Fotolot

Stilleben des Reichtums

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
13.11.2021. Farah Al Qasimi zeigt, wie man Falken mit Hightech abrichtet. Vasantha Yogananthan geht den Spuren des Prinzen Rama nach. Antoine D'Agata verfällt dem Crystal Meth in Mexiko. Susan Meiselas besucht Stripperinnen: Ein Streifzug über die Paris Photo und andere Ausstellungen vom heimischen Sofa aus.
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Am 11. bis 14. findet im Grand Palais wieder die Paris Photo statt, nachdem sie im letzten Jahr wegen Corona ausfallen musste. Die Franzosen waren von Beginn an wild entschlossen, das durchzuziehen. Die Veranstalter der Paris Photo haben wirklich alles getan, um ein abwechslungsreiches Programm zu gewährleisten, bei dem es einiges zu sehen und zu erleben gibt, erst recht angesichts einer vierten Welle, die Teilen Europas droht und die Deutschland und Österreich offensichtlich schon erfasst hat.

Wie auch immer: Ich wäre diesmal so oder so nicht nach Paris gefahren, da ich in Wien im eigenen Atelier gefordert bin (die werten LeserInnen dürfen nicht vergessen, dass ich eigentlich Künstler bin und das Fotolot mal mehr, mal weniger lässig aus der Hüfte manage). Insofern ich jetzt auch noch eine Erkältung habe und das Bett hüte, hat sich das Thema ohnehin von selbst erledigt.

Ein Höhepunkt der Paris Photo ist immer die Verleihung des Aperture Awards für das "Fotobuch des Jahres".

Auf der Shortlist gibt es ein visuell bemerkenswertes Buch: "Hello Future" von Farah Al Qasimi. Qasimi ist eine Art interkulturelles It-Girl. Tochter reicher Eltern aus Dubai, gut aussehend, hat sie in Yale studiert und unterrichtet inzwischen am Bard College in New York. Zwischendurch jettet sie immer wieder mal auf die arabische Halbinsel und hat von dort Fotos vom Leben der Wohlhabenden mitgebracht. Da es in diesen Gesellschaften um die stolz zur Schau getragene Sichtbarkeit des Reichtums geht, bietet sich dem fotografischen Auge ein Schlaraffenland. Und Quasimi hat - ohne dabei zu übertreiben - einen Blick für die Situation und das zufällige Aufeinandertreffen teils skurriler Elemente, die ein perfektes Stillleben ergeben. Höhepunkt sind für mich dabei die Aufnahmen von der High Tech-unterstützten Aufzucht und  Pflege von Jagdfalken. Unbedingt durchblättern, macht Spaß.

© Farah Al Quasimi

Jessica Backhaus' schönes Buch bei Kehrer, auf das ich hier schon hingewiesen habe, befindet sich auch auf der Liste, wobei ich jedoch glaube, dass die Arbeiten an der Wand noch besser aufgehoben sind.

Rahim Fortunes "I can't stand to see you cry" ist eine gefühlvolle Erzählung über den nahenden Verlust des Vaters, den ein Bruder mit seiner Schwester aus nächster Nähe miterlebt. Leider Gottes tendieren die Fotos wie bei so einigen Büchern des Verlags Loose Joints zur Sentimentalität, weshalb das Buch künstlerisch definitiv nicht die Klasse etwa von Vanessa Winships "She dances on Jackson" erreicht.

Ausschließlich (kultur-)politische Motive können für die Nominierung von "Electronic Landscapes: Music, Space and Resistance in Detroit" von Isaac Diggs und Edward Hillel verantwortlich sein, denn die Fotos der Detroiter Techno-, House- und Hip Hop-Szene sind dermaßen öd, dass ich das Buch regelrecht als kontraproduktiv für das vorgebrachte Anliegen empfinde.

Im Grunde außer Konkurrenz läuft für mich Vasantha Yogananthans "Amma". Von 2013 bis 2021 ist er den Weg des Prinzen Rama im Ramayama, dem zweiten indischen Nationalepos neben dem Mahabarata, von Nepal über Indien bis nach Sri Lanka nachgegangen, wo der durch eine Intrige in Ungnade gefallene und verstoßene Rama um seine Liebe Sita kämpft, die vom Dämon Ravana gefangen gehalten wird. Ein interessantes Detail: Sitas Vater überlässt nur demjenigen seine Tochter, der den Bogen spannen kann, den der Gott Shiva der Familie geschenkt hat - Ähnlichkeiten zur Artus-Sage und der Odyssee sind unübersehbar.

Yogananthan hat einzelne Teile schon in der legendären Photographer's Gallery in London und in der Pariser Galerie Polka gezeigt. Es wäre sehr interessant, einmal alle Teile zusammen zu sehen. Obwohl ich selbst expressivere Ansätze wie von Sohrab Hura bevorzuge, ist das Projekt eine veritable Leistung, eine fotografische Archäologie, die zu einer sinnlichen, lebendigen Form des Archivs gerinnt.

© Vasantha Yogananthan, The Photographer' s Gallery

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Yogananthan ist kein gebürtiger Inder, er ist als Sohn wohlhabender indischer Eltern in Frankreich geboren und hat beste Schulen besucht. In seiner Biografie finden sich früh Namen wie Fondation Hermés, Fondation Cartier-Bresson, FOAM, Stipendium des ICP und so weiter. Nicht, dass mich das stört - aber es verdeutlicht nach Al Quasimi einmal mehr die immer stärkere Präsenz von internationalen Rich Kids, unter KünstlerInnen geradeso wie unter KuratorInnen. Nach der Bildenden Kunst wird auch die Fotografie immer mehr zu einer Veranstaltung von Wohlhabenden für Wohlhabende.

Wer gerade in Paris ist, sollte sich auf keinen Fall Antoine D'Agatas Ausstellung "Codex Mexico: 1986-2021" in der Galerie Les Filles du Calvaire entgehen lassen.
In ausgewählten Photos zeichnet sie D'Agatas heftige Beziehung zu Mexiko nach. Das Leben in einer ursprünglich kommunenartigen Gemeinschaft ist radikal zu Ende, als D'Agata Crystal Meth probiert und ihm verfällt. Was als verspätete Hippie-Fantasie begann, wird zu einem Exzess des Drogenkonsums und der Drogenbeschaffung und den unterschiedlichen Formen von Gewalt, die das unvermeidlich mit sich bringt und denen sich D'Agata aussetzt.

Anders aber als der Konsul in Malcolm Lowrys genialer, mexikanischer Säuferorgie "Unter dem Vulkan" (hier ein Doku-Juwel der BBC, in dem der unvergleichliche Richard Burton aus "Unter dem Vulkan" liest) geht D'Agata nicht daran zugrunde (auch nicht später bei ähnlichen Exzessen in Kambodscha) - der Künstler in ihm ist stärker, rettet ihn und sorgt immer wieder für die lebensnotwendige Distanz, deren Resultat nicht zuletzt die Fotos der Ausstellung sind.

© Antoine D'Agata, Magnum Photos

Nach der Ausstellung in der Fondation Brownstone habe ich im Fotolot D'Agatas Fotoserie "Virus" als das bedeutendste Projekt sowohl der Corona-Zeit als auch über die Corona-Zeit beschrieben. Die monumentale Arbeit war seither nicht nur in Frankreich, sondern trotz Corona auch in Mexiko, Georgien, Spanien, Italien, Griechenland, Südkorea, Ukraine  und China zu sehen. Unnötig zu erwähnen, dass dieses Ereignis am verschnarchten deutschen und österreichischen Betrieb wieder mal spurlos vorüber ging.

D'Agatas schonungsloseste und kontroverseste Arbeiten entstammen dem Prostituierten-Milieu, teils mit sich selbst als handelnder Akteur darin. Auch auf der Aperture Short List befindet sich ein Buch, das sich mit der Thematik beschäftigt: "Agata" von Bieke Depoorter. Depoorter hat die Sexarbeiterin Agata 2017 in einem Pariser Strip Club kennen gelernt und sich drei Jahre mit ihr und ihrer Arbeit auseinandergesetzt. Wie das heute üblich ist, versichert der Text, dass es sich um eine "Zusammenarbeit" handelt, bei der sich nicht sagen lässt "wer die wahre Autorin dieser Fotos" ist, ja, noch nicht mal, "wer Agata ist und wer Bieke" und "warum überhaupt diese Fotos gemacht werden". Auf dem Cover gibt es gleich die Selbstbezichtigung, die in diesem mehr oder weniger woken Milieu ebenso obligat ist wie die Weißbier-Dusche bei der Meisterfeier des FC Bayern München: "Liebe Agata, ich möchte unser Projekt beenden. Zumindest bis auf weiteres. Es geht mir zu nahe. Ich fühle mich schuldig." Die Farbfotos - mal in nächtliche Farben getaucht, mal schmuddelige Innenräume ausleuchtend - sind definitiv nicht schlecht, allerdings hat es sie in dieser oder ähnlicher Art gerade in Bezug auf das beschriebene Milieu schon des Öfteren gegeben.

Von ganz anderer, nämlich herausragender Qualität sind die Fotos, die Susan Meiselas von Stripperinnen in den siebziger Jahren in Kleinstädten an der amerikanischen Ostküste gemacht hat. Meiselas geht dabei weiter als Garry Winogrand, der über Jahre in den Striplokalen von Los Angeles fotografiert und sich meist auf die Sichtbarmachung des objektifizierenden Blicks von Männern konzentriert hat, wie sie auf eine in Augenhöhe einen halben Meter entfernte Vulva starren. Meiselas zeigt das auch, aber sie geht auch hinter die Kulissen und damit auf die Frauen zu, die damit an Kontur und Persönlichkeit gewinnen und zu hart arbeitenden Sex-Arbeiterinnen werden, die aufgrund welcher persönlichen Hintergründe auch immer in dieser Phase ihres Lebens keine bessere Möglichkeit sehen, als auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Arbeit, die  - wenn man die Mienen der Frauen bei einer Kaffeepause oder im Umkleideraum sieht - vor allem von Stumpfsinn und unglaublicher Langeweile geprägt ist, die nicht zuletzt aus der totalen Unterforderung, ja Ausblendung aller intelligiblen und emotionalen Kräfte besteht.

© Susan Meiselas, Magnum Photos

Im Kunsthaus Wien gibt es noch bis 13. Februar eine Retrospektive von Meiselas Werk, in der auch die wunderbare Serie "Prince Street Girls" zu sehen ist, in der sie über siebzehn Jahre lang den Lebensweg junger Mädchen verfolgte, die sie in NYC auf der Straße kennen gelernt hat. Die Aufnahmen von der sandinistischen Revolution 1979 in Nicaragua dürfen natürlich nicht fehlen, einen interessanten, kleinen Schwerpunkt bildet dabei die (Rezeptions-)Geschichte des unter dem Titel "Molotov Man" weltberühmt gewordenen Fotos jenes Augenblicks, in dem Pablo "Bareta" Arauz sich anschickt, einen Molotow Cocktail in einer Pepsi-Flasche in Richtung der feindlichen Linien zu werfen. Thierry Chervel hat hier im Fotolot vor längerer Zeit einen schönen Beitrag zu Meiselas veröffentlicht.

Obwohl Meiselas künstlerische Ambition ab den neunziger Jahren leider allmählich hinter ihrem sozialen Engagement als Fotografin verschwindet, ist die Ausstellung vor allem in der Breite, in der das beeindruckende Frühwerk dargestellt wird, schlicht ein Muss für Freunde und Freundinnen der Fotografie.

WICHTIGE ERGÄNZUNG: Eine Advokatin der Photo Basel, L. Hug, begehrte, dass ich meine ursprüngliche Formulierung vom "Reinfall" und vom möglichen "finanziellen Desaster" der Photo Basel am Anfang des Beitrags entferne.
Das habe ich hiermit gerne gemacht - und zwar, weil L. Hug mit ihrer Frage "Ein finanzielles Desaster für wen?" völlig recht hat. Dass mir der eine oder die andere AusstellerIn im Vertrauen gesagt hat, dass die Photo Basel dieses Jahr für sie ein Minusgeschäft war, bedeutet natürlich nicht, dass die Photo Basel per se ein Minusgeschäft war. Nicht für das Team der Photo Basel um Sven Eisenhut, Sonia Voss und Pauline Guex. Und schon gar nicht für wichtige Partner wie Samsung oder Jaguar.
Mich auf diesen wichtigen, wenn nicht systemrelevanten Unterschied aufmerksam gemacht zu haben, dafür danke ich L. Hug.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de
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