Im Kino

Irgendeine diffuse Katastrophe

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
15.02.2024. Der Potsdamer Platz, noch vor gar nicht langer Zeit Zentrum nicht nur der Berlinale sondern des gesamten Berliner Filmgeschehens, gleicht dank Dauerbaustellen einem Trümmerfeld - und die Retrospektive der diesjährigen Festivalausgabe ist leider auch nicht gerade ein funkelnder Prachtbau. Deren Thema - vergessene Schätze der deutschen Filmgeschichte - ist zwar durchaus interessant; allein, weder die Filmauswahl noch die diskursive Rahmung werden ihrem facettenreichen Gegenstand gerecht.
Die endlose Nacht


"Was war da denn los?"
Stefan Raab

Wer dieser Tage über den Potsdamer Platz und die daran angeschlossenen Architektur-Ungetümer und Stadtplanungs-Fiaskos zieht, den beschleicht das Gefühl, zwar noch nicht ganz in einer dystopischen Ruinenwelt angekommen zu sein, dieser aber beim Werden immerhin schon zusehen zu können. Wie bereits im letzten Berlinalejahr ist das Sony Center eine riesige Baustelle. Das einst für die Kinostadt Berlin so wichtige Cinestar-Kino (Premieren! Alle Filme im Original! Gute Technik!) samt angeschlossenem IMAX eine klaffende Wunde, entkernt, skelettiert, als wäre hier irgendeine diffuse Katastrophe geschehen. Ein verwesender Elefant. Auch die Architektur mit ihren Metallplatten auf dem Boden (bei feuchtem Wetter schon immer eine Einladung zum Beinbruch) und den Stahlstangen-und-Glas-Konstruktionen, die zur Zeit ihrer Errichtung irre modern gewirkt haben müssen (wobei?), erscheinen müde, abgeranzt, aus der Zeit gefallen. Eine Endmoräne der Stadtplanung der Neunziger, als Berlin Manhattan werden wollte. Und dann der triste Boulevard der Sterne, der mal so etwas wie ein Hollywood-Boulevard des deutschen Kinos werden sollte: Rissig, kaputt, von den Fußgängern, die nur schnell und irgendwie über diese insbesondere in Herbst und Winter kalte, ungemütliche Straße kommen wollen, nicht weiter beachtet. Die bizarren Kuck-Vorrichtungen, durch die man schauen kann, um augmented irgendwelche Schauspieler über dem Boulevard projiziert zu sehen, sind Verfall und Vandalismus preisgegeben. 

Was einmal mit dem Versprechen angetreten war, das national repräsentative Filmzentrum Deutschlands zu sein und diesen Anspruch irgendwann in den Nullerjahren auch tatsächlich erfüllte (kommerzielle und kommunale Kinos, Tagesgeschäft und internationales Festivalgeschehen, Geschichte, Aktualität und Zukunft des Kinos auf engstem Raum vereint), liegt zusehends in Trümmern. Der Lack ist ab, auch institutionell. Das Kino Arsenal im Bauche des Filmhauses bestreitet seinen letzten Jahrgang als Spielstätte des Berlinale-Forums und siedelt über ins Kulturhaus Silent Green in Berlins Norden. Die unter dem Dach des Filmhauses angesiedelte Filmhochschule dffb hat Nachfolge-Räumlichkeiten in Moabit gefunden. Auch der Mietvertrag der Kinemathek und des Filmmuseums läuft aus, allerdings noch ohne feste Nachfolge-Räumlichkeit. Zur Zwischennutzung ist man fürs Erste wenige Straßen weiter in einem ehemaligen Spannwerk untergekommen. Das bereits erwähnte Cinestar samt IMAX gibt es nicht mehr, das Cinemaxx gegenüber hat auf Sesselbetrieb umgestellt und kommt daher mangels Kapazitäten für die Berlinale nur noch als Ort für Pressevorführungen infrage. Wie es mit dem Berlinale Palast für die großen Galavorstellungen weitergeht, steht derzeit in den Sternen. 

Wäre man sanft böse (und warum sollte man es nicht sein?), könnte man das Programm der diesjährigen Berlinale-Retrospektive ebenso als Abrissveranstaltung im Krisenmodus sehen. Der Sparzwang schlägt auch hier zu, die Zeiten umfangreicher Retrospektiven auf Grundlage aufwändig herbeigeschaffter Filmkopien scheinen vorbei. Stattdessen präsentiert die veranstaltende Deutsche Kinemathek im letzten Jahrgang an alter Wirkungsstätte unter dem Schlagwort "Das andere Kino" lediglich Filme aus dem eigenen Archivbestand, die man jüngst digital restauriert hat. Weil das alleine schwerlich als "Retrospektive" durchgeht, werden die Filme als Querschläger annonciert: unangepasste Filmkonzepte, unangepasste Filmentwürfe (was nebenbei bemerkt stark an die Retrospektive 2016 über das deutsche Kino in Ost und West 1966 und an die Retrospektive 2019 "Selbstbestimmt - Perspektiven von Filmemacherinnen" erinnert). Mit 20 Filmen ist die Auswahl denn auch gefühlt schmaler denn je. Zumal die Martin Scorsese gewidmete Hommage in diesem Jahr auf ein Minimum eingedampft ist. So wenig Filmgeschichte war auf der Berlinale selten. 

Klar ist: Den Filmen tut man mit einer solchen Meta-Einschätzung unrecht. Natürlich ist es jeder einzelne wert, restauriert und gezeigt zu werden. Und dennoch spricht aus diesem Programm eine gewisse Beliebigkeit und reine Chronistenpflicht, was den Stand der Dinge der hauseigenen Digitalisierungen betrifft. Zumal es auch am Diskurs fehlt: Einmal wird mit den Retrospektivenmachern geplaudert, ein anderes Mal bekommt man einen Einblick in die Restaurierungswerkstatt. Gibt eine Retrospektive zum unangepassten deutschen Film nicht viel mehr her? Wie arbeitete der Westberliner Untergrund der Achtziger, wie er in "Jesus - der Film" im Programm präsent ist? Wie steht es um das Verhältnis von Ulrich Schamoni ("Chapeau Claque") und Will Tremper ("Die endlose Nacht") zum Neuen Deutschen Film - beide leisteten Anschubhilfe, waren aber politisch (der eine FDP, der andere konservativ bis in die Knochen) deutlich auf Distanz zum Rest dieser Bewegung. Wie ist Christoph Schlingensief ("Das deutsche Kettensägenmassaker") als letzte Mutation des Neuen Deutschen Films zu verstehen? Wieso kristallierte gerade in seinen Filmen der Splatterfilm mit der Hochkultur? Und vor allem: Wo ist das unangepasste deutsche Kino heute, wo es auf Gedeih und Verderb den Gremien von Filmhochschulen, Filmförderung und Fernsehanstalten unterworfen ist? Gibt es das noch - einen widerständigen, idiosynkratischen, von nichts als Freiheit angetriebenen Film? Oder ist der mit Klaus Lemke 2022 endgültig gestorben? Speaking of Lemke: Wie kann man eine Retrospektive über das unangepasste, deutsche Kino kuratieren - OHNE EINEN EINZIGEN FILM VON KLAUS LEMKE ZU ZEIGEN?

Supermarkt


Natürlich sind das keine neuen Fragen, wer länger darauf herumkaut, wird bessere finden. Aber es bleibt das schmerzliche Gefühl: Da hätte mehr drin sein müssen. Zumal nach dem "anderen deutschen Kino" seit Jahren gesucht wird und Enthusiasten hier Grabungsarbeit leisten, sei es der Nürnberger Hofbauer-Kongress, seien es BluRay-Labels wie Subkultur Entertainment, die auf eigene Faust wühlen und restaurieren. Schmerzlich vermisst werden neben Lemke etwa auch die Filme des 2021 verstorbenen Münchner Fotografen Roger Fritz - Filme wie "Mädchen, Mädchen" oder der eben erst dem filmmateriellen Verfall entrissene "Häschen in der Grube" hätten bestens in die Reihe gepasst. Ebenso hätte man Grenzgänger ans Tageslicht bringen können wie "Lovemaker", mit Fritz in einer Hauptrolle. Die in München gedrehte deutsch-italienische Co-Produktion spiegelte der deutschen Mehrheitsgesellschaft den Rassismus gegenüber den Gastarbeitern derart konsequent wider, dass Produzent Artur Brauner sich nicht imstande sah, den Film in Deutschland in die Kinos zu bringen. Und was ist mit deftigem Genrekino a la "Blutiger Freitag" von Rolf Olsen? Hier hätte die Kinemathek neue Schneisen in die Filmgeschichte schlagen können, Übergangenes und Vergessenes ans Tageslicht bringen können. Eine verpasste Chance.

Was, wie gesagt, nichts ändert an der Güte der jeweiligen Filme. Die ewig Wiederentdeckten des westdeutschen Films - Will Tremper, Ulrich Schamoni und Roland Klick - werden auch hier wiederentdeckt, bis zum nächsten Mal. "Die endlose Nacht" wirkt dabei wie ein Film, den Jim Jarmusch, als er noch Punk war, vielleicht ganz ähnlich gedreht hätte. Nur halt in den Sechzigern: Der Film spielt auf dem Berliner Flughafen Tempelhof, in einer einzigen Nacht. Wegen Nebels über Berlin sind die Passagiere gestrandet, schlendern durch die grandios leere Architektur des Nazibaus. Zufallsbegegnungen, Zufallsbekannschaften am laufenden Meter. Jeder hat seine Geschichte, eine polnische Band spielt Jazz. Durch all das irrlichternd mit verschüchterten Rehaugen: die junge Hannelore Elsner. Ein Schwarzweiß-Film über schwarzweiße Zeiten, übers Dasein im ewigen Transit und damit auch ein Film übers Westberlin der Sechziger, vom Illustriertenfotograf Will Tremper buchstäblich in einer Nacht- und Nebelaktion auf dem Tempelhofer Gelände in Nachtschichten improvisiert. Bis heute ein Film, ohne den jede Kenntnis der westdeutschen Filmgeschichte lückenhaft ist.

Ganz anderes Kaliber: "Supermarkt", eine Ballade auf St. Pauli, von Roland Klick im Stil einer zupackenden Kolportage mit Actionelementen gedreht. Der junge Gammler Willi zieht ziellos durchs Milieu, klaut sich hier was aus der Trinkgeldkasse, verdingt sich dort als Stricher. Er macht die Bekanntschaft eines schwulen Kulturmenschen, den er ausnimmt, und eines linken Journalisten (ein Alter Ego Roland Klicks, wie dieser selber einräumt), der in Willi eine Story und noch mehr das Potenzial für eine Resozialisierungsmaßnahme sieht. Hilft alles nichts, Willi wählt andere Wege: die Kriminalität, das große Ding, mit der ganz großen Knarre und dem schnellen Fluchtauto. Ein Weg mitten ins Fiasko.

Was nach dem schlimmen Genre "Problemfilm" klingt, wird bei Roland Klick eine Einübung ins empathische Filmemachen - nicht nur vergisst Klick das Publikum nicht, das auf seine Kosten kommen will, sondern er stellt sich auch ganz in den Dienst seiner Figuren und deren Milieus. Nicht Sozialpädagogik führt das Wort, auch legt er keine normativen Thesen über die vorgefundene Wirklichkeit. Vielmehr fühlt Klick sich - darin Lemke nicht unähnlich, der in den frühen Siebzigern ebenfalls Hamburg und seine Drifter für sich entdeckt hatte - ganz in diese Welt ein, die einem zeitgenössischen Publikum einerseits fremd vorgekommen sein muss, aber andererseits aus nichts als dringlicher Aktualität bestand. Dazu gibt ein damals noch unbekannter Künstler namens Marius West mit der Rockballade "Celebration" Einblick in die schmachtende Seelenwelt von Figuren wie Willi. Richtig geraten: Marius Müller-Westernhagen gab damals seinen Einstand. 

Für solche Filme lohnt sich die Retrospektive dann doch. Viele weitere wären zu nennen: Der wunderbar verschrobene "Chapeau Claque" vom Ultraindividualisten Ulrich Schamoni etwa, von dem man sich vielleicht aber sogar noch lieber seinen großartigen "Eins" gewünscht hätte. Die Frauenkomödien von Pia Frankenberg. Der abgründige Humor der Westberliner Genialen Dilletanten (ja, so geschrieben), die mit "Jesus - der Film" den letzten wirklich interessanten Bibelfilm drehten. 

Man hätte sich für diesen Zusammenhang einfach nur mehr Raum gewünscht. Mehr Mittel, mehr Recherche, einen besseren Rahmen. So wirkt die Retrospektive wie der Ort, an dem sie kuratiert wird: ein Abgesang auf eine Trümmerwelt, ein Abschied von gestern mit ungewisser Zukunft.

Thomas Groh

Weitere Informationen zum Programm der Retrospektive.