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Riss des gesellschaftlichen Gefüges

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
27.11.2018. Die großartige Michael-Wolf-Ausstellung im  Hamburger Haus der Photographie ist nur durch Zufall zustande gekommen. Eigentlich sollte dort eine Bruce-Weber-Ausstellung stattfinden, die wegen #MeToo-Vorwürfen gegen den Fotografen abgesagt wurde. In künstlerischer Hinsicht war nicht die Ab-, sondern schon die Ansetzung der Weber-Ausstellung ein Problem.
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Michael Wolf, Einzelbild der Wandinstallation The Real Toy Story, China, 2004. Digital C-print mounted on forex. Approx. 125 x 100 cm. © Michael Wolf 2018.


Bis zum 3. März 2019 zeigt das Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg die Retrospektive "Life in Cities" des in Hongkong lebenden deutschen Fotografen Michael Wolf, die zuvor schon in Arles und Den Haag zu sehen war. Um es kurz zu machen: Die Ausstellung ist einfach großartig und schlicht ein Muss für alle FreundInnen der Fotografie. (Ich habe im Fotolot bereits letztes Jahr ausführlich über die Ausstellung und den zeitgleich bei Peperoni Books erschienenen, üppigen Prachtband "Works" geschrieben. Dazu ein kurzes Interview von mir mit Wolf für die Tageszeitung Der Standard.)

Für nicht wenige BesucherInnen wird es vielleicht die erste, intensivere Begegnung mit Wolf sein, den man zu den bedeutendsten Fotografen der letzten zwanzig Jahre zählen muss, obwohl er vom deutschen Kunstbetrieb - im Gegensatz zu den vorbehaltlos gepushten Andreas Gursky, Candida Höfer oder Thomas Struth - geradezu ausgegrenzt wurde. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass er lange hauptberuflich als Fotojournalist für den Stern tätig war, und gleichzeitig auch keinen Kontakt zur in den achtziger und neunziger Jahren alles beherrschenden Düsseldorfer Schule für Fotografie hatte, deren VertreterInnen zum Beispiel Industriebrachen und Bibliotheken abfotografierten und dafür abgefeiert wurden, als handelte sich dabei um Werke im Range von Bruegels "Turmbau zu Babel" oder Cezannes "Mont Sainte-Victoire".

Während man also die Retrospektive als späten Triumph und Genugtuung für Michael Wolf beschreiben kann, ist sie für das Hamburger Haus der Photographie hingegen kein Ruhmesblatt - was schon damit anfängt, dass die Wolf-Ausstellung lediglich eine Verlegenheitslösung ist.

Von Oktober 2018 bis  Februar 2019 wollte das Haus in den Deichtorhallen eine Ausstellung mit dreihundert Fotografien und Kurzfilmen von Bruce Weber zeigen. Als zu Beginn dieses Jahres über ein Dutzend Models berichteten, Weber habe sie zu unfreiwilligen Berührungen gedrängt und ihnen ans Genital gegriffen, ist die Ausstellung trotz zweijähriger Vorbereitungszeit kurzer Hand abgesagt worden.
"Man kann doch keine Ausstellung machen, wo man dann gar nicht mehr über die Kunst redet, sondern nur noch darüber, was in den Köpfen drin ist", lautete die Erklärung des Kurators Ingo Taubhorn.

Fragen stellen sich jedoch nicht erst mit der Absage, sondern schon mit der Ansetzung der Ausstellung: Was hat Taubhorn überhaupt bewogen, die Weber-Ausstellung zu konzipieren - außer, dass sich die schicke Gesellschaft Hamburgs damit pudelwohl gefühlt hätte? Webers Fotos haben meist nicht mehr zu bieten als ein immer wieder in einen dekadenten Manierismus abgleitendes, stilvolles Zurschaustellen schöner Körper und prominenter Gesichter - schließlich ist Weber ein Paradebeispiel für einen glamourbewussten Promi-Knipser aus der milliardenschweren Beauty-Industrie (dem man aber einen atmosphärisch dichten Dokumentarfilm über Chet Baker zugute halten kann).

Wäre es wie geplant zur Weber-Ausstellung gekommen, hätten die Deichtorhallen gemeinsam mit dem Bucerius-Forum ein "Festival der Oberflächlichkeit" abfackeln können, da es im Forum zeitgleich Anton Corbijn zu sehen gibt - ein weiterer, glamourbewusster Promi-Knipser ("U2 & I"), von dem unter anderem ein bemerkenswert eitles Fotobuch mit Film-Stills aus seinem affektierten Hochglanzthriller "The American" mit George Clooney stammt.

Die Absage der Ausstellung erstickt jede Diskussion im Keim, wie sie etwa in der Fondation Beyeler um die Balthus -Ausstellung in Riehen bei Basel nicht nur in Kauf genommen wird, sondern mutig gewollt ist. In Hamburg wird dagegen unter den Teppich gekehrt, was ans Licht gehört, und es wird da geschwiegen, wo man sprechen und debattieren sollte.

Es könnte sein, dass diese Ausführungen dem einen oder der anderen etwas harsch vorkommen. Aber erstens gibt es aus künstlerischer Hinsicht schlicht keinen Grund, im Kontext von Körper, Nacktheit und Sexualität eine aufwändige Retrospektive von Bruce Weber zu betreiben, so lange es in Deutschland noch keine Retrospektive von Antoine D'Agata gegeben hat. Zweitens - und ungleich wichtiger - haben Beauty-Konzerne wie Louis Vuitton, Cartier, Prada oder Esteé Lauder die Kunst längst als Investment entdeckt. Immer mehr KuratorInnen arbeiten nebenberuflich für die privaten Sammlungen dieser Konzerne, so dass es niemand wundern darf, dass öffentliche Institutionen deren Werke mit Ausstellungen nobilitieren und dadurch im Wert steigern. Zudem drängen immer mehr FotografInnen aus diesem Bereich auch in die freie Szene und greifen dort, da bestens vernetzt, Ressourcen ab. Ein Trend, dem man eher etwas entgegensetzen sollte, anstatt ihn zu verstärken. Statt einer Weber-Retrospektive bräuchte es in Ausstellungshäusern eher eine kritische Reflexion der Mode- und Glamourfotografie.
Wie auch immer: Die Bilder von Michael Wolf widersetzen sich der um sich greifenden Glamourästhetik. Die Serie "Tokyo Compression" etwa macht die Zumutungen spürbar, die vierzig Millionen Passagiere in Tokio täglich in der U-Bahn zu erdulden haben. Zusammengepfercht wie Tiere in einem Viehwaggon, nicht mehr als eine im Namen des Geschäfts von A nach B beförderte Ressource, drängen sie sich aneinander. Wolf fotografiert ihre wächsernen Gesichter, die im Gedränge gegen die Innenseiten der Fensterscheiben gepresst werden, an denen sich Kondenswasser, Schweiß und Speichel abschlagen, so dass die Gesichter dahinter verschwimmen und an Porträts von Francis Bacon erinnern. Privatsphäre und öffentlicher Raum - in Japan sonst strikt voneinander getrennt - werden unter dem Druck des Gelderwerbs für kurze Zeit eins. In diesen zugleich lethargischen und ekstatischen Riss des gesellschaftlichen Gefüges dringt Wolf mit seiner Kamera vor und zeigt die Menschen in ihrer existenziellen Nacktheit und Verwundbarkeit.
Ein Glück fürs Publikum, dass ein günstiges Schicksal diese Ausstellung unverhofft nach Hamburg gebracht hat.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de
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