Im Kino

Die Welt von heute

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
08.09.2023. Überschattet von zwei Krisen - dem Krieg in der Ukraine, der auf dem Festival völlig ausgeblendet war, und dem Streik in Hollywood - konnten die Filme in Venedig nur halb überzeugen. Messerscharf erzählt ist immerhin Agnieszka Hollands Film "Grüne Grenze" über Flüchtlinge an der Grenze zu Polen, und dieser Film hätte eindeutig den Goldenen Löwen verdient. Die Streamingdienste waren schwach vertreten, und das übrige Filmgewerbe verzichtete mit den üblichen Biopics wie "Ferrari", den "Maestro" Bernstein oder "Priscilla" weitgehend aufs Risiko.
Für Europa, sagt Agnieszka Holland, sei es die gefährlichste Lage seit langer Zeit. Die 74-jährige polnische Regisseurin sitzt auf der Bühne bei den Filmfestspielen in Venedig. "Wo ist denn dieses Europa noch?", fragt sie. Sie spricht nach der Weltpremiere ihres Flüchtlingsdramas "Grüne Grenze" ("Zielona Granica") über den Aufstieg der populistischen Parteien, über deren Negation der Fakten und darüber, dass in dieser Situation manchmal nur noch die Kunst die Wahrheit überbringen könne. Wenn die polnische Regierung an der Grenze des Landes zu Belarus jede Berichterstattung von Journalisten unterbinde, dann müsse eben vermeintliche Fiktion der Welt erzählen, was dort geschieht. Sie erwähnt eine Aussage von Polens Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczinsky: "Amerika hat Medien nach Vietnam gelassen und den Krieg verloren." Deswegen, so Holland, wollte die Rechtsregierung in Warschau die Berichterstatter aus der Grenzzone heraushalten. Als Filmregisseurin aber könne sie recherchieren, rekonstruieren, dokumentieren, was dort passiert. "Das Kino kümmert sich nicht mehr genug um die Welt von heute," kritisierte Holland.

Foto aus Agnieszka Hollands "Zielona Granica". Foto: Fimfestival Venedig



Der Satz könnte, auf den ersten Blick jedenfalls, die Bilanz des diesjährigen Filmfests sein. Ohnehin hat sich dort dieses Jahr vieles geändert. In den letzten Jahren wurde das Filmfest auf dem Lido vor der Lagunenstadt zunehmend zur Rampe für die Oscar-Saison. Hollywood-Studios und Independents beschickten das Fest mit hoffnungsvollen Produktionen mit Potenzial. Vor allem aber lernten die großen Streaming-Anbieter Venedig lieben, voran Netflix und Amazon. Anders als in Cannes und Berlin lässt Venedig Streaming-Produktionen ohne weitgehende Vorgaben ins Programm. Für die Streamer war das Festival die Gelegenheit, sich als Teil des globalen Kinoschaffens zu etablieren, seit vor fünf Jahren Alfonso Cuaróns Netflix-Produktion "Roma" hier den Goldenen Löwen holte.

Dieses Jahr aber wurde der Strom der oscarfähigen Bilder und der großen Streamingproduktionen mit Weltkinoanspruch eher zum Rinnsal. Zum einen hat der seit Monaten anhaltenden Streiks der Drehbuchautoren und Schauspieler in Hollywood schon dafür gesorgt, dass die Studios einige Produktionen nicht fertigstellen konnten - und übrigens auch dafür, dass keine Stars nach Italien reisten und der große rote Teppich vor dem Palazzo dieses Mal eher leer war, dass entsprechend auch der Andrang von Fotografen und Fans ausblieb. Zum anderen hat sich beim Streaming der Wind gedreht. Die von der Coronapandemie befeuerten "Streaming Wars" zwischen Netflix und Amazon einerseits und Disney, Warner und Paramount andererseits sind vorerst beendet, weil sie alle Beteiligten zu viel Geld gekostet haben. Die Zeichen stehen jetzt auf Konsolidierung. Die Streamer produzieren weniger und vor allem produzieren sie weniger Leuchtturm-Langfilme fürs anspruchsvolle Publikum, wie sie Festivals lieben. Einfach, weil sie damit nicht unbedingt mehr neue Abos verkaufen.

Ein Genre, das die Streamer in den letzten Jahren etabliert haben, war in Venedig dennoch wieder überproportional zu besichtigen: Nostalgieselige und ausstattungsschwelgerische Biopics, die vordergründig Tiefgang herstellen ohne wirklich jemandem wehzutun oder einen neuen Blick auf Figur und Vergangenheit oder sogar Gegenwart herzustellen. Die Filme über Leonard Bernstein, Enzo Ferrari und Priscilla Presley ähneln einander tatsächlich erstaunlich. Sie handeln alle drei von der Frage, was von den Partnerinnen umjubelter Stars übrigbleibt, deren Gefährten nicht nur in ihrem Starsein und ihrem Leben als öffentliche Figuren sehr gefordert sind, sondern dazu nicht wirklich monogam unterwegs. Der wenig überraschende Schluss aller drei Filme lautet: Es bleibt echt wenig übrig. "Maestro" von und mit Bradley Cooper, tatsächlich ein Netflix-Produkt, behandelt die Homo- oder Bisexualität des Komponisten und Dirigenten so verschwiemelt, als hätten wir immer noch die 1960er. Im Drehbuch ist kein Platz dafür, dass seine Hauptfigur eine Beziehung zu ihren Liebesbedürfnissen entwickelt oder diese reflektiert. Das mag möglicherweise tatsächlich nicht stattgefunden haben in Bernsteins Leben.  Aber was ihn das kostet in Form von Depressionen, Lügen gegen seine Kinder und Drogengebrauch, wird im Film nur angedeutet statt ausgeleuchtet, obgleich es anderenfalls wirklich hätte interessant werden können. Bernsteins Frau, gespielt von Carey Mulligan, darf sich ebenfalls kaum behaupten, sodass die Frage offenbleibt, wofür der Film seinen ganzen Aufwand treibt, die Welt der 1960er und 1970er ästhetisch wiederzubeleben.

Filmstill aus Sofia Coppolas "Pricilla".



Bei "Ferrari" von Michael Mann mit Adam Driver in der Hauptrolle sieht es ähnlich aus. Ferraris Frau Laura wird zwar von Penelope Cruz als illusionslose, Geld und Gefühle kontrollierende Machtfigur gespielt aber letztlich läuft alles auf den Schluss heraus, dass das Leben mit einem großen Mann eben schwierig ist. Genauso wie das Leben von Priscilla Presley an der Seite von Elvis, das Sophia Coppola in "Priscilla" zeigt. Coppola versäumt die Chance, die Beziehung von Priscilla Presley, die von Elvis schon als 14-Jährige in den Goldenen Käfig seines Graceland-Anwesens in Memphis verschleppt wird, als Geschichte einer verpassten Emanzipation zu erzählen. Am Ende des Films immerhin verlässt Priscilla das Gefängnis ihrer Ehe. Aber die Figur von Elvis lässt Coppola weitgehend unangetastet. Sie und ihre Koproduzentin, die heute 78-jährige Priscilla Presley haben erkennbar keinen Denkmalsturz im Sinn und wollen das Verhältnis des Teenies und des Stars auch nicht als die Tragödie erzählen, die sie von außen betrachtet wohl war.

In schroffem Kontrast zu den braven Biopics zeigte Venedig dieses Jahr eine ganze Reihe formal gewagter und ästhetisch komplexer Filme. Nicht alle absolute Meisterwerke. Aber es könnte ein wohltuender Effekt der Streaming- und Streikflaute sein, dass auch derlei wieder mehr in den Blick rückt. Allen voran Giorgos Lanthimos' furiose Frankensteinfarce "Poor Things" mit Emma Stone in der Hauptrolle, die schon zu Beginn des Festivals zum einsamen Favoriten der Kritiker am Lido für den Goldenen Löwen wurde. Bertrand Bonello schickt in "La Bête" die fesselnde Léa Seydoux auf eine Reise durch anderthalb Jahrhunderte bis in eine Dystopie des Jahres 2044. Gefühlsaufwallungen der Menschen haben die Erde, so deutet es der Film an, kurzzeitig in einen trumpistischen Weltbürgerkrieg geführt, so dass man zu der Praxis übergangen ist, alle Menschen, die Entscheidungen treffen, zu "purifizieren", also ihrer Gefühle zu bereinigen. Es ist ein ästhetisches Experiment, das den Zustand der Welt nicht ausblendet.

Ebensowenig wie das Experiment von Timm Krögers deutschem Venedig-Beitrag "Die Theorie von allem": Es wiederbelebt in schroffem Schwarzweiß und mit dramatischer Musik das Kino der 1940er, 1950er, 1960er Jahre. Gleichzeitig erzählt Kröger eine Geschichte, in dem sich subjektive Wirklichkeit und vermeintlich wirkliche Welt immer mehr Verwirren, sodass auch das als Kommentar zur allgemeinen postfaktischen Beliebigkeit gelesen werden kann. Festivalstar Wes Anderson präsentiert "The Wonderful Story of Henry Sugar" als kurze Fingerübung einer Roald-Dahl-Verfilmung, andererseits aber auch als routinierte Verschachtelung der Erzählebenen. Interessant auch Luc Bessons Thriller "Dogman", der mit phantastischen Elementen durchsetzt, die Geschichte eines von den Menschen ausgestoßenen Mannes erzählt, der in einem Rudel Hunde seine "Familie" findet. Hauptdarsteller Caleb Landry Jones hätte für diese Rolle einen Darsteller-Löwen verdient.

Szene aus Luc Bessons "Dogman". Foto: Filmfestival Venedig


Bessons Präsenz am Lido löste trotzdem Widerspruch aus. Zusammen mit Woody Allen und Roman Polanski bildete er ein irritierendes Trio aus drei Altstars, denen heute sexueller Machtmissbrauch vorgeworfen wird. Dass das Festival es sich nicht entgehen lassen wollte, die womöglich letzten Filme von Polanski und Allen zu zeigen, der eine unwürdig, der andere übermäßig harmlos, ist auch jenseits der persönlichen Vorwürfe fragwürdig.´

Sehen wir also ein Kino, das sich nicht mehr um die Welt von heute kümmert? Insbesondere Agnieszka Hollands eigener Film ist eine machtvolle Demonstration des Gegenteils. Die Regisseurin erzählt die Flüchtlingsdramen an Polens Grenze politisch hellwach, erzählerisch messerscharf und dokumentarisch genau. Sie nimmt in scharfem Schwarzweiß gefilmt nacheinander die Perspektiven einer Flüchtlingsfamilie, eines Grenzsoldaten, einer Helferin und einer Anwohnerin ein. Sie zeigt die brutalen "Pushbacks" durch die polnische Grenzpolizei. Der fortgesetzten Verletzung von Flüchtlingskonvention, EU-Recht und Humanität gibt sie Gesichter. Und sie vergisst auch nicht, die Vorgänge in den Kontext des Ukrainekriegs zu stellen und der großen Aufnahmebereitschaft in Polen für die Flüchtlinge, die über jene Grenze kommen. Der Krieg in der Ukraine, sagt Holland, sei das entscheidende Geschehnis, es müsse überall vorkommen.

Auf dem Festival in Venedig (wo im vergangenen Jahr noch Wolodomir Selenski eine Video-Eröffnungsrede gehalten hatte) aber ist dieser Krieg, außer in Hollands Film, völlig abwesend. Wenn Kino politisch sein soll, dann so wie der Film von Agnieszka Holland. "Grüne Grenze" hätte den Goldenen Löwen verdient. Das andere Flüchtlingsdrama im Wettbewerb, Matteo Garrones Erzählung eines senegalesischen Jungen, der sich durch Mali, die Sahara und die Folterknäste und Sklavenmärkte Libyens über das Mittelmeer nach Italien durchschlägt, fällt unter dem Titel "Io Capitano", dagegen ab.

Was soll ein Filmfest? Streik und Streamingflaute stellen das bisherige Venedig-Geschäftsmodell infrage, zudem droht die in Teilen neofaschistische Regierung in Rom die Leitung der Venedig-Biennale insgesamt (die auch für Kunst- Architektur- und weitere Schauen zuständig ist) auszutauschen und politisch an die Kandare zu nehmen. Alle großen Kinofestivals müssen sich derzeit behaupten. Dass das nicht nur eine allgemeinpolitische Feststellung ist, wurde klar, als mitten in das Venedigfestival die Nachricht platzte, dass die Berliner Kulturstaatsministerin Claudia Roth Carlo Chatrian herauskomplimentiert, den künstlerischen Leiter der Berlinale. Und dass dieses abrupt hergestellte Führungsvakuum ein gutes halbes Jahr vor dem Festivalstart auf eine Situation trifft, in der ein Gros vom bisherigen Budget infrage steht und die politisch Verantwortlichen keine Antwort auf die Frage geben, was die Berlinale in der Zeit der Krise überhaupt noch leisten können soll. Es ist eine Zeit, in der diese Festivals sich neu behaupten müssen. Als erstes steht nun die Jury in Venedig vor dieser Aufgabe. Danach aber ist bereits Berlin dran.

Lutz Meier