Im Kino

Kindliche Jesusvision

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
15.11.2023. Ein jüdischer Junge in den Krallen des Papstes. Marco Bellocchios "Die Bologna-Entführung" entwirft ein eindrückliches Historienpanorama, das auch von der Kontinuität des Antisemitismus über historische Brüche hinweg erzählt.


Rom leuchtet schummrig und geheimnisvoll, wenn Edgardo Mortara die Stadt zum ersten Mal zu Gesicht bekommt. Wir blicken durch seine Augen, durch Kinderaugen. Edgardo ist sieben Jahre alt und fortan wird er in einer großen, alten Stadt leben, die nicht die Stadt seiner Eltern ist. Geboren wurde Edgardo als sechstes Kind einer jüdischen Familie in Bologna. Da eine Hausangestellte den Jungen kurz nach seiner Geburt heimlich getauft hatte, erhebt die Kirche Anspruch auf ihn, und da Bologna Mitte des 19. Jahrhunderts noch Teil des päpstlichen Kirchenstaats ist, kann sie diesen Anspruch auch durchsetzen.

Tränenreich ist der Abschied, groß die Wut und Verzweiflung der Eltern. Der absolute Herrschaftsanspruch der Kirche zerreißt eine Familie und auch den Film. Die Bemühungen der Mortaras, ihr Kind wieder zurück zur Familie und zum jüdischen Glauben zu holen, bilden fortan den einen Strang der Erzählung, die Eingewöhnung des verlorenen Sohnes in seine neue Familie, die Familie des Christentums, den anderen. Zur Tragik des Geschehens trägt bei, dass die Mortaras den Kindesraub nicht als unvermeidlichen Schicksalsschlag erleben, sondern als Anachronismus. Die Macht der Kirche ist längst im Schwinden begriffen, die italienische Nationalbewegung hat Fahrt aufgenommen, auch viele Juden schwingen die grün-weiß-rote Fahne. Selbst jener Pabst Pius IX., der die Entführung Edgardos nun gegen alle Widerstände verteidigt, hatte nach seinem Amtsantritt die Tore des jüdischen Ghettos in Rom geöffnet.

Nun jedoch hat Pius Edgardo in seinen Krallen. In seinem Reich gilt das Gesetz Gottes und sonst gar nichts, stellt der alte, gebrechliche Mann klar, der in reich geschmückten Zimmern und geometrisch zurechtgeschnittenen Gärten residiert. Edgardo behält er bei sich, zur Not direkt an seinem Körper, unter der Kutte. Auch das Bild dieser unheimlichen Nähe mutet uns der Film aus Kinderperspektive zu. Wir schlüpfen mit dem Jungen unters Gewand. Hier, in ihrem Zentrum, hat die Macht etwas überbordend Künstliches, Ornamentales, ein Eindruck, zu dem nicht zuletzt Fabio Massimo Capogrossos fabelhaft aufbrausender, symphonischer Score beiträgt; der Papst-Darsteller Paolo Pierobon wiederum legt seinen Pius IX. flamboyant, teils fast dragqueenhaft an, etwa wenn sich der Stellvertreter Gottes auf Erden mit kaum verhohlener lustvoller Faszination über die obszönen Karikaturen beugt, mit denen seine Feinde ihn attackieren.



Den ihres Fleisches und Blutes beraubten Mortaras hingegen tritt die Macht als ein effektives, nüchternes Unterdrückungssystem entgegen, das, wie sich bald herausstellt, keineswegs an die Institution Kirche gebunden ist. Die Gnadenlosigkeit der Zentralperspektive schreibt sich nicht nur in die Architektur der christlichen Gotteshäuser ein, sondern auch in die weltliche Gerichtsbarkeit. Ob der Fluchtpunkt ein Kreuz ist oder eine Nationalflagge, macht wenig Unterschied aus der Perspektive derer, die von den symbolischen Ordnungen der Mehrheitsgesellschaft so oder so nicht mitgemeint sind. Dass Marco Bellocchios Film just in einer Zeit ins Kino kommt, in der jüdische Kinder (und Erwachsene) von religiösen Terroristen in Geiselhaft gehalten werden, ist ein, freilich hochgradig bedrückender, Zufall. Hochaktuell ist "Die Bologna-Entführung" hingegen als Film über die Kontinuität des Antisemitismus über alle historischen Umbrüche hinweg; und als Film über den Wert eines selbstbestimmten, wehrhaften Judentums.

Die Schönheit und tiefe Traurigkeit des Films hat gleichzeitig damit zu tun, dass er seine Figuren nicht zu Tätern beziehungsweise Opfern vereindeutigt, sondern als Individuen ernst nimmt. Und zwar als historische Individuen, das heißt, als Menschen, die von Geschichte als etwas Überindividuellem jeweils individuell affiziert werden. Schon Edgardos Eltern leiden jeweils unterschiedlich: der Vater in stiller Verzweiflung, die Mutter in nicht immer gar so stiller Wut. Der Vater glaubt - zunächst - den Versprechungen der sich liberalisierenden Gesellschaft, die Mutter hält sich lieber an die Religion. Auch das Christentum ist nicht mit sich selbst identisch: Die naive Religiosität der Hausangestellten ist nicht dieselbe wie die dogmatische Religiosität des Paters Feletti, der Edgardo entführt, und die selbstherrlich-gegenweltliche Religiosität des Papstes ist wieder etwas anderes.

Was wird bei all dem aus Edgardo? Dem Schematismus, der in der - eng an der Biografie des historischen Edgardo Morata entlang entworfenen - Geschichte angelegt scheint, entkommt Bellocchio nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihrem Zentrum eine Figur befindet, die sich nicht selbst erklären kann. Zunächst spricht das Kind fernab des Elternhauses noch abends heimlich unter der Bettdecke jüdische Gebete, die Kette mitsamt Kreuz, die Edgardo um seinen Hals hängt, hält er für einen Glücksbringer. Die Juden haben Christus ans Kreuz genagelt, erzählt man ihm derweil im Gottesdienst. Die Nägel, die die Seinen dem Heiland in den Körper geschlagen haben sollen, zieht er selbst wieder heraus und verlebendigt damit den Heiland, der auch "König der Juden" hieß. Ein sonderbares, invertiertes Echo auf diese kindliche Jesusvision findet sich in einem Traumbild des Papstes, das darstellt, wie er selbst von Juden zwangsbeschnitten wird.

Das ist das Zentrum des Films: der Papst und der Junge und das Imaginäre der Geschichte. Einer, der alle Macht hat und einer, der gar keine hat. In diesen beiden Figuren öffnet sich das mit altmeisterlicher Präzision entworfene Geschichtspanorama Bellocchios hin auf jene unsichtbaren, unkontrollierbaren Triebkräfte des Historischen, denen die Filme des inzwischen 84-jährigen Italieners seit inzwischen sechs Jahrzehnten auf immer wieder neuen Wegen nachspüren.

Lukas Foerster

Die Bologna-Entführung - Italien 2023 - OT: Rapito - Regie: Marco Bellocchio - Darsteller: Paolo Pierobon, Fausto Russo Alesi, Barbara Ronchi, Enea Sala, Leonardo Maltese, Filippo Timi - Laufzeit: 134 Minuten.