vorgeworfen; man hatte ihm mit Entehrung und Verbannung geantwortet. Doch vor dem Aufbruch in jene gottverlassene Garnison in Tunesien, von der lebend zurückzukehren er kaum mehr hoffte, hatte er einem Freund aus Kindertagen, dem Rechtsanwalt Leblois, seine vertraulichen (nahezu posthumen) Aufzeichnungen überlassen. Leblois hatte sich seinerseits Senator Scheurer- Kestner anvertraut ; der hatte Mathieu Dreyfus informiert. Dann hatte Lucien Herr das, was er direkt von Bernard Lazare bekam, und das, was er über Levy-Bruhl aus der Quelle Picquart /Mathieu Dreyfus erhielt, zusammengebracht. Die Beweise hatten sich aneinandergefügt und bildeten in seinem Geist ein vollständiges System. Die Gewißheit war in seinen Augen so evident, daß er nicht begriff, wie jemand sie nicht teilen konnte - und ich teilte sie ja tatsächlich. Jaures hatte ebensowenig Zweifel wie er. Er hatte bereits jene Männer, die seinen engeren Freundeskreis bildeten, überzeugt oder sich vorgenommen, sie nach seiner Rückkehr nach Paris zu überzeugen - Charles Seignobos, Charles Andler, Paul Dupuy, Victor Berard, Arthur Fontaine, Dr. J. -P. Langlois ... Und bald würde man beginnen, man würde mit der Kampagne an die Öffentlichkeit gehen, in die Presse, ins Parlament nötigenfalls. Es gab niemanden im Senat, der größere Achtung genoß als Scheurer -Kestner. Jaures, der nach vier Jahren nun als sozialistischer Abgeordneter von Carmaux in die Kammer zurückkehrte, herrschte dort durch seine souveräne Beredsamkeit. Das Dossier, das man beisammenhatte, genügte für jede Beweisführung. Im übrigen hatte man weder die Zeit noch das Recht, zuzuwarten. Denn schließlich ging es nicht nur um den Fall Dreyfus oder die Affäre Dreyfus. Der Justizirrtum hatte einen Körper. Dort drüben, Tausende von Kilometern entfernt, erlag ein gefolterter Unschuldiger langsam einer fast unerhörten Ansammlung von Qualen. Man mußte gleichzeitig diesen Unglücklichen befreien und die Wahrheit rächen. Die Wahrheit hätte notfalls warten können, der Mensch nicht. So hatte man den Entschluß gefaßt. Nach Ende der Ferien würde man den guten Namen des Unschuldigen vor der ganzen Nation wiederherstellen, und man würde ihr den des Schuldigen liefern.


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Vergegenwärtigt man sich über die historische Distanz hinweg die zwei Jahre, die zwischen den ersten Artikeln im Figaro und der Begnadigung Dreyfus vergingen, diese zwei Jahre des Aufruhrs, der Leidenschaft, wahrhaftig: des Bürgerkriegs, dann gibt es eines, was sich schwer vorstellen läßt : Das ist der innere Zustand der kleinen Gruppe von Leuten, die nach Eröffnung der Kampagne untereinander berieten, die Veröffentlichungen studierten, die Beweise zusammenfügten. Diese Dreyfusards der ersten Stunde waren durch die "Affäre Dreyfus" vollkommen bestürzt. Sie hatten alles vorausgesehen außer dem, was nun eintreten sollte. Sie hatten mit allem gerechnet, außer mit Widerstand und Kampf.
     Sie verdienen gewisse Entschuldigungen, und ich möchte gerne hier für sie aussagen. Möge der Leser sich anstrengen und versuchen, "sich an ihre Stelle zu versetzen". Wir befinden uns im Herbst 1897. Man hat die Ergebnisse von Bernard Lazares Nachforschungen und die von Major Picquart vor seiner Abreise in den Süden Tunesiens gegebenen Aufschlüsse gesammelt. Das Dossier des Unschuldsnachweises macht es bereits möglich, alle Argumente der Anklage zu vernichten. Dreyfus war als Autor eines Schriftstücks verurteilt worden, das man als "die Liste" kannte. Nun erlauben es der Vergleich von Gutachten und Gegengutachten der Sachverständigen, diese Zuschreibung zu verwerfen, die bereits die Richter des Jahres 1894 für ungewiß hielten. In den Polizeiberichten, die dem Militärgericht vorgelegt worden waren, hatte man versucht, den Verrat irgendwie plausibel zu machen dort waren diverse Erklärungen vorgebracht worden, wie man sie gewöhnlich in derartigen Fällen findet : Glücksspiel, Frauengeschichten, Geldnot. Nun sind alle diese in den Polizeiberichten behaupteten oder angedeuteten Umstände durch weitere Nachforschungen zu nichts zerronnen. Offizielle Verlautbarungen hatten versichert, Dreyfus habe bei der Rückkehr von der Degradierungszeremonie sein Verbrechen eingestanden. Nun belegen unabweisbare Zeugnisse, daß er nicht aufgehört hatte, seine Unschuld zu beteuern - zweifellos auf unauffällige Weise, denn die erhobene Stimme und die ausholende Geste waren seinem Wesen fremd, aber mit düsterer, hartnäckiger Verzweiflung. Also ist es unmöglich, zu beweisen, daß Dreyfus der Autor der Liste ist. Es ist unmöglich, für sein angebliches Verbrechen nachvollziehbare Gründe zu finden. Es ist unmöglich, die fehlenden Indizien durch den schlagenden Beweis eines Geständnisses zu ersetzen.
     Das alles wußten wir, und da für die Justiz eines zivilisierten Landes die Last der Beweisführung immer bei der Anklage liegt, hatten wir das Gefühl, daß von dem Urteilsspruch gegen Dreyfus nichts mehr übriggeblieben war, daß er sich unter unseren Augen aufgelöst, zersetzt, verflüchtigt hatte. Sind die Schuldbeweise verschwunden, bleibt nichts als ein Unschuldiger übrig. Aber es kam noch besser. Wenn auch der vollständige befriedigende Nachweis hierfür erst später erbracht werden konnte, so gab es bereits sehr wichtige Hinweise darauf, daß das Urteil juristisch gesehen nichtig war, daß es den Makel schwerstwiegender Ungesetzlichkeiten trug. Es handelte sich dabei nicht um eine jener rein formalen Irrtümlichkeiten oder Unterlassungen, auf die sich ein Advokat vor dem Schwurgericht wirft. Nein: Die Rechte der Verteidigung waren in unerhörter Weise verletzt worden. Um zögernden Richtern einen Schuldspruch abzuringen, Richtern, die eben wegen des Fehlens jeder Beweise zögerten, hatte man sich in ihre Beratungen eingemischt und ihnen ein "Geheimdossier" gezeigt, "geheime Aktenstücke", so geheim, daß sie nicht einmal in einem Verfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnten. Diese Aktenstücke hatten das Militärgericht überzeugt, doch weder Dreyfus noch sein Verteidiger Demange hatten sie zu Gesicht bekommen oder etwas zu ihnen sagen können. Wir waren noch nicht in der Lage, diese Ungesetzlichkeit klar zu beweisen, welche dann das zentrale Thema von Clemenceaus Angriffen in der Aurore sein sollte und Männer wie Trarieux auf den Kampfplatz riefen. Aber wir kannten den Punkt, von dem die Fährten ausgingen; wir wußten, welche Zeugen man heranziehen konnte; wir waren überzeugt, daß die Richter des Jahres 1894 die ersten sein würden, die Tatsächlichkeit eines Umstandes zu bestätigen, dessen Gewicht sie damals nicht ermessen konnten. So kannten wir die Nichtigkeit der Anklage; wir wußten um die Ungesetzlichkeit des Verfahrens - aber es kam immer noch besser: Wir kannten den wahren Schuldigen, wir konnten ihn benennen.
     Welch unverhoffte Chance! Wann hat man je bei dem Versuch, einen Justizirrtum aufzudecken, derartiges Glück gehabt ? Nichts ist seltener, nichts mühseliger, als den positiven Beweis der Unschuld vorzulegen, und deshalb genügt es auch vor den Schranken jedes zivilisierten Gerichtes, den negativen Beweis zu führen. Ich bin unschuldig, wenn ich vor dem Richter die Behauptungen entkräftet habe, auf die sich die Anklage stützt. Über die Tatsachen selbst oder ihre Relevanz kann es eine erneute Auseinandersetzung geben. Doch diese wird glatt abgeschnitten, wenn ich den unüberbietbaren positiven Beweis antrete: wenn ich den wahren Schuldigen bezeichne und er nichts vorzubringen weiß. Wenn es von dieser oder jener Person erwiesen ist, daß sie an dem schuld ist, was mir unterstellt wurde, dann kann ich selbst nicht länger schuldig sein; Dreyfus konnte die Liste nicht geschrieben haben, wenn ihr Verfasser Esterhazy hieß. Dank Monsieur de Castro, vor allem dank Major Picquart, befand sich dieser positive Beweis in unseren Händen. Wir waren in der Lage, ihn jederzeit vorzulegen, und mit welcher Evidenz, welcher Durchschlagskraft! Wenn man das Faksimilie der Liste und die Photographie eines Briefes von Esterhazy nebeneinanderlegte, waren alle graphologischen Gutachten pro und contra hinfällig geworden. Die Übereinstimmung sprang sofort ins Auge, denn Esterhazy hatte sich bei der Niederschrift der Liste nicht die geringste Mühe gegeben, seine normale Handschrift zu verstellen & Die Biographie des "Ulanen" war damals noch nicht in allen ihren Teilen bekannt ; insbesondere erfuhr man von dem berüchtigten Briefwechsel mit seiner Cousine de Boulancy erst lange Monate nach dem Zeitpunkt, um den es mir hier geht. Doch bereits die ersten Informationen hatten das erkennen lassen, was im Fall der Anklage gegen Dreyfus so vollkommen gefehlt hatte "begreifliche Gründe" für einen Verrat. Esterhazy stand bereits jetzt als kosmopolitischer Abenteurer da, als ein Söldner ohne Skrupel, verstrickt in Schulden und Laster. Und endlich ließ sich mit jenem Rohrpostbrief seine Schuld definitiv und unbestreitbar fixieren: Dieser Brief zeigte, daß sich der Militärattache Schwarzkoppen drei Jahre vor Dreyfus Deportation auf die Teufelsinsel an Esterhazy wandte, weil dieser einer seiner festen Nachrichtenlieferanten war. Esterhazy war nicht nur der zufällige Verfasser der Liste, er war ein Spion, ein berufsmäßiger Verräter.
     Angesichts einer solchen Ansammlung von Dokumenten und Fakten blieb kein Rest des Zweifels in uns. Unsere Gewißheit war rein, vollkommen, ernsthaft, und wir waren überzeugt, daß sich die ganze Welt ihr spontan anschließen würde, wenn sie einmal all das erfahren hatte, was wir selber wußten. Diese Illusion mag heute im nachhinein höchst sonderbar wirken, bedenkt man, was dann geschah aber ich glaube, man wird sie ganz natürlich finden, wenn man versucht, sich in unsere Lage zu versetzen. Man hat die Dreyfusanhänger bezichtigt, sie hätten ein perfides Komplott gesponnen, um Frankreich zu spalten und entzweizureißen. Ganz im Gegenteil - sie ahnten nicht (und ich glaube, sie konnten es nicht ahnen), daß es zu einer Affäre Dreyfus kommen würde. Ihnen lag alles klar, hell, überzeugend zutage, und es war für sie keine Frage, daß sich die allgemeine Vernunft von diesem Beweismaterial überzeugen ließe. Im Augenblick, in diesen letzten Ferientagen, war die öffentliche Meinung ruhig, gleichgültig, sie wußte von nichts, sie ahnte nichts. Aber war die Wahrheit einmal heraus - welchen Aufschrei generöser Empörung würde man dann in ganz Frankreich hören! Die Nation hatte mit einstimmigem Abscheu auf das Verbrechen reagiert ; sie würde ihre Einstimmigkeit wiederfinden, um den Irrtum zu verkünden und wiedergutzumachen! Vor drei Jahren hatte man sich überlegt, welche Strafen ausreichend sein mochten, um den Verräter zu züchtigen - nun würde man überlegen, welche Ehrungen, welche Entschädigungen hinreichend wären, das Opfer zu rehabilitieren! Jene, die unglücklicherweise ganz direkt in den fatalen Kasus verstrickt waren, die Richter von Dreyfus, seine Kameraden, seine Vorgesetzten - sie würden die ersten sein, ihren Fehler einzugestehen, ihre Reue zu bekennen! Diese Aussichten bezauberten uns. Das einzige bittere Gefühl, das Raum in uns fand, war die Ungeduld. Denn in der Tat war der Unschuldige, ehe er nach Frankreich zurückkehren würde, von Bravo-Rufen und Blumen überschüttet, getröstet vom Mitleid eines ganzen Volkes, augenblicklich immer noch dort drüben, in Eisen gelegt auf seinem glühenden Felsen. Er würde freikommen, sobald die Wahrheit öffentlich wurde, aber wann würde das sein? Welchen Moment würde man wählen? Und wir zählten mit fieberhafter Ungeduld die Tage.

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg-Verlages

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