Vorgeblättert

JO Kyung Ran: Zeit zum Toastbacken. Teil 2

05.09.2005.
Die junge Frau gegenüber sah mich erschrocken an, und die Tante nahm mir die Dusche aus der Hand. Dann wandte sie sich dem behinderten Kind zu, das auf dem Boden lag, den Kopf auf ein Handtuch gestützt, und begann, sein Gesicht und seinen Hals mit einem trockenen Tuch abzuwischen. Ich hörte, wie das Kind dabei mit verzogenem Mund irgendwelche unartikulierten Laute in Richtung der Tante von sich gab. Diese hielt ihr Ohr an den Mund des Kindes, nickte ständig mit dem Kopf und tat so, als ob sie etwas verstanden hätte. Es war ein komischer Anblick: der zarte, magere Kinderkörper, an dem überall die Knochen hervorstanden, und dicht daneben der feste Körper meiner Tante. Als die junge Mutter sah, dass ihr Kind mit meiner Tante beschäftigt war, stieg sie sofort ins Warmwasserbecken. Ich trat ein paar Schritte zur Seite und stellte die Dusche etwas schwächer. Dabei fiel mein Blick auf den Spiegel an der Wand, und ich sah das schwarze Mal, nicht grösser als eine Mungobohne, unter meinem linken Auge. War es ein Pigmentfleck? Vor einem Jahr war es mir zum ersten Mal aufgefallen, und seitdem war es immer grösser und dunkler geworden. Ich fand es ziemlich lästig, zumal es sich auch mit der Schminke nicht zum Verschwinden bringen liess. Jetzt hielt ich die Dusche über mich und liess den sanften Wasserstrahl über meinen Kopf laufen, den ich in den Nacken gelegt hatte.
     Als ich dann die Seife, das Shampoo und die anderen Utensilien in den Plastikkorb zusammenpackte, schaute ich mich um, als wäre mir eben noch etwas eingefallen. Das kleine Mädchen lag noch immer seitlich auf dem Boden und versuchte jetzt angestrengt, mit einem Strohhalm aus einem Behälter zu trinken. Sicher hatte meine Tante ihm das Getränk gekauft, nachdem sie das Kind sorgfältig abgetrocknet hatte. Inzwischen konnte ich mir ziemlich genau vorstellen, was die Tante in solchen Situationen tat, auch ohne mich danach umzudrehen. Vielleicht bedeutete das ja, dass ich mich allmählich an sie gewöhnt hatte. Ich konnte beobachten, wie das orangefarbige Getränk bei jeder Schluckbewegung ihrer Gurgel in dem dicken Strohhalm in seinen Mund hinauffloss. Als unsere Blicke sich trafen, verzog es sofort sein Gesicht. Ich trat an das Mädchen heran und sah mir sein Gesicht aus der Nähe an. Es war blass und rein. Das Kind mochte etwa sieben oder acht Jahre alt sein. Es wurde mir bald klar, dass es eigentlich der Versuch war, mich anzulächeln, der sein Gesicht so unansehnlich verzerrt hatte. Vermutlich weil ihm das Saugen auf die Dauer schwer fiel, legte es sich immer wieder auf den Rücken und blickte schnaufend an die Decke, und sobald es wieder gleichmässig atmen konnte, saugte es weiter an seinem Getränk.
     Meine Tante hatte sich inzwischen zu seiner Mutter in das Warmwasserbecken gesetzt, und beide unterhielten sich leise miteinander. Nebenan im Becken mit dem kalten Wasser wuschen sich die beiden dicken Frauen laut prustend das Gesicht und den Rücken.
     Ich versuchte nun, den Pappbehälter mit dem Getränk, der dicht neben dem linken Ohr des Kindes stand, mit dem Fuss ein wenig zu mir zu ziehen. Das Mädchen, das mich noch immer aus seinem verzerrten Gesicht anstarrte, bewegte sich dabei mit seinem ganzen Körper in Richtung auf das sich entfernende Getränk. Vielleicht glaubte es ja, dass ich mit ihm spielen wollte. Als es den Strohhalm mit den Lippen erreicht hatte, schob ich den Behälter gleich wieder mit dem Fuss von seinem Ohr weg, und das Kind fing an, mit seinen Armen und Beinen, die besonders lang und dünn waren, zu zappeln und versuchte, mit aller Kraft in die Richtung zu gelangen, wohin ich das Getränk geschoben hatte. Es bewegte sich dabei so angestrengt, dass blaugrüne Äderchen auf seiner blassen Stirn hervortraten. In dem Augenblick, in dem sich seine Lippen und das Ende des Strohhalms endlich berührten, stiess ich den Behälter so weit weg, dass er für das Kind dieses Mal vollends unerreichbar war. Das Gesicht sah augenblicklich aus wie versteinert. Ich starrte es an und bemühte mich, seinem Blick standzuhalten. In den Augen war etwas wie Angst erkennbar. Nach einiger Zeit drehte ich mich langsam um und hob den Behälter, der bereits ausgelaufen war, auf, um ihn dem Mädchen wieder neben das linke Ohr zu halten. Dabei versuchte ich ein bitteres Lächeln aufzusetzen, so als ob mir das Ganze leid täte.
     Nachdem ich die Badesachen verstaut hatte, duschte ich zum Schluss die Füsse ab, und als ich dann mit gespreizten Beinen dastand wie eine jener Frauenfiguren aus dem alten Ägypten, floss unwillkürlich das warme, gelbe Wasser aus mir heraus. ... Ich liess meine Tante, wo sie war, doch bevor ich durch die Glastür den Umkleideraum betrat, blickte ich mich noch einmal um. Das kleine Mädchen starrte noch immer mit seinen grossen Augen in meine Richtung. Sein Blick war so geheimnisvoll und fremdartig, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief.

2. Kapitel: Brioche

Die Strasse, auf die man aus dem Fenster im ersten Stock des Restaurants Baum und Ziegel hinuntersah, war so vollkommen still, als ob jemand für einen Moment die Zeit angehalten hätte. Der Frühlingsregen, der schon am Morgen eingesetzt hatte, wollte noch immer nicht aufhören. An der Ampel warteten Busse, in denen es nur Sitzplätze gibt, und andere, in denen man auch stehen kann. Sie standen dort wie Spielzeugautos, deren Batterien leer waren, und das Bild, das sich bot, schien so erstarrt wie ein angehaltener Film, so als wären die Autos auch mit einer Hochleistungsfernbedienung nicht in Bewegung zu setzen. Gelegentlich sah man auf der Strassenseite gegenüber Leute mit verschiedenfarbigen Regenschirmen durch die Drehtür des Gebäudes einer Handelsbank aus und eingehen. Auf diese Weise machte die Strasse schon am frühen Nachmittag den Eindruck, als wäre es bereits sieben Uhr abends. Die nassen Blätter der Strassenbäume reflektierten spiegelverkehrt das grüne Neonlicht von Baum und Ziegel. "Baum und Ziegel hängen an den Bäumen", sagte ich leise vor mich hin.
     Ausser mir waren keine Gäste zu sehen. Es war noch zu früh. Bei einer Bedienung, die über ihrer weissen Bluse eine grüne Schürze trug, bestellte ich ein Glas von dem Joghurt-Frucht-Mixgetränk. Dann schloss ich die Augen, als wäre ich übermüdet wie jemand, der gerade von ganz weit her, vielleicht aus Gangjin oder Haenam, angekommen ist. Die Bedienungen, die eben dabei waren, die Tische zu decken, gingen mit leisen Schritten hin und her, was sich anhörte wie halblaute Musik im Hintergrund.
     Joghurt? Eigentlich trinke ich ohne besonderen Anlass meistens Kaffee. Was war heute los mit mir, dass ich dieses erdbeerfarbene Getränk bestellte? Aber vielleicht war es ja wirklich ein besonderer Tag. Han Youngwon, ich musste noch immer an deinen Namen denken. In dem Augenblick, als ich heute morgen nach dem Aufstehen das Fenster öffnete, merkte ich mit einem Mal, dass ich dich wahnsinnig vermisste. Deshalb beeilte ich mich, fertig zu werden, und nahm den Bus Nummer 150. Wie früher ging ich mit leicht klopfendem Herzen durch die Unterführung am Gwanghwa-Tor hindurch auf die andere Strassenseite hinüber. Ich ging im Erdgeschoss an der Crown Bakery vorbei, stieg die zwanzig Stufen hinauf und ging langsam auf diesen Tisch hier zu, an dem wir uns früher gegenübergesessen hatten. Es schien mir, als hätte sich seit dem Herbst vor zwei Jahren nichts verändert, so als ob man darauf gewartet hätte, dass wir wiederkommen würden. Doch nein, in dem gemauerten Ofen brannte diesmal kein Feuer. Aber jetzt war es ja schon mitten im Frühling. Schliesslich bist du damals doch nicht gekommen.
     Sie und ich, wir hatten uns bis dahin genau dreimal getroffen. Nach dem dritten Treffen hatte sie mich nicht mehr besucht. Ich hatte weder damals gewusst noch wusste ich jetzt, wo sie sich aufhielt und was sie machte. Als sie mich zum ersten Mal anrief, war ich erstaunt, wie vertraut ihre Stimme klang. Aber dass sie es war, die mich zuerst angerufen hatte, fand ich nicht besonders aufregend, so als hätte ich es bereits erwartet. Vielleicht dachte ich, es sei ganz natürlich, wenn wir uns träfen. Das Telefon klingelte genau um sieben Uhr morgens, als sie zum ersten Mal anrief.
     Das war damals eine Zeit, in der ich Mühe hatte, wenigstens um fünf oder sechs Uhr früh noch einzuschlafen. Diese Schlaflosigkeit im Alter von achtundzwanzig war wirklich eine ernste Sache. Jeden Tag in aller Frühe trank ich heisse Milch, oder ich versuchte es mit Schäfchenzählen, bis tausend, und so weiter. Obwohl ich alles Mögliche versuchte, was ich an solchen praktischen Mittelchen gegen Schlaflosigkeit kannte, war keine Besserung abzusehen. Wenn ich nachts öfter hinuntermusste, um zur Toilette zu gehen oder etwas Wasser zu trinken, sah ich manchmal meine Tante oder meinen Vater geistesabwesend im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen. Als ich zum ersten Mal eine dieser schwarzen Gestalten wie ein Tier in der Dunkelheit hocken sah, erschrak ich nicht wenig. Aber so wie ich nicht einschlafen konnte, wurde auch dieser Anblick langsam zur Gewohnheit. Einmal hatte meine Tante ein weisses Nachthemd an, ein anderes Mal traf ich meinen Vater, der in einer gelben Weste offenbar gerade zu einer Wanderung aufbrach. Ich hatte den Eindruck, als sollte ich jeden Morgen Zeuge einer Art von Pantomime sein. Wie träge Pythonschlangen sich lautlos umeinander herumbewegen, so liefen wir alle drei frühmorgens im Wohnzimmer und in der Küche schlaftrunken aneinander vorbei.
     Es war Anfang Januar, als es noch Hoffnung gab, dass es mit dem Zustand meiner kranken Mutter wieder aufwärts gehen würde. Jedenfalls hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich früh am Morgen den Hörer abnahm.

Teil 3