Im Kino

Klassentreffen auf dem Friedhof

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
15.01.2008. In Barbara Alberts neuem Film "Fallen" sehen sich fünf Frauen Anfang Dreißig bei der Beerdigung eines Lehrers mit ihrer Vergangenheit und, schlimmer noch, ihrer Gegenwart konfrontiert. George Ratliffs Horrorfilm "Joshua" ist völlig frei von allem Übersinnlichen, an subtilen Verstörungen des Kleinfamilienglücks aber umso reicher.
Ein Lehrer ist gestorben, fünf Frauen Anfang Dreißig kehren zurück an ihren Schulort in der österreichischen Provinz. Eine Art Klassentreffen auf dem Friedhof. Erinnerungen werden aufgerührt, an einstige Liebschaften und das Ende der Freundschaft. Alle fünf, die einst Freundinnen waren, haben sich irgendwann aus den Augen verloren. Carmen (Kathrin Resetarits) ist eine bekannte Schauspielerin geworden, so lässt sich ihr Leben immerhin in der Klatschpresse weiterverfolgen. Nina (Nina Proll) ist schwanger und ohne Job, Nicole (Gabriela Hegedüs) hat ihre Tochter Daphne dabei und ein sagenhaftes Talent, im unpassendsten Moment das Falsche zu sagen. Alex (Astrid Strauss) wirkt erst sehr streng und dann sehr aufgelöst und dann berappelt sie sich wieder. Brigitte (Birgit Minichmayr), die mit dem Verstorbenen mehr als die anderen verband, ist auch sonst diejenige, die am ehesten zu der steht, die sie früher war.

Weder auf große Enthüllungen noch überraschende Wendungen will Barbara Albert hinaus. Die Gespräche bewegen sich zwischen Sarkasmus und Ratlosigkeit, es kommt zu Wiederannäherungen zwischen den Freundinnen und zu Gereiztheiten, die allen auch schon von früher bekannt sind. Nicht zuletzt zielt "Fallen" auf eine Bilanz der Lebensentwürfe, genauer gesagt auf die Frage danach, was von den Entwürfen, die es mal gab, im Leben dann übrig bleibt. Alle fünf haben sie früher auf der Linken gegen die Rechte demonstriert, Utopien eines besseren Lebens in einer besseren Gesellschaft verfolgt. Wenig ist davon noch zu spüren außer dem schlechten Gewissen vielleicht, das sich im Unwillen äußert, darüber jetzt groß zu diskutieren, bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die Diskussion dann auch zu lassen. Der Horizont hat sich auf private Lebens- und Schicksalsfragen verengt, einzig Brigitte, die Lehrerin in der Provinz, hat sich den linken Aktivismus bewahrt.

Wie sehr sich der Horizont des Films mit dem seiner Figuren deckt, ist schwer zu sagen. Der Titel des Films - von der englischen Version zur Verbform "Falling" vereindeutigt - legt nahe, dass Albert ihre Figuren mit Tendenz zur Objektivität beschreibt und bei aller Sympathie durchaus kritisch in einer fortgesetzten Abwärtsbewegung gefangen sieht. Sie taumeln, sie straucheln, sie stolpern, sie gehen zu Boden und stehen nur mit Mühe wieder auf. Sie waren und sind keine Engel und Gefallene sind sie doch. Auch die Lesart, dass sie in Fallen geraten sind, Sackgassen, von denen der Weg nirgends hinzuführen scheint, ist bis fast zum Schluss nicht von der Hand zu weisen. Das Ende selbst, das den Rahmen etwas abrupt aufzieht, scheint freilich zu suggerieren: Man kann nicht nur abwärts, sondern, mit dem Willen zum Sprung, auch nach vorne fallen.

Barbara Alberts letzter Film "Böse Zellen" war ein multiperspektivisch angelegtes Gegenwartspanorama, in dem der Zufall mit Absicht eine Hauptrolle spielte. Für "Fallen" verkleinert die Drehbuchautorin und Regisseurin das Format. Die Handlung beschränkt sich im wesentlichen auf einen Tag, eine Nacht und den Morgen eines weiteren Tags. Die Vorgeschichte kondensiert in der Gegenwart erinnerungsförmig. In Gesprächen, auch in Auswirkungen auf die Gegenwart, die man sieht. Stilistisch wählt Albert eine Form von impressionistischem Realismus, aber mit quasi-avantgardistischen Einsprengseln. Für Sekunden gefriert dann das Bild zu grobkörnigen Farbfotos - auf denen man Bilder aus der unmittelbaren Zukunft sieht. Darunter aber sind von den Hauptdarstellerinnen eingespielte Hippiesongs zu hören, wie man sie in den Achtzigern in protestbewegten Zeltlagern sang. Worauf das zielt, ist klar: die schwindelerregende Vermischung, wenn nicht Verwirrung, von Einst und Jetzt, Hoffnung und Wirklichkeit. Wie manches bei Albert, die erfreulicherweise immer sehr ambitioniert ist, wirkt das mitunter zu sehr gewollt, um ganz gekonnt zu sein. "Fallen" versammelt manchmal etwas angestrengte, in der Mehrzahl aber großartige und auch großartig peinliche Momente zu einem Ganzen, das zuletzt vielleicht doch etwas zu sehr in seine Teile zerfällt.

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Brad (Sam Rockwell) und Abby Cairn (Vera Farmigia) sind bestens situiert, haben eine schöne Wohnung in guter Manhattan-Lage. Eine Tochter wird geboren, die Eltern sind glücklich, nur der neunjährige Sohn Joshua blickt böse. Böser noch als ältere Geschwister aus guten Gründen immer blicken, wenn Geschwister geboren werden, die alle Aufmerksamkeit rauben, die zuvor ihnen galt. Der Rest ist, wenn man so will: Rückeroberung dieser Aufmerksamkeit.

Joshua (Jacob Kogan) ist eine Art Wunderkind. Er spielt fantastisch Klavier, er macht mit Vorliebe altkluge Bemerkungen und die Lehrerin der Elite-Schule meint in der Sprechstunde, er solle eine Klasse überspringen oder besser gleich zwei. Der Titel des Films rückt ihn ins Zentrum, der Film selbst tut dies zunächst nicht. Es geht um das Familienglück, die gerade geborene Tochter Lily. Und darum, wie das Glück sich eintrübt. Das Baby schreit, die Mutter ist bald mit den Nerven am Ende. Der Vater bekommt Schwierigkeiten in seinem Wall-Street-Job. Seine Mutter kommt aus der Provinz und schleppt Joshua zu New Yorker Veranstaltungen von Evangelikalen. Joshua fällt beim Klaviervorspiel in Ohnmacht, meist schweigt er, nur gelegentlich fragt er seine Eltern, ob sie ihn noch lieb haben.

"Joshua" ist ein Horrorfilm, der in seiner Tonlage an "Das Omen" oder "Rosemarys Baby" erinnert, mit einem wichtigen Unterschied: Er kommt ganz ohne das Übernatürliche aus. Der Horror, um den es geht, ist der des Zwangs zum Kleinfamilienglück. Die Mutter weigert sich, ein Kindermädchen zu engagieren, noch am Rande des Nervenzusammenbruchs pumpt sie sich die Brust ab, um bis zuletzt als perfektes Muttertier dazustehen. Der Vater ist kein Patriarch, sondern einer, der sich redlich ums Haushalts-Mittun bemüht, auf Kosten durchaus des beruflichen Erfolgs. Mit schlechtem Gewissen linst er, weil die Ehefrau zur Nacht sich abwendet, zur schönen Kollegin am Kopierer und sucht als Ersatzbefriedigung Pornoseiten bei Google.

Lange dauert es, bis Vater Brad begreift, dass mit Joshua etwas nicht stimmt. Dass das Schreien des Babys, der Zusammenbruch seiner Frau, der Tod seiner Mutter durch Treppensturz womöglich keine unglückliche Verkettung von Zufällen sind. Weil alle - außer Joshua - hier bis zur Verzweiflung ans Gute glauben wollen, bekommen sie das Böse, das sich unter ihren Augen zuträgt, nicht in den Blick. Subtil trägt Regisseur George Ratliff den Schrecken in seine eleganten Alltagsbilder ein. Der Horror ist hier eine Sache der Addition kleiner Verunsicherungen und jenen Blindheiten geschuldet, mit denen die gehobene Mittelklasse nach Innen und Außen die Fassaden aufrecht erhält.

Joshua dagegen ist das Prinzip der reinen Fassade, einer, dessen äußerliches Bemühen um den schönen Schein rein mechanisch ist. In seinem leeren Kern liegt die vollständige Abwesenheit von Moral. Er ist völlig frei noch vom hilflosesten Willen zum Guten und damit auch von der Fähigkeit zur Bestandserhaltung durch Doppelmoral. Die Diagnose, dass der evangelikale Fundamentalismus dazu das passende funktionale Äquivalent ist, ist so treffend bösartig wie dieser - die meiste Zeit jedenfalls - auf täuschend leisen Sohlen daherschleichende Film insgesamt. Er beginnt mit reinem Familienglück und lässt am Ende nicht ein Jota davon übrig. "Joshua" ist eine kompromisslos finstere Abrechnung mit den Verlogenheiten des gehobenen Kleinfamilien-Bürgerglücks und hatte, wen wundert's, beim US-Mainstream-Publikum nicht den Hauch einer Chance.

Fallen. Österreich 2006 - Regie: Barbara Albert - Darsteller: Birgit Minichmayr, Nina Proll, Gabriela Hegedüs, Ursula Strauss, Kathrin Resetarits, Ina Strnad, Georg Friedrich, Darina Dujmic, Angelika Niedetzky, Christian Strasser, Erich Knoth

Joshua. USA 2007 - Regie: George Ratliff - Darsteller: Sam Rockwell, Vera Farmiga, Jacob Kogan, Celia Weston, Dallas Roberts, Michael McKean, Nancy Giles, Ezra Barnes, Linda Larkin, Jodie Markell, Alex Draper