Im Kino

Hauntologisch grundiert

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
06.09.2023. Das Konzept des von Kyle Edward Ball inszenierten no-budget-Horrorhypes "Skinamarink" ist interessant. Er ruft die Keimzellen jeder Horrorkultur in Erinnerung: Die kleinkindliche Fantasie als wuchernder Garten, in dem sich zwischen erschreckendem Irrsinn und blühendem Blödsinn alles abspielt, was sich ein erwachsenes Gehirn für gewöhnlich untersagt Doch leider lautet die erste Regel des Kinos immer noch: Du sollst nicht langweilen.
"Wie Sie sehen, sehen Sie nichts."
Hans-Joachim Kulenkampff, "Einer wird gewinnen"

"'Konrad!' sprach die Frau Mama, 'Ich geh aus und du bleibst da.'"
Heinrich Hoffmann, "Struwwelpeter"



Zu den Fragen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass sie mir mal in den Sinn steigen würden, gehört diese: Würde so wohl ein Horrorfilm aussehen, den Heinz Emigholz gedreht hat? Emigholz war die letzten Jahre vor allem mit einer Reihe von Architketurfilmen präsent, in denen er reizvolle Gebäude abschritt, deren Winkel und Ecken er in statischen, oft schrägen Einstellungen beobachtete. Kyle Edward Balls Low-Budget-Überraschungshit "Skinamarink" hat sich daran zwar mit größter Wahrscheinlichkeit kein Vorbild genommen, aber der Eindruck entsteht eben doch: Seine rund 100 Minuten Spielzeit bestreitet der Film fast ausschließlich damit, im schrägen Anschnitt Ecken und Winkel einer mehrstöckigen Familienwohnung zu zeigen.

Die zwischen diesen Impressionen nur sehr ungefähr zu erahnende Geschichte (die Figuren sind fast ausschließlich akustisch aus dem Off präsent) spielt 1995, wohl auch um die Geschichte - die Abwesenheit von Mobiltelefonie - medienhistorisch zu plausibilisieren. Der vierjährige Kevin ist mit einem Mal nachts allein zu Haus. Zwar ist da noch seine etwas ältere Schwester Kaylee - aber die Mutter ist fort und auch der Vater, eben noch beim Telefonat zu hören, ist mit einem Mal verschwunden. Türen, Spielzeug, aber auch das Klo tun es ihm bald gleich. Stattdessen ist nach einer Weile eine unheimliche Stimme zu hören, die rätselhafte Anweisungen gibt, derweil eine Endlosschleife alter Cartoons auf einem Fernsehbildschirm die Atmosphäre hauntologisch grundiert. Kaylee ist irgendwann ebenfalls weg. Dann passiert Kevin etwas, was sich laut Einblendung über 500 Tage hinzieht. Ein paar minimalistische, surreale Bilder. The End.


Via TikTok wurde der mit 15.000 Dollar Produktionskosten sehr günstige Film zum viralen Hit, der mit mittlerweile über zwei Millionen Dollar Umsatz tief in der Profitzone angekommen ist. "Skinamarink" stellt einmal mehr unter Beweis, dass zumindest in den USA Horrorfilme relativ zum Einsatz die sicherste Bank für Filminvestionen sind. Die dreistelligen Millionenbudgets gängiger Actionblockbuster stellen demgegenüber Risikokapital dar. Auch der Social-Hype verwundert nicht: In seiner Abfolge meist statischer Einstellungen, deren Status (objektiv? subjektiv? wenn letzteres, wer ist das Subjekt?) nicht immer eindeutig abzulesen ist, bietet der aufgrund einer Panne frühzeitig ins Netz geleakte Film einen reichhaltigen Fundus zum Ausschlachten für die auf TikTok und Instagram extrem populären Kurzvideos samt eingebauter Reaktion: "Oh my God, WHAT IS THIS?". Hinzu kommt die dem Film übergestülpte (allerdings sehr künstlich und günstig wirkende) Patinisierung: Das grotesk übertriebenes Filmkornrauschen sowie die an Hobby-Equipment vergangener Jahrzehnte gemahnende Klangschraffur der wenigen Sätze, die im Film fallen, weisen den Film nicht nur vorgeblich als eine Art Fundstück aus früheren Zeiten aus (wobei der Look eher die Siebziger als die Neunziger evoziert), sondern führen ihn auch dem Social-Media-Fetisch für die Textur von Analogmedien zu.

Paradoxerweise trifft in dieser Medienkonstellation die ADHS-Logik von Kurzvideos aus dem Algorithmen-Feuer auf eine Filmform, die man als experimentelles Slow Cinema bezeichnen könnte. Womit die Crux von "Skinamarink" auch schon beschrieben ist: Die Idee ist ziemlich gut für einen ziemlich gruseligen Trailer, vielleicht sogar noch besser für einen 30-Sekünder auf TikTok. Sie wäre vielleicht auch ziemlich gut für einen experimentellen Kurzfilm. Aber auf 100 Minuten gedehnt, schlafen einem die Füße ein - jedenfalls spätestens bei der 84. Einstellung eines oberen Türrahmens im Anschnitt, während man zuvor Minuten lang wenig mehr gehört hat als analoges, an die Auslaufrille einer Vinylplatte erinnerndes Grundrauschen. Da hilft es dann auch nicht viel, wenn man plötzlich bemerkt: "Hey, das muss eine Subjektive sein. Und hey, das heißt ja, dass Kevin jetzt an der Zimmerdecke läuft." Und auch nicht, wenn man merkt, dass im Ungefähren des weitgehend im Dunkeln gefilmten Films vielleicht doch eine Person sitzt, die man vor lauter "Film"korn erst gar nicht bemerkt hat.

Will heißen: Das Konzept ist das eine, die Ausführung das andere. Das Konzept ist zweifellos interessant. "Skinamarink" ruft die Keimzellen jeder Horrorkultur in Erinnerung: Die kleinkindliche Fantasie als wuchernder Garten, in dem sich zwischen erschreckendem Irrsinn und blühendem Blödsinn alles abspielt, was sich ein erwachsenes Gehirn für gewöhnlich untersagt. Die Angst, von den Eltern alleine gelassen zu werden. Die für die kindliche Wahrnehmung lange Zeit fremdbleibende Welt, auch da, wo sie eigentlich vertraut ist (wer hat sich als Kind nicht durch Schränke, Keller und Dachboden gegraben und dort Räume in Räumen in Räumen erkundet - oder "A dream inside a dream inside a dream", wie es bei Poe heißt). Die Ver-Gothicisierung einer alltäglichen Lebenswelt qua kindlich subjektivierter Perspektive. Der hauntologische Grusel, der von obsoleten Medien ausgeht - ob das nun die fake-analoge Form des Films selbst ist (da unsere Gehirne auf Mustererkennung programmiert sind, tastet man natürlich irgendwann vor allem das ständige Rauschen in Bild und Ton ab, das wie ein eigenständiger Player im Film wirkt) oder die dauerpräsenten Uralt-Cartoons, die das Geschehen kommentieren, als würde das geisterhafte Wesen, das hinter Raum und Film schwirrt, durch diese Zeichentrickfilme hindurch sprechen - laut Vorspann sind diese Cartoons übrigens allesamt dem von der Copyright-Industrie gerade wieder schwer torpedierten Internet Archive entnommen. Dabei schöpft der Film insbesondere aus dem surrealen Wahnwitz der frühen Fleischer-Cartoons, die dem harmlosen Slapstick-Rambazamba und der ländlichen Beschaulichkeit der Disney-Konkurrenz oft grellste, anarchische Entfesselungen entgegen setzten. So etwa im Klassiker "Bimbo's Initiation", der ebenfalls kurz durch die Texturen des Films schimmert und der in der Art, in der er das Raumkontinuum fortlaufend subvertiert, für "Skinamarink" wohl Pate gestanden hat - vielleicht ist der Film sogar ein äußerst verschrobenes Remake.



Aber hilft alles wenig. Gedanken, die man sich zum Film beim Wegdämmern macht, ersetzen nicht die affektive, unmittelbarere Qualität, derentwegen man Filme überhaupt erst sieht. "Skinamarink" mag auf dem Papier gut ausgesehen haben, zerfällt aber beim Zuschauen in seine konzeptionellen Einzelteile. Gut möglich, dass der (wohl auch aus der Not der zur Verfügung stehenden Mittel resultierende) Minimalismus auf eine Art Pendant zu hauntologischen Ambientprojekten wie The Caretaker abzielte - was allerdings übersieht, dass (insbesondere Ambient-)Musik zum Abschweifen und gedanklichen Mäandern einlädt, wohingegen Film durch seine konkrete Präsenz die Aufmerksamkeit an sich bindet. Auch vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren sanft anschwellenden und abnehmenden Wellen von Filmen, die mit der Ästhetik von Retro-Medien hantieren, wirkt "Skinamarink" paradox (zwischen groteskem Maximalismus und rigidem Minimalismus), ungelenk (wenn schon Retro, dann bitte stimmig) und künstlerisch uninspiriert - weitaus interessanter sind demgegenüber etwa die Underground-Filme von Cosmotropia de Xam, die zwar aus Retro-Ästhetik (insbesondere aus dem Fundus des europäischen Horrorfilms und des Krautrocks der Siebziger) schöpfen, jedoch mit zeitgenössischen Mitteln einen sehr gegenwärtigen ekstatischen Überschuss produzieren (der aktuelle Film "Space Necronomicon" etwa vermählt authentisches Super8 mit KI-Strecken).

Gut möglich, dass "Skinamarink" mit seinen verstreuten Cues und ausgehängten Lockkarotten hier und da hauntologisch angehauchte Thinkpieces zwischen High Brow Filmkritik und akademischer Kommentarproduktion inspiriert. Ich wette darauf: Die Lektüre der Texte wird anregender und interessanter als das Schauen des Films. Damit kann ein Kunstwerk nicht zufrieden sein.

Thomas Groh

Skinamarink - Kanada 2022 - Regie: Kyle Edward Ball - Darsteller: Lucas Pau, Dalí Rose Tetreault, Ross Paul, Jaime Hill - Laufzeit: 100 Minuten.