Intervention

Pathos des Unvollkommenen

Von Richard Herzinger
29.09.2022. Nicht der "Gemeinwille", sondern der offen ausgetragene Konflikt ist die Stärke der Demokratien, lehrte der politische Denker Ernst Fraenkel. Dafür braucht es aber auch einen nicht-kontroversen, konsensualen Sektor, der heute in vielen westlichen Demokratien eine gefährliche Erosion erfährt. Demokratien müssen sich wappnen, auch auf dem Feld der Ideen.
Die Existenz der westlichen Demokratien ist bedroht wie seit 1945 nicht mehr. Die Regime Russlands und Chinas haben der demokratischen Welt und ihren Werten de facto den Krieg erklärt und drängen sie in die Defensive. In der Ukraine überzieht Russland ein demokratisches europäisches Land bereits offen mit Tod und Zerstörung. Darüber hinaus hat der Islamismus, wie vor Kurzem der Mordanschlag auf den britischen Schriftsteller Salman Rushdie bewies, nichts von seiner Gefährlichkeit verloren.

Doch auch von Innen her werden die pluralistischen Demokratien in ihrem Kern angegriffen - durch Ideologien von rechts und links. Gemeinsam ist beiden Richtungen die Konstruktion eines kollektiven Subjekts, in dessen Namen sie eine allein gültige absolute Wahrheit auszusprechen behaupten. Während sich die extreme Rechte auf "das Volk" als eine vermeintlich homogene Einheit beruft, die sie einer "abgehobenen liberalen Elite" entgegen stellt, betrachtet sich die "postkoloniale" Linke als die einzig authentische Stimme der Gesamtheit aller einstmals vom Westen Kolonisierten und ihrer Nachfahren.  

Damit negieren diese Strömungen das Grundverständnis moderner Demokratien, die in ihren Bürgern rechtlich gleichgestellte, selbstbestimmte Individuen sehen, die sich in freiwilligen Zusammenschlüssen organisieren können, um politischen Einfluss zu gewinnen - ohne dass dadurch die Pluralität der Interessen und Überzeugungen angetastet und die Legitimität dieser Vielfalt infrage gestellt werden darf.

Um diesen Grundsätzen neue Anziehungskraft zu verleihen, empfiehlt sich die Rückbesinnung auf Denker, die ihnen ein intellektuelles Gerüst gaben. Kaum ein anderer Theoretiker der freiheitlichen Demokratie hat die grundlegende Differenz zwischen dem identitären und dem pluralistischen Staats- und Gesellschaftskonzept so präzise aufgezeigt wie der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der einer breiteren Öffentlichkeit heute dennoch kaum noch bekannt ist. Der 1898 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geborene Fraenkel engagierte sich in der Weimarer Republik als Rechtsanwalt und Sozialist für die Gewerkschaftsbewegung. 1938 in die USA emigriert, studierte er dort intensiv die staatsrechtlichen und ideellen Grundlagen der amerikanischen Demokratie, was ihn zunehmend von seinen ursprünglichen sozialistischen Idealen abrücken ließ. Nach 1945 diente er im Auftrag der US-Regierung als Berater beim Aufbau eines neue Rechtssystems im von der japanischen Herrschaft befreiten Korea, bis er 1950 nach Deutschland zurückkehrte.  

Als Professor der politischen Wissenschaft in Berlin avancierte Fraenkel zu einem maßgeblichen Vordenker der deutschen Nachkriegsdemokratie. Seine als "Neopluralismus" bezeichnete Theorie formulierte er explizit als Antwort auf die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Als deren Wurzel betrachtete er die Vorstellung von einem vorgefertigten "Gemeinwohl", nach dessen Vorgaben die Gesellschaft zu formieren sei. Hatte sich Fraenkel zunächst primär gegen autoritäre Staatsvorstellungen der nationalistischen Rechten wie die des Staatsrechtlers Carl Schmitt gewandt, geriet er in den 1960er Jahren in heftige Konfrontation mit der linksradikalen Studentenbewegung. Deren Aktionsformen erinnerten ihn an die Gewaltmethoden der Nationalsozialisten und ihrer SA-Sturmtrupps in der Endphase der Weimarer Republik. Zutiefst abgestoßen war Fraenkel auch vom aggressiven Antiamerikanismus der studentischen Linken. Im Gegenzug  wurde der jüdische Remigrant, der dem Holocaust entkommen war, von diesen jungen Deutschen als "Reaktionär" abgestempelt. Kurzzeitig erwog Fraenkel deshalb sogar, ein zweites Mal aus Deutschland zu emigrieren.

Im Gegensatz zu dem Denken in der Tradition von Jean-Jaques Rousseau und seinem Konzept eines über dem Willen der Einzelnen stehenden "Gemeinwillens" (volonté générale) bestand Fraenkel darauf, dass das Gemeinwohl erst durch die Auseinandersetzung und Kompromissfindung zwischen Interessengruppen entsteht, die gegeneinander um Einfluss kämpfen. Der offen ausgetragene Konflikt widerstreitender Interessen ist daher laut Fraenkel kein Makel freier Gesellschaften, sondern die Quelle ihrer Stärke. Voraussetzung dafür seien allerdings verfassungsrechtlich gesicherte Verfahren, die den Konflikt in institutionelle Bahnen lenken.

Dazu bedarf es laut Fraenkel neben dem "kontroversen Sektor", in dem die nie endenden Auseinandersetzungen um den richtigen Weg für die Gesellschaft ausgetragen werden, auch eines Bereichs, in dem Konsens über die für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbaren Normen und Werte besteht. Dieser nicht-kontroverse, konsensuale Sektor erfährt heute in vielen westlichen Demokratien eine gefährliche Erosion. Im digitalen Zeitalter wird es vielfach zur Gewohnheit, Anspruch auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu erheben. Das trägt dazu bei, dass die schwerfälligen prozeduralen Mechanismen der Demokratie einmal mehr als zu langwierig und ineffektiv und daher als antiquiert empfunden werden.

Gegen diese Haltung müssen die Verteidiger der pluralistischen Demokratie ein Pathos des Unvollkommenen setzen. Sie müssen deutlicher vermitteln, dass der demokratische Prozess, so quälend und unbefriedigend er oft sein mag, keine unzumutbare Last, sondern das kostbarste Gut freier Gesellschaften ist. Denn nur er bietet zuverlässigen Schutz vor utopischen Absolutheitsansprüchen,  seien sie rückwärtsgewandter oder "progressiver" Art. Eine Gesellschaft bleibt nur frei, wenn sie sich zu ihrer ewigen Unfertigkeit bekennt und allen falschen Versprechungen auf "Heilung" durch eine oktroyierte "Ganzheit" widersteht.

Um sich gegen den Ansturm des neuen Autoritarismus behaupten zu können, müssen die Demokratien nicht nur ihre militärischen Abwehrkräfte erheblich stärken. Auch auf dem Gebiet der Ideen ist Aufrüstung dringend geboten. Dazu gilt es, sich wieder stärker mit den Prinzipien vertraut zu machen, auf denen die modernen demokratischen Gesellschaften gründen - um sie selbstbewusst gegen ihre inneren wie äußeren Feinde ins Feld zu führen. Die Kenntnis des Werks und Lebens Ernst Fraenkels kann dabei eine eminente Hilfe sein.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.
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