Intervention

Tief verankert

Von Richard Herzinger
20.11.2023. Judith Butler setzt mit ihren israelfeindlichen Äußerungen eine lange Tradition des linken Antisemitismus fort: Wer davon überrascht ist und Antisemitismus nur rechts vermutet, ignoriert im Grunde die gesamte linke Geschichte seit spätestens den Frühsozialisten.
Dass sich die berühmte Philosophin Judith Butler und zahlreiche andere prominente westliche Linksintellektuelle mit der massenmörderischen Hamas solidarisieren, ist schockierend. Wirklich überrascht sein kann davon jedoch nur, wer Antisemitismus noch immer ausschließlich auf der politischen Rechten verortet. In Wahrheit jedoch ist Judenfeindschaft, die sich heute vor allem in der obsessiven Verdammung Israels äußert, in der linken Ideologiegeschichte tief verankert.

Sie geht bereits auf die Blütezeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück. Denn nicht nur Vertreter der feudalen und klerikalen Reaktion, auch bedeutende Aufklärer wie Voltaire hegten heftige antijüdische Ressentiments - freilich aus dem umgekehrten Motiv wie die Verteidiger der alten Ordnung. Aufseiten der Gegenaufklärung ging der traditionelle christliche Antijudaismus nahtlos in die Anklage über, die Juden seien als "zersetzendes", wurzelloses Element für die Auflösung der "natürlichen" hierarchischen Ordnung der Gesellschaft verantwortlich. Aufklärer wie Voltaire hingegen bezichtigten das Judentum, starrsinnig an einem archaischen Gottesglauben festzuhalten und damit eine Quelle des antiaufklärerischen Obskurantismus zu sein.

Es zeichnete sich damit eine Art "Arbeitsteilung" in Sachen Judenfeindschaft ab: Der Rechten galt das Judentum forthin als Urheber und Motor der verhassten aufklärerischen Moderne, vielen Linken hingegen ein Hort der den historischen Fortschritt blockierenden Antimoderne. Dabei haben die Juden ihre staatsbürgerliche Gleichstellung im Zuge der Französischen Revolution zweifellos dem Geist der Aufklärung zu verdanken. Doch vielfach wurde die Gewährung dieser Gleichstellung mit der Erwartung verbunden, nach ihrer Befreiung aus dem Ghetto würden sich die Juden über kurz oder lang von ihrer jahrtausendealten religiösen und kulturellen Identität verabschieden.

Dass dies nicht geschah, führte zu verstärkten Aversionen gegen den jüdischen "Partikularismus" auch im "fortschrittlichen", linken Lager. Die erste rassenantisemitische Organisation in Deutschland - die "Antisemitenliga" - wurde 1879 von einem Radikaldemokraten der äußersten Linken gegründet, dem Publizisten Wilhelm Marr. Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon hatte schon Jahre zuvor sogar die physische Ausrottung der Juden propagiert. Ein derartiger eliminatorischer Antisemitismus lag Karl Marx zwar fern. Doch in seiner Abhandlung "Zur Judenfrage" (1843) setzte er das Judentum mit dem Kapital gleich und schlussfolgerte, mit der Aufhebung der Kapitalherrschaft werde sich auch das Judentum auflösen.

Die Assoziation von Juden und Geldwirtschaft machte die Linke anfällig für die antisemitische Wahnvorstellung, hinter den Machenschaften des "internationalen Finanzkapitals" steckten jüdische Drahtzieher. Nach der Gründung des Sowjetstaats kam der Verdacht hinzu, die Juden fungierten als wurzellose Agenten des ausländischen Klassenfeinds, denen es an Loyalität gegenüber dem sozialistischen Vaterland und der in ihm angeblich herrschenden proletarischen Klasse fehle. Die letzte von Stalin geplante große Säuberung sollte die Juden wegen ihres vermeintlich zersetzenden "Kosmopolitismus" treffen.

Hatte die Sowjetunion der Gründung des Staates Israel 1948 zunächst positiv gegenübergestanden, weil sie in ihm einen potenziellen "antikolonialistischen" Verbündeten vornehmlich gegen das britische Empire vermutete, änderte sich dies schlagartig, als sich der jüdische Staat den westlichen Demokratien zuwandte und der aufkommende arabische Nationalismus den Kommunisten als lukrativer Alliierter gegen den "US-Imperialismus" erschien. Als  dessen "Speerspitze" im Nahen Osten wurde nun Israel denunziert - was mit heftigen antisemitischen Verfolgungen im Sowjetblock verbunden war.

Diese fielen in der DDR zwar weniger offen und drastisch aus als in "sozialistischen Bruderländern" wie der Tschechoslowakei, wo in einem Schauprozess 1952 elf meist jüdische Parteifunktionäre als "trotzkistisch-titoistisch-zionistische Verschwörer" zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurden. Dafür tat sich das SED-Regime jedoch mit besonderem Eifer bei der Bekämpfung Israels hervor - des Staats, der den Juden nach dem Holocaust Schutz und Zuflucht garantierte.

Die Unterstützung von besonders radikal israelfeindlichen arabischen Regimes wie denen Syriens und des Irak sowie verschiedener palästinensischer Terrororganisationen durch die DDR umfasste logistische Hilfestellung, Ausrüstung und Ausbildung von Militär und Geheimdiensten. Die SED-Führung störte dabei nicht, dass arabische Regimes, die Israel auslöschen wollten, kein Hehl aus ihrer Bewunderung für Hitler und die NS-Judenvernichtung machten - und Syrien Alois Brunner, dem nach Adolf Eichmann international meist gesuchten SS-Judenmörder, Unterschlupf gewährte. In ihr vorgeblich "antinazistisches" Weltbild eingepasst wurde dies alles von den Sowjets und ihren Ostberliner Satrapen, indem sie den Zionismus kurzerhand zu einer Form des "Rassismus" und "Faschismus" erklärten.

Doch nicht nur moskautreue Kommunisten, auch große Teile der aus der Achtundsechziger-Bewegung hervorgegangenen radikalen Linken machten sich das Feindbild Israelals dem "imperialistischen" Stachel im Fleisch der arabischen Welt zu eigen. Ihre enge Allianz mit palästinensischen "Befreiungsorganisationen" führte deutsche Linksterroristen dazu, in den 1970er Jahren gezielt Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Menschen zu verüben. Das gute Gewissen, dass sich diese angeblichen "Antifaschisten" dabei machten, bezogen sie aus der Legende, ein Linker könne per definitionem kein Antisemit sein.

Heutige "postkoloniale" Linke wie Judith Butler, die - obwohl selbst jüdisch - die Hamas zu einem Teil der "emanzipatorischen Linken" erklärt und so vom Vorwurf des Antisemitismus freigesprochen hat, setzen diese verhängnisvolle Tradition fort. Indem sie das wahllose Töten von israelischen Zivilisten zu einem Ausdruck legitimen "palästinensischen Widerstands" verklären, erteilen sie jedoch nichts weniger als eine ideologische Lizenz zum Judenmord.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.