Im Kino

Autoritäre soft power

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
31.01.2024. Von einer Reise weniger zum Wir als zum Ich erzählt Christopher Dolls Aussteigerfilm "Eine Million Minuten". Allerdings ist nicht die Fixierung auf den männlichen Hauptdarsteller das Problem des Films; sondern eher, dass er sich wenig Mühe damit gibt, darzustellen, weshalb sich der Ausstieg lohnt.


Passgenau fügt sich zu Filmbeginn die Lebenskrise zusammen: Vera (Karoline Herfurth) beschwert sich beim abendlichen Frustrotwein darüber, dass Wolf (Tom Schilling) nie für sie und die beiden gemeinsamen Kinder da ist. Was soll ich machen, meint Wolf, die Arbeit. Die nächsten paar Monate werden besonders anstrengend, ein extrem wichtiges Projekt. Vera stöhnt. Sind wir Dir nicht wichtig? Meine eigene Arbeit, die ich neben der aufreibenden Hausarbeit erledige, zählt die nicht? Es ist total wichtig, sagt am nächsten Morgen auch der Arzt, den die beiden aufsuchen, dass ihr, Vera und Wolf, in den nächsten Monaten viel Zeit mit eurer Tochter Nina (Pola Friedrichs) verbringt, die unter einer Entwicklungsstörung leidet. Jede Minute zählt. Im Büro blickt Wolf auf seinen Kalender. Dicht drängen sich in den nächsten Monaten die Termine. Alle äußerst wichtig.

Wolf arbeitet als Agrarlobbyist… halt nein, natürlich nicht. Wolf arbeitet für die UN und bekämpft Agrarlobbyisten, die ihrerseits ökologisch integre Gesetzgebung zu verhindern versuchen. Vera wiederum arbeitet, vorläufig nur noch halbtags, als Umweltingenieurin und sorgt dafür, dass schicke Neubauprojekte klimagerecht umgesetzt werden. Eine Auszeit von der eigenen 9-to-5-Plackerei haben die beiden sich also redlich verdient. Von dieser Auszeit mit unbestimmtem Ausgang erzählt der Film. Nach Thailand soll es gehen und dann nach Island, entscheidet Wolf. Die Arbeit kann er sich, so glaubt er vorläufig noch, ja auf die Reise mitnehmen.

Zu den recht wenigen Erfolgsgeschichten im deutschen Kino der letzten Jahre zählt eine kleine Welle von Dokumentarfilmen über Menschen, besonders gern Paare, die gemeinsam um die Welt reisen (zum Beispiel: "Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt", 2017; "Expedition Happiness", 2017; "Reiss aus: Zwei Menschen. Zwei Jahre. Ein Traum", 2019). Umweltbewusste, modernitätskritische Jungkreative sind das zumeist, der Trip in ferne Länder bestärkt sie in ihrer Wertschätzung der Welt mitsamt all ihrer Kreaturen. "Eine Million Minuten" nun kann man beschreiben als eine Fiktionalisierung und bürgerlich-progressive Umschrift dieser Welt-als-Home-Movies. Schon die Globetrotter-Dokus selbst erzählen von einem höchstens temporären Ausstieg aus dem modernen Alltagsstress - die Kamera ist schließlich immer dabei und am Ende resultiert die Auszeit in einem kommerziell auswertbaren Produkt. In Christopher Dolls Film nun geht es beim Reisen gleich gar nicht mehr um eine Begegnung mit der Welt in ihrer abenteuerlichen Kontingenz, in ihrer Andersheit, sondern um Arbeit am Ich. Beziehungsweise um Arbeit am Wir. Aber letztlich schon vor allem, siehe unten, um Arbeit am Ich.



Man kann einem Mainstreamfilm schlecht vorwerfen, dass er die dominanten Ideologien seiner Zeit aufgreift. Das zu tun, ist sein Brot und Butter. Vielleicht entstellt er sie hier und da, aus Versehen, sogar zur Kenntlichkeit, etwa wenn Vera einen neuen Bekannten oberlehrerinnenhaft anweist, doch erst den Motor seines Wagens auszustellen, bevor sie ihm mehr über ein vielversprechendes neues Projekt erzählen wird. Mit einem Lächeln auf den Lippen ihren Zeitgenossen kleine, ermutigende Stupser verteilend und dadurch den Planeten rettend: so sehen und inszenieren sich die Wolfs und Veras dieser Welt selbst gerne. Autoritäre soft power, die das Gegenüber (okay: mich) oft mehr auf die Palme bringt als Ignoranz oder offene Aggression.

Zurück zum Plot: Thailand also, und dann Island. Schön, wie die beiden Schauplätze den Film strukturieren, wie auf die etwas irreal anmutende, sonnen-, aber auch neurosendurchflutete Sand-und-Palmen-Episode die sehr viel erdigere, ernsthaftere Fjord-und-Strickjackenepisode folgt. Was gibt es sonst noch? Einen Flughund im Dschungel, einen sexy Isländer und einen unerwarteten Schicksalsschlag. Um Nina und ihre nicht allzu genau definierte, in allgemeiner Niedlichkeit sich auflösenden Entwicklungsstörung geht es bei all dem freilich nicht wirklich, das wird schnell klar, und um Vera schon gleich überhaupt nicht. Als ewige nagging housewife hat Karoline Herfurth diesmal keine dankbare Rolle erwischt (dass sie mit ihrem nagging zumeist Recht hat, macht die Sache keineswegs besser). Eine Wohltat die wenigen Szenen, in denen sie, befreit von allen Plotbürden, mit den Kindern spielen darf. Eher awkward wird es, wenn Tom Schilling ihr am Strand ein bisschen an die Wäsche zu gehen scheint. Sind diese beiden professionellen Work-Live-Balance-Optimierer tatsächlich sexuelle Wesen? Der Film lässt es bei der einen vorsichtigen Andeutung bewenden.

"Eine Million Minuten" erzählt nicht die Geschichte einer Beziehung, und auch nicht die Geschichte einer Frau, die sich aus den Mühlen der Haushaltsroutine befreit; sondern die Geschichte eines Mannes, der lernt, über seinen Schatten zu springen, über mehrere Schatten genauer gesagt; der dieses über-den-Schatten-springen allerdings auch ziemlich zelebriert, als einen Hindernislauf zum Glück: Immer wieder gerät Wolf ins Straucheln, immer wieder trauert er der Karriere hinterher, die jetzt andere an seiner statt machen, immer wieder fällt er zurück in eine garstige passive Aggressivität, die zu verkörpern Tom Schillings zweifellos größtes schauspielerisches Talent ist; und immer wieder erweist sich das neue, dem gemeinsamen familiären Glück verpflichtete Lebensmodell doch als das attraktivere.

Damit man mich nicht falsch versteht: Toms Geschichte ist keineswegs per se uninteressant oder nicht wert, erzählt zu werden. Die Erzählperspektive rechtfertigt sich, nebenbei bemerkt, bereits dadurch, dass die Figur Wolf auf Wolf Küpers beruht, dessen gleichnamiges Buch Christopher Dolls Film adaptiert. "Eine Million Minuten" ist eine durchaus ernsthafte, im Rahmen der durch das dargestellte soziale Milieu gesetzten Grenzen reflektierte Auseinandersetzungen mit Selbstbildern, ihrer Entstehung, ihren Folgen, ihrer möglichen, wenn auch kaum je komplett gelingenden Überwindung. Vor allem gegen Ende findet Doll für all das einige beziehungsreiche Bilder, etwa wenn Wolf allein auf dem Meeresboden im Metallkäfig ausharrt, der Hai, der ihn in seinem Selbstbild als von allen Seiten belagerten, postpatriarchalen Familienvater bestätigen würde, aber gerade nicht aufkreuzt. Man hätte sich nur einerseits gewünscht, dass Doll um diesen Wolf und seine Lebenskrise herum nicht gar so viele Sicherheitsnetze aufgestellt hätte; und dass er andererseits etwas mehr filmische Energie auf die Darstellung jenes Familienlebens verwendet hätte, für das Wolf seine gesamte Existenz umkrempelt.

Lukas Foerster

Eine Million Minuten - Deutschland 2024 - Regie: Christopher Doll - Darsteller: Tom Schilling, Karoline Herfurth, Pola Friedrichs, Hassan Akkouch, Tommi Thor Gudmundsson u.a. - Laufzeit: 123 Minuten.