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In den Falten der Zeit

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
16.08.2018. Zwei Qualitäten bestechen an der Arbeit Vanessa Winships: ihr poetischer Zugang zum Dokumentarischen, der bewirkt, dass eine Gruppe von Menschen, die mit leeren Eimern um Wasser anstehen, aussieht wie ein Caravaggio, und ihre Fähigkeit, am Rand des Ewiggleichen das Unverwechselbare aufzuspüren, das aus dem Vertreter einer Spezies ein Individuum macht. Zur Retrospektive der Fotografin im Londoner Barbican Centre.
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Vanessa Winship war 2011 die erste Frau, die den Henri Cartier-Bresson-Preis bekam. Wer die aktuelle Ausstellung "As Time Folds" im Londoner Barbican Center besucht und den gleichnamigen, bei Mack (London) erschienenen Katalog durchblättert, wird feststellen, dass es kaum jemand gibt, der gerade diese Auszeichnung mehr verdient als sie.

Winship wuchs in einem Niemandsort an der englischen Ostküste auf - eine karge Landschaft, die vor dem Bau einer Brücke vom Fluss geprägt war, der sie durchschnitt: Gezeiten, Nebel, Schlamm, Trockenperioden, Seevögel und die Fähre, mit der man in die Stadt gelangen konnte, deren Lichter Winship nachts vom Fenster ihres Zimmer aus sehen konnte. 2010 hat Winship die Serie "Humber" über diese atmosphärische Wurzel ihres Schaffens gemacht - und wer es vorher nur ahnte, wusste dann, dass die Tektonik der Melancholie, der aufblühenden und vergehenden Hoffnung, des Aufbrechens an einen entgegenkommenderen Ort und die Epiphanien des Unscheinbaren nichts waren, mit dem sie im Zuge ihrer jahrelangen Reisen im Südosten Europas konfrontiert wurde. Vielmehr trug sie als es prägende Erinnerung in sich und in die Welt hinaus, wo sie es wiederfand und umfassender zu deuten und festzuhalten lernte.

Mitte der achtziger Jahre ging Winship nach London, wo sie einen Abschluss in Video, Film und Fotografie machte und ihren Lebensmenschen George Georgiou kennen lernte, der - selbst Fotograf - ihr Begleiter auf sämtlichen Reisen sowie wichtigster Kritiker und Verbündeter wurde. Obwohl sie in den neunziger Jahren an einer experimentellen und theoretischen Aufbruchphase der Fotografie im Dialog mit anderen Medien und Disziplinen teil hatte, beschritt Winship den klassischen Weg des britischen 35mm-Fotojournalismus in Schwarz und Weiß - vielleicht, weil dem Mädchen vom Land der zurückhaltende, zeugnishafte Ansatz vom Temperament her entsprach, vielleicht, weil es ihr die Möglichkeit bot, sich ein Arsenal an fremden Geschichten und Situationen anzueignen, aus denen heraus sich irgendwann ihr ureigener Ansatz destillieren ließ. Winships ungeheure Sensibilität für Situationen und deren teils widerstrebenden, teils einander zuarbeitenden Aspekte des Historischen und Natürlichen, Individuellen und Kollektiven werden früh sichtbar und bescheren ihr 1998 einen World Press Photo Award.
















Anstatt in dieser Richtung weiter zu arbeiten, bricht sie gemeinsam mit Georgiou ihre Zelte in London ab und zu einer zehn Jahre langen Reise im Südosten Europas und der Türkei auf, in deren Folge sie eine Zeitlang in Belgrad, Athen und Istanbul wohnt. Eine erste Frucht dieser Aufbruchsbewegung ist die Serie "Imagined States and Desires - A Balkan Journey" (1999-2003). Gerade tobt der Kosovo-Krieg, der auch eine Wiederbelebung alter Konflikte und Mythen mit sich bringt, die sich sowohl der Landschaft als auch den Gesichtern der Menschen eingebrannt haben, urzeitlich, zkylisch, schicksalhaft. "Ich gehe hinaus in die Bibel", schreibt Cees Nooteboom nach einem Besuch Israels, wo er auf "Fossilien aus Sprache, Fossilien aus Gesten" trifft. Wie Ismael Kadare - eine große Inspirationsquelle für Winship - entdeckt er nicht nur geronnenes Leben im Versteinerten, sondern betrachtet Lebendiges, als ob es längst vergangen wäre. Abseits der sicht- und spürbaren Begleiterscheinungen der gewaltsamen Auseinandersetzungen treten zwei Qualitäten von Winships Arbeit zutage: ihr poetischer Zugang zum dokumentarischen Narrativ, der bewirkt, dass eine Gruppe von Menschen, die mit leeren Eimern um Wasser anstehen, aussieht wie auf einem Bild von Caravaggio; sowie ihre Fähigkeit, am Rand des Ewiggleichen das Unverwechselbare aufzuspüren, das aus dem Vertreter einer Spezies ein Individuum macht.

In ihrem Fotobuch "Black Sea - Between Chronicle and Fiction (2002-2006)" ist diese Verschränkung bereits Teil des Titels. Außerdem wird eine Hinwendung weg von einem dokumentarischen zu einem konzeptuellen Zugang sichtbar, der die Landschaft und das Portrait stärker in den Mittelpunkt stellt. Winship begründet das unter anderem damit, dass ihr die Rolle als distanzierte Beobachterin unbefriedigend erschien, sie stärker mit den Menschen in Interaktion treten wollte.

Ergebnis dieses Prozesses (der auch zu einem Wechsel der Kamera und der Größe des Bildausschnitts führte) war 2007 das Buch "Sweet Nothings", eine der zartesten und berührendsten Porträtsammlungen, die es überhaupt gibt. Im Zuge einer staatlichen Kampagne, die den Schulbesuch von türkischen Mädchen fördern sollte, fotografierte Winship im konservativen Ostanatolien, in dem man diesen Plänen nicht gerade wohlwollend gegenüberstand, junge Mädchen in ihren blauen Schulkleidchen, auf denen von Verwandten Applikationen genäht waren - Herzen, Blumen, Spitzenmuster -, die der Konformität des Kleidungsstücks ebenso Individualität verleihen wie die Haltungen und Mienen der Mädchen, denen Winship eine in dieser Form wohl einzigartige Möglichkeit bot, sich zu zeigen und wahrgenommen zu werden. "Sweet Nothings" sind in Regionen wie diesen nicht nur die Stickereien auf Schuluniformen, sondern nicht zuletzt die Möglichkeiten von Frauen, ihr Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Die Fotos erinnern teilweise an August Sanders "Menschen des neunzehnten Jahrhunderts", so ungeschult und unbefangen stellen sich die Mädchen vor die Kamera.

In ihrem nächsten Projekt "Georgia - Seeds carried by the Wind" (2008-2010) vereint Winship erstmals all ihre Qualitäten und gesammelten Erfahrungen und erweitert ihr Gebiet noch einmal um das Element flüchtiger oder verfestigter Spuren - Äste, Denkmäler, Kritzeleien auf einer Schultafel, Bilder Verstorbener auf Gräbern -, was in weiterer Folge zum Fotobuch "She dances on Jackson" (2011-2012) führt, das von vielen KritikerInnen als Höhepunkt ihres Schaffens angesehen wird. Obwohl ich qualitativ keinen Unterschied zu "Georgia" erkennen kann, dürften es vor allem zwei Aspekte sein, die viele "She dances on Jackson" noch mal als Steigerung empfinden lassen. Das eine ist die Fallhöhe: Winship bewegt sich auf einem geradezu verminten, da kollektives Gedächtnis gewordenes Terrain, das zuvor bereits von Walker Evans, Robert Adams oder Joel Sternfeld fotografisch vermessen wurde, die - allen voran Evans - auch zum festen Bestandteil von Winships Kanon gehören.
























Zweitens trifft sie auf ihrer Reise durch die an den ökonomischen Rand und unter die öffentliche Wahrnehmungsschwelle gerückten Gebiete in den USA auf Menschen, die nichtsdestotrotz medial bestens gerüstet und im Umgang mit dem Fotografieren und Fotografiertwerden alles andere als naiv sind. Winship meistert beides - auch, weil sie sich in Situationen begeben und Menschen in einer Weise gegenübertreten kann, dass diese sich nicht nur ihr gegenüber, sondern auch dafür öffnen, selbst keine Pose einzunehmen oder ein vorteilhaftes Bild von sich vermitteln zu müssen. Vor allem ihre gleichermaßen von Hoffnung und Stolz wie von Unsicherheit und Zweifel durchdrungenen Bilder Heranwachsender an der Schwelle zur Eigenverantwortung des Erwachsendaseins erteilen darüber in einer eindringlich flüsternden Weise Auskunft.

Weil sie mit ihrem Ansatz an ein vorübergehend befriedigendes Ende gekommen ist oder aber einfach die Lust verspürt hat, sich noch mal neu zu erfinden: 2014 wendet sich Winship der Farbfotografie mit dem Smartphone zu (ohne die Arbeit mit der Kamera jedoch ganz aufzugeben). Beides scheinen ihr die angemessenen Mittel zu sein, um das zu fotografieren, was sich gerade im Brennpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Enkelin befindet und kurz darauf wieder verschwindet, um vielleicht irgendwann in verwandelter Form wieder aufzutauchen, Teil eines im Grunde unabschließbaren, die eigene Identität formenden inneren Archivs von Bildern und den möglichen Verbindungen zwischen ihnen, an dem Vanessa Winship ebenso entschlossenen arbeitet wie ihre Enkelin.

Peter Truschner




Vanessa Winship, As Time Folds. 256 Seiten, 23 x 24 cm, Paperback. MACK (London), London 2018, 40 Euro. ISBN: 978-1-912339-09-9