Vorgeblättert

Dubravka Ugresic: Das Ministerium der Schmerzen. Teil 3

25.08.2005.
3.

Fotogen ist das nicht,
und es kostet Jahre.
Längst zogen die Kameras
in den nächsten Krieg.


     Wislawa Szymborska

Sobald ich den Unterrichtsraum zum ersten Mal betrat, erkannte ich die Unsrigen. Die Unsrigen liefen mit einer unsichtbaren Ohrfeige im Gesicht herum. Sie hatten den schrägen Blick eines ängstlichen Hasen, eine besondere Anspannung, etwas von einem Tier, das lauert, aus welcher Richtung Gefahr drohen könne. Die Unsrigen verrieten sich durch eine nervöse Wehmut im Gesicht, durch einen verdüsterten Blick, einen Schatten der Abwesenheit, eine kaum sichtbare innere Geducktheit. Die Unsrigen gehen durch die Stadt wie durch einen Dschungel, voller Angst, sagte Selim. Auch wir waren - Unsrige.

Wir hatten das Land verlassen wie Ratten ein sinkendes Schiff. Wir waren überall. Viele versteckten sich noch eine Zeit lang im Land, überzeugt, der Krieg würde rasch vergehen wie ein Unwetter. Sie blieben bei Verwandten, Freunden, Freunden von Freunden, guten, hilfsbereiten Menschen. Sie lebten in improvisierten Flüchtlingslagern, in leeren Touristencamps, in Hotels, die vorübergehend Unterkunft boten, meistens an der Adriaküste, aber nur im Winter, wenn keine Touristen kamen, danach würden sie nach Hause zurückkehren, dieser Krieg würde nicht lange dauern, kein Krieg dauere lange, er höre auf, wenn dieMenschen erschöpft seien ... Einige steckten ein, zwei, drei Jahre fest, Touristen kamen ohnehin nicht. Einige zogen weiter. Und jeder hatte seine Geschichte.

Eine Belgraderin, die sah, wohin all das führt, und über den Hass ihrer Mitbürger entsetzt war, verkaufte ihr Haus in der Hauptstadt und zog kurz vor dem Krieg in das "friedliche" Kroatien. Sie kaufte eine Wohnung im istrischen Rovinj. Als dann auch die Kroaten ihre Zähne fletschten, verkaufte sie Hals über Kopf die Wohnung in Rovinj und siedelte nach Sarajevo über. Die ersten serbischen Granaten - so als folgten sie ihren Handlinien und verwirklichten das Schicksal, das ihr von Geburt an beschieden war - zerstörten ihre Wohnung. Ein Glück, dass sie gerade nicht zu Hause war. Jetzt geht es ihr gut, sie hat mir aus Caracas geschrieben. Wie ist sie ausgerechnet auf Caracas gekommen!, sagte die Bekannte, die mir diese Geschichte erzählte.

Die kroatischen Flüchtlinge aus Slawonien machten sich auf nach Zagreb, nach Istrien, zum Meer. Die Flüchtlinge aus Bosnien nach Süden, nach Kroatien, oder nach Osten, nach Serbien. Die kroatischen Serben wanderten leise aus Kroatien ab, bis sie später in Massen vertrieben wurden. Die Ungarn aus der Vojvodina wanderten still nach Ungarn aus. Später sollten ihnen Serben folgen. Die Albaner aus dem Kosovo ebenfalls ... Das wird nicht so bald enden.

Wir flohen von überall und kamen überall an. Die Preislisten des Lebens richteten sich nach den Umständen. Einige kümmerten sich nur um die "Ihrigen", einige um die "Ihrigen" und die "Fremden", einige fragten nicht, wer wer war. Bosnische Muslime brachen in die Türkei auf, in den Iran, den Irak, man fragte nicht viel, einige gelangten bis nach Pakistan. Viele von ihnen bereuten das. Bosnische Juden brachen nach Israel auf. Auch unter ihnen gab es solche, die bereuten. Sie änderten ihre Namen, kauften falsche Pässe, wenn sie konnten. Was ihnen noch bis eben wichtig war - Glaube und Nationalität -, wurde zur wertlosen Valuta. Wichtiger war es zu überleben. Als sie überlebt hatten, am sicheren Ufer angekommen waren, aufgeatmet hatten, hängten viele ihre Fahnen, Ikonen, Wappen und Heiligen wieder auf.

Wir waren überall. Viele flohen rechtzeitig an bessere Orte, nach Amerika, nach Kanada, andere kamen zu spät und trieben ziellos umher: sie gingen, wenn sie konnten, irgendwohin mit ihrem ein, zwei Monate gültigen Touristenvisum, kamen zurück und versuchten wieder fortzugehen. Für viele waren im allgemeinen Chaos Gerüchte der einzige Kompass. Darüber, wohin man ohne Papiere gehen konnte oder nicht konnte, wo es besser, wo es schlechter war, wo man willkommen war und wo nicht. Die Preise für die Pässe der neuen Länder, die slowenischen und die kroatischen, stiegen. Mit dem kroatischen konnte man eine Zeit lang nach Großbritannien, bis die Briten die Einreise verboten. Einige Naive glaubten dem Gerede, in Südafrika würde man als Weißer mit offenen Armen empfangen, und reisten dorthin. Die Serben verteilten sich über Griechenland als Touristen und Prostituierte, als Kriegsgewinnler, Geldwäscher und Diebe. Einige besorgten sich drei Pässe, den kroatischen, den bosnischen und den "jugoslawischen", in der Hoffnung, wenigstens mit einem Glück zu haben. Einige warteten, dass der Krieg vorüberzöge wie ein Gewitter. Wer Kinder hatte, sah nur zu, die Kinder in Sicherheit zu bringen.

Europa wimmelte von ehemaligen Jugos. Die Kriegsemigranten, die den legalen Flüchtlingsstatus bekamen, zählten nach Hunderttausenden. Schweden nahm siebzigtausend auf, Deutschland dreihunderttausend. Die Niederlande fünfzigtausend. Die Zahl der Illegalen ist unbekannt. Wir waren überall. Und niemandes Geschichte war persönlich und erschütternd genug. Denn der Tod erschütterte niemanden mehr. Es gab zu viel davon.

Ich habe gelernt, meine Landsleute im Ausland zu erkennen. Die älteren Männer waren am auffälligsten. Bahnhöfe und Flohmärkte waren ihre Versammlungsorte. In kurzen Lederjacken, die Hände tief in den Taschen, tauchten sie stets in Rudeln auf, zu dritt oder viert, wie Delphine. So standen sie, tänzelten ein wenig, bliesen Tabakrauch in die Luft, verjagten ihre Angst und gingen auseinander.
     In dem Berliner Bezirk, wo Goran und ich wohnten, blieb ich manchmal vor einem "Flüchtlingsklub" stehen. Durch die Glastür sah ich die Unsrigen, die dasaßen, schweigend Karten spielten, auf den Fernseher glotzten und ab und zu einen Schluck aus der Bierflasche nahmen. An der Wand hing eine mit Ansichtskarten geschmückte Landkarte, von Hand gezeichnet und mit total veränderten Proportionen. Ihr Ort, Brcko oder Bijeljina, stellte dort das Zentrum der Welt dar, ihre verbliebene Heimat. Im Zigarettenrauch sahen alle wie Ehemalige aus, wie Tote, die aus ihren Gräbern auferstanden waren, um eine Flasche Bier zu trinken, um eine Partie Karten zu spielen, aber an einen falschen Ort geraten waren.

Auf der Straße schnappte ich oft ihre Gespräche auf. Ständig redeten sie über Zahlen. Fünfhundert Mark, dreihundert Mark, tausend Mark ... Hier in Amsterdam zählten sie Gulden ... Dabei dehnten sie zärtlich die Vokale. Sie schienen kein anderes Theman zu kennen, sondern zählten ewig vorhandenes oder erträumtes Geld.
     Die Bewohner der Länder, in die sie geraten waren, nannten sie Schwaben statt Deutsche, Dacer statt Holländer. Sie machten sich wichtig. Sie gebrauchten Phrasen wie Ist doch meine Rede oder Das sag ich ja und betonten damit ihre Rolle in der ganzen Angelegenheit, obwohl das, was sie sagten, ebenso bedeutungslos war wie ihre Rolle. Sie beharrten auf ihren Themen. Von Oostdorp bis Leidseplein schaff ich s in elf Minuten ... Wie soll das gehen, man braucht doch mindestens fünfzehn Minuten. Hast du das gestoppt? Ja, Mensch, von dem Moment an, wo man in die Straßenbahn steigt ... Sie verausgabten sich in den Gesprächen, als könnte jedes Wort ihre Begegnung mit der eigenen Angst und Erniedrigung aufschieben.
     Die Art, wie sie sich bewegten, und die Orte, wo sie sich trafen, verrieten, dass ihnen ihr Raum fehlte; ihre Bank am Ufer oder vor dem Haus, von der aus sie die Vorübergehenden beobachten konnten; ihr Hafen, wo sie sehen konnten, welche Schiffe ankamen und wer ausstieg; ihr Marktplatz, wo sie beim Spazieren Bekannte trafen; ihr Wirtshaus, in dem sie ihr Getränk bekamen. In den europäischen Städten suchten sie die Raumkoordinaten, die sie zurückgelassen hatten, ihr räumliches Maß.

Sie suchten auch ihr menschliches Maß. Goran hatte oft Anfälle von Jugonostalgie; dann las er den erstbesten "Landsmann" von der Straße auf und lud ihn auf einen Drink zu uns nach Hause ein. So hörte ich viele Geschichten über die deutschen Heime und den Flüchtlingsalltag. Die Unsrigen hefteten sich wie Magneten an Russen, Ukrainer, Polen, Bulgaren, die sie als "ihresgleichen" empfanden. Von einem Bosnier hörten wir die Story von den Polinnen, die auf eintägigen Bustouren nach Berlin kamen, um den Unsrigen polnischen Käse und Wurst billig zu verkaufen, manchmal auch mit ihnen zu schlafen, und für das eingenommene Geld etwas in Berlin einzukaufen, bevor sie heimkehrten. Sie witterten sich auf der Straße, erkannten einander am gemeinsamen Unglück und tauschten ohne Scham kleine Gefälligkeiten aus. Der Bosnier erzählte uns, er gebe seine ganze Sozialhilfe in einem Berliner Puff aus. Er gehe wegen einer Mascha hin, die ihm das Fell über die Ohren ziehe und ihm dafür nichts biete. Aber das störe ihn nicht, sie ist Russin, eine von uns, einer Deutschen würde ich keine Mark geben, die haben keine slawische Seele, sagte er.

Die Männer beklagten sich pausenlos. Über das Wetter, das Schicksal, den Krieg, das ihnen angetane Unrecht. Sie beklagten sich über die Zustände in den Lagern, wenn sie dort untergebracht waren, sie beklagten sich, wenn sie nicht dort untergekommen waren; sie beklagten sich über die Sozialhilfe, die sie empfingen, und über die erniedrigende Situation, dass sie sie empfangen mussten; sie beklagten sich, wenn sie keine bekamen; sie beklagten sich über alles. So als wäre das Leben eine Strafe, alles drückte sie, alles juckte sie, alles war ihnen zu eng, nichts war ihnen genug, alles waren sie leid.
     Im Unterschied zu den Männern waren die Frauen unsichtbar. Sie hielten sich im Hintergrund, stopften Löcher, damit das Leben nicht fortrann. Für sie war das Leben eine tägliche Aufgabe. Die Männer schienen keine Aufgaben zu haben, sie betrachteten das Flüchtlingsdasein als schwere Invalidität.

Hier in Amsterdam ging ich manchmal ins Bella, ein bosnisches Cafe, wo finstere und schweigsame Typen saßen, Karten spielten oder in den Fernseher glotzten. Wenn ich eintrat, folgten mir träge Blicke, die nichts ausdrückten, nicht einmal Erstaunen darüber, dass eine Frau diesen den Männern vorbehaltenen Raum betrat. Ich nahm an der Theke Platz, bestellte "unseren" Kaffee und blieb dort eine Weile sitzen, wie zur Buße. Instinktiv duckte ich mich wie sie, fühlte eine unsichtbare Ohrfeige im Gesicht wie sie. Warum ich das tat, weiß ich nicht. Vielleicht hatte ich insgeheim den Wunsch, hin und wieder meine "Herde" zu schnuppern, obwohl ich nicht sicher war, dass ich zu ihr gehörte oder je gehört hatte.

Auch meine Studenten waren mal bereit, Unsrige zu sein, obwohl niemand wusste, was das bedeutete, mal wieder nicht, als handele es sich um eine reale, keine imaginäre Gefahr. Wir wollten weder zu den Unsrigen da unten noch zu den Unsrigen hier gehören. Mal nahmen wir diese undeutliche kollektive Identität an, mal verwarfen wir sie angewidert. Den Satz Das ist nicht mein Krieg hörte ich hunderte Male. Und wirklich, es war nicht unser Krieg. Dennoch war er auch unser Krieg. Denn sonst wären wir jetzt nicht hier.

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages

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