Tagtigall

Wir Attraktionen

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
14.04.2021. Juliane Liebert dichtet Liebe und Tod ihr eigenes Ständchen. In der Sprachgestalt dominiert die Zeit, im Rhythmus, im Sound, in der Wiederholung, im Kontrapunkt.
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Lyrik, so sagt man oft, sei etwas für the happy few. Hans Magnus Enzensberger behauptete sogar, die Anzahl dieser few läge konstant bei ±1354. Das war ganz sicher vor Amanda Gorman. Aber wie vielen Gedichtbänden wünscht man nicht viel mehr LeserInnen. Zum Beispiel Juliane Lieberts Gedichtband "lieder an das große nichts". Dort finden sich ernste Albernheiten wie

und wenn! wir für mücken so etwas sind
wie gewaltige, wandelnde, prall gefüllte
fast immer ärgerliche kuchen, wer sollte

es uns verüblen".

Ja, Sie haben richtig gelesen, da steht nicht "ihnen", sondern "uns". Wir sind es, die den imaginierten Mücken, den angeblichen Schmarotzertierchen, das Leben vermiesen. Wir Attraktionen. Sei's drum. Wir nehmen es uns nicht übel.

Doch Spaß beiseite: Gleich das erste Gedicht gibt das Thema vor: der Tod, an den wir klammheimlich ja viel öfter denken, als wir es uns gewöhnlich eingestehen. "gogol" lautet der Titel und handelt vordergründig von dem großen Rätsel, dass der russische Dichter, als er exhumiert wurde, falsch herum im Sarge lag und seither die Schreckensfrage im Raum steht, ob er vielleicht lebendig begraben wurde.

... sie haben dich
lebendig begraben tot
gruben sie dich wieder aus
den kopf ganz verdreht von
deinem Sargstakkato deinem letzten step
du hattest visionen wir haben verstanden

Man hört vieles mit, nicht zuletzt das eigene auf-der-Stelle-Treten und die Suche nach Visionen in der Literatur. Und weiter geht's im Buch. Liebert lässt den Gedanken an die permanente Gegenwart des Todes, das Wissen um das Nichtsein im Dasein, gelten. Gibt ihm Geltung. Und mit ihm kommt unweigerlich dahinter die Zeit, richtiger: das Maß der Zeit in den Blick. Ein Buch der Trauer, um Tote und Lebende, um den Bruder, der sich umbrachte, um ein Du, das an Krebs stirbt, oder doch nicht, und dann mittendrin das Sterben der Mutter in einem grandiosen lyrischen Prosastück, "badamm, badamm" betitelt. Der Tod taktet die Welt, gibt nicht nur uns das Maß unserer Zeit, sondern jeder Tod gibt auch der Welt das Maß ihrer Zeit - und um die Zeit geht es überall. Carpe Diem. Sterben ist hier pacemaker, Schrittgeber, er gibt der Zeit ihr Maß und vor allem ihren Wert, und verleiht unserem Tun den Hall der Einmaligkeit. Hervor tritt die Liebe, der große Gegenspieler des Todes, samt der dazugehörigen Einsamkeit, wenn die Liebe sich nicht einstellt und die ganze Welt sich gegen einen verschwört. So heißt es in dem titelgebenden "das große nichts":

kalte nudeln, anderthalb kilo pralinen, billliger riesling, und ich /
hätte lieber kippen, ich hätte lieber kippen
als alles andere auf der welt. doch die nacht
ist noch lang und der morgen fern

das große nichts ist hier und bruder stalin ein lügner
was weiss ich, woran man noch glauben kann?

und so weiter. Nudeln, Pralinen, Riesling - jene Gegenstände, mit denen man sich an Abenden, an denen die Liebe ausgeblieben ist, in den Trost zu flüchten versucht, und eben: Kippen. Neben Kilo und Knochen klingen Kippen quasi naheliegend.

Alles Sehnen ist bei Liebert körperlich, sinnlich. Diese Fixierung an die Liebe, und dass es sie eben doch gibt, auch wenn sie gerade abwesend ist, das ist das wirkliche Drama. Doch noch eine ganz andere Dimension taucht auf, und diese verdankt sich wohl der Tatsache, dass Liebert eine begnadete Musikkritikerin (Musikliebhaberin) ist. Denn nicht nur thematisch, auch in der Sprachgestalt dominiert die Zeit, im Rhythmus, im Sound, in der Wiederholung, im Kontrapunkt und ebenso im Atem und Herzschlag beim Lesen. Das auffälligste Stilmittel ist vielleicht die liedhafte Parallelkonstruktion. Bereits 2007, noch als Schülerin, hatte Liebert am Open Mike teilgenommen und 2017 einen ersten Gedichtband "scheiss auf das weltall" herausgebracht; darin:

"nachts bin ich wach und bedenke, wie viel mühe die erschaffung meines körpers war, wie viele kühe ich schon gefressen habe, wie viele menschen ich zum weinen gebracht habe oder zum hassen oder dazu, zu versuchen, etwas anderes zu sein als sie sind. ich mag, dass die nächte mir gehören, aber in gewissem sinne gehöre ich natürlich auch am tage der nacht."

Ein Ritt, der in der rhythmischen Verlangsamung am Ende zur Ruhe findet.

Lieberts Kritiken in der Süddeutschen Zeitung sind oft wild, klug, trauen sich was und schweifen aus, heißt es in einer Laudatio, und fügt hinzu, man könne aber auch ganz andere Adjektive finden. Liebert selbst sagt: "Alle Dinge, die mit großem Ernst getan werden, bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit. Wichsen zum Beispiel, aber auch Buddhismus, Hochzeiten, Trennungen, Yoga, Brathähnchen" und Leute, die aus Fenstern springen. Wut und Mut, und der Mut, beidem Raum zu geben.

Manchmal geht die Süffigkeit mit Liebert durch, etwa wenn in dem bereits erwähnten Gogol-Gedicht, nachdem vorher vom Sarg die Rede ist, plötzlich die "bretter, die die welt bedeuten" auftauchen. Doch apropos Tod und Leidenschaft: In einer ihrer Selbstbeschreibungen gibt sie als voraussichtliches Sterbejahr "circa 2056" an, was die Dringlichkeit, bis dahin lebendig am Leben zu sein, erhöht.

komm lass mich meinen kopf in deinen legen,
ich bin der spiele so müde, selbst die messer
haben das stechen satt und das schneiden
und das steak will wachsen zum tier

Die Variation auf s und sch erzeugt in ihrer Schönheit die Illusion, dass es im Schreiben so etwas gibt wie eine Reparatur der Welt, etwas, das die tiefen Wunden, die die Zeit in uns schlägt, wettmachen könnte. Und weil alles zusammenhängt, was wir tun, auch an den entferntesten Orten, gibt es auch in den Gedichten viele untergründige Verbindungen.

die angst, sie ist ein ungeheures tier
das jahrlang im eisfach hing und tobte
das lebenslang die menschen aller art
wie zecken in ihr glück und unglück jagte

doch jetzt nicht mehr, jetzt schläft sie. terror, kitsch und not
sind müde, müde ist jeder tag.

Die "lieder an das große nichts" kann man fast singen, wie einst einen Brecht oder einen Kreisler, von dem die Autorin einmal sagte, dass mit seinem "Tauben vergiften" ihr Schreiben angefangen habe. Wir erinnern uns an Hansl und Mali und das Zyankali - Liebe und Tod lagerten auch dort leichtfüßig nahe beieinander. Man darf gespannt sein.

***

Juliane Liebert, lieder an das große nichts. Gedichte, 88 Seiten, 18 Euro, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
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