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Vom Paradies ausgeschlossen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
30.11.2021. Florian Bachmeier fotografiert seit 2013 die Ukraine. Die Stimmungen im Buch erinnern an die "Zone" in Andrej Tarkowskis Klassiker "Stalker". Bei Bachmeier sind selbst Fotos, auf denen Menschen jubeln oder singen, eingebettet in eine große Stille. Das Fotobuch "Strajk" dokumentiert die polnischen Proteste gegen die mörderische Abtreibungspolitik des Landes.
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Immer wieder nehme ich Beschwerden entgegen, die darauf hinauslaufen, dass es die klassische Dokumentarfotografie nicht ganz leicht bei mir hat. Wenn ich mir den Verlauf, den das Fotolot seit 2017 genommen hat, so ansehe, ist offensichtlich, dass der Anteil an dokumentarischer Fotografie, die anfangs dominierte, mit der Zeit abgenommen hat.

Das hat unterschiedliche Gründe. Einerseits gibt es mir einfach zu viel davon, nicht zuletzt in Deutschland, wo selbst künstlerisch begabte FotografInnen der ehemaligen DDR wie Helga Paris oder Ulrich Wüst ebenso unzweifelhaft dem dokumentarischen Ansatz verhaftet sind wie in der BRD FotografInnen von Hilla Becher bis Peter Bialobrzeski (um nur willkürlich ein paar aus der Fülle von in Frage kommenden Namen zu nennen).

Ein anderer Grund ist sicher, dass ich künstlerisch von der Literatur und der Malerei geprägt wurde und mich einer Ästhetik verpflichtet fühle, die mehr mit Goya und Francis Bacon zu tun hat als mit August Sander und Walker Evans.

© Florian Bachmeier, Buchkunst Berlin

Da wird es also höchste Zeit, dass ich wie vor einem Jahr im Fotolot wieder einmal in die Welt der Dokumentarfotografie eintauche, noch dazu in eine, die sich an brisanten Fragen und politischen Krisen der unmittelbaren Gegenwart entzündet.

Im Zuge der aktuellen Flüchtlingskrise an der Grenze von Belarus zu Polen gerät auch ein Land in den Fokus, das immer wieder mal auftaucht, wenn es um Krisen in Osteuropa geht - um dann wieder im Strom der Ereignisse unterzugehen, beinah vergessen zu werden.

"In Limbo" nennt der Dokumentarfotograf Florian Bachmeier sein Buch über die Ukraine, die er zwischen 2013 und 2021 mehrfach bereist hat. 'Limbus' bezeichnet den äußersten Kreis der Hölle, in dem sich die Seelen befinden, die ohne eigenes Verschulden vom Paradies ausgeschlossen sind, darunter Kinder, die starben, bevor sie getauft wurden. Im Limbus bleibt ihnen nichts als die Hoffnung auf die Gnade Gottes, nicht viel anders als den Einwohnern der Ukraine, die seit je unter politischen Interessenkonflikten zu leiden hatten, die gewaltsam auf ihrem Rücken ausgetragen wurden.

Bachmeier reiste 2013 zu den Demonstrationen am Majdan in Kiew und fotografierte 2014 entlang der Frontlinien den Kampf von Separatisten gegen die ukrainischen Regierungstruppen, der schließlich zur Annexion der Krim durch Russland führte. Sein eigentliches Thema aber sind die wahren Leidtragenden - junge Leute ohne jede Perspektive und alte Menschen ohne jede soziale Absicherung. Zehntausend Menschen haben seit dem Ausbruch des Krieges ihr Leben, eine halbe Million hat ihre Heimat verloren, sie sind Flüchtlinge im eigenen Land. Gerade verstärkt Russland wieder seine militärische Präsenz an der ukrainischen Grenze zu Belarus, die NATO warnt vor einem Einmarsch in die Ukraine.

Die Stimmungen im Buch - die Farben, die Landschaft, die Blicke, Geringfügiges wie Schutt, zerbrochenes Glas, abbröckelnder Verputz an einer Wand - erinnern ein wenig an die "Zone" in Andrej Tarkowskis Klassiker "Stalker". Im Unterschied dazu aber fehlen die letztlich um existenzielle Fragen kreisenden Gespräche des Stalker mit dem Professor und dem Schriftsteller. Bei Bachmeier sind selbst Fotos, auf denen Menschen jubeln oder singen, eingebettet in eine große Stille, die für die Ausweglosigkeit einer Situation steht und irgendwann unweigerlich in die Depression mündet.

© Florian Bachmeier, Buchkunst Berlin

Ohne seine Leistung schmälern zu wollen: Fotos von der Art, wie Bachmeier sie gemacht hat, gab es in den letzten 25 Jahren schon so einige über und aus Osteuropa. Aber nur wenige davon hatten das Glück, ein derartiges Schaufenster zur Verfügung gestellt zu bekommen: "In Limbo" ist schlicht herausragend gestaltet. Das Team von Buchkunst Berlin hat es - indem Seiten wie ein Triptychon gestaltet werden und Fotos über die Seitenränder beim Umblättern auf die nächste Seite übergreifen - wie einen Film aus Standfotos konzipiert, als Zyklus, bei dem man an beliebiger Stelle beginnen und am Ende wieder von vorne anfangen kann.

Ein Muss für LiebhaberInnen der dokumentarischen Fotografie, großartig gemachter Fotobücher sowie für alle, die die Geschehnisse in Osteuropa interessiert verfolgen.




Florian Bachmeier: In Limbo. 180 Seiten, 22 x 28 cm, Softcover. Verlag Buchkunst Berlin, Berlin 2021, 40 Euro. ISBN: 978-3-9819805-4-7
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Eine der ersten Meldungen aus dem gerade von der künftigen deutschen Regierung geschlossenen Koalitionsvertrag betrifft den Paragrafen 219a, der es mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ahndet, wenn Menschen - meist Ärzte und Ärztinnen - "1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder 2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter in Hinweis auf diese Eignung anbieten, ankündigen, anpreisen oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt geben".

Dieser Paragraf wird ersatzlos gestrichen - die Freude darüber ist allseits groß und erhält ihre Bedeutung und Signalwirkung auch durch Geschehnisse in einem deutschen Nachbarstaat: Eine dreißig Jahre alte Frau musste Anfang November im polnischen Pszczyna sterben, weil ihr ein Schwangerschaftsabbruch verweigert worden war - und das, obwohl ihr Körper den nicht überlebensfähigen Fötus in einer natürlichen Reaktion abstoßen wollte. Das Ärzteteam wartete stattdessen auf den Tod des Fötus in der Gebärmutter. Als man daran ging, den Leichnam aus der Gebärmutter der jungen Frau zu schneiden, erlitt sie einen septischen Schock und verstarb. Sie hinterlässt einen Mann und eine Tochter.

Die Ärzte verweisen auf das radikale Abtreibungsverbot, das das polnische Verfassungsgericht vor rund einem Jahr verhängte. Auf Antrag einiger Abgeordneter der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) strichen die Richter unter anderem die medizinische Indikation eines nicht überlebensfähigen Fötus für einen Schwangerschaftsabbruch. Am selben Tag, an dem die junge Frau sterben musste, reichte eine katholische Gruppe fanatischer Pro-Life-Aktivisten einen Gesetzesentwurf im Parlament ein, der ein Totalverbot von Abtreibungen fordert, auch bei Todesgefahr für die Mutter. "Kindsmörder und -mörderinnen" sollen künftig lebenslänglich verurteilt werden können.

(Ich gestehe, mich beim Niederschreiben dieser ungeheuerlichen Vorgänge kurz Gewaltfantasien hingegeben zu haben.)

© Rafal Milach, Jednostka

Seit 2020 gibt es im Netz ein polnisches "Archiv öffentlicher Proteste" (APP) von den Demonstrationen nicht zuletzt gegen die Verschärfung des ohnehin strikten polnischen Abtreibungsgesetzes, aber auch zu Ergreifung von Maßnahmen gegen den Klimawandel und der Stärkung der Rechte des LGBTQI-Spektrums. Initiiert hat das Archiv der Magnum-Fotograf Rafal Milach, inzwischen gibt es 17 MitstreiterInnen, eine englischsprachige Website und eine lose erscheinende Zeitung mit einer Auflage von viertausend Exemplaren, die rasch vergriffen ist und Fotos enthält, die von manchen ausgeschnitten und gut sichtbar auf Wände im öffentlichen Raum geklebt werden.

In Zusammenarbeit mit der Warschauer Galerie Jednostka entstand nun das Buch "Strajk/Strike", das Milachs Fotografien von den Demonstrationen zeigt und unter anderem auf der diesjährigen "Paris Photo" präsentiert wurde. Herz des Buchs sind einerseits aus unmittelbarer Nähe aufgenommene, vermummte Gesichter von DemonstrantInnen, dabei überwiegend Frauen. Faszinierend, wie hinter den Masken und Mützen - darunter solche, wie sie Rennfahrer unter ihren Helmen tragen - die Individualität behauptet wird mit Make Up, Lidstrich, Piercings, Tattoos und natürlich mit zahllosen Variationen des Symbols der Bewegung: ein roter Blitz.

Eine Frau, die über ihrem Handrücken "good girl" tätowiert hat, reckt ihren Mittelfinger dem dunklen Nachthimmel entgegen und erteilt jeder vermeintlich nahe liegenden Assoziation zu ihrem Tattoo eine Absage.

Zugleich fotografiert Milach mit teils krasser Überbelichtung von der Straße aus die umgebenden Balkone und Fenster: Menschen sind zu sehen, die selbst Fotos mit dem Smartphone machen, manchmal gibt es Hinweise auf Sympathie mit den Demonstranten, manchmal sind die Gesichter undurchdringlich, sodass sich nicht sagen lässt, was in den Köpfen vor sich geht. Auf jeden Fall sind diese Aufnahmen eine Aufforderung an die Leute, ihre Rolle als Zuschauer hinter sich zu lassen und eindeutig Stellung zu beziehen.

© Rafal Milach, Jednostka

Das Buch hat mich an die Zeit erinnert, als ich selbst häufiger auf Demonstrationen zu finden war - etwa gegen Aufmärsche von rechts oder Bauvorhaben, die Naturschutzgebiete gefährdeten. Beides ist heute genauso aktuell wie damals, nicht anders als der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper und ihre Sexualität. Egal, für wie fortgeschritten man die eigene Gesellschaft auch hält: der weibliche Körper war immer auch ein politischer Kampfplatz und wird es bis auf absehbare Zeit auch bleiben.

"Strajk/Strike" ist keine Delikatesse der Buchgestaltung wie "In Limbo" - es ist eher ein Fotobuch gewordenes Stück Aktivismus, bei dem es sich gut anfühlt, es bei sich zu Hause zu wissen. Kaufen man es direkt über die Galerie und die gut sortierte Kunst- bzw Fotobuchhandlung. Unnötig zu erwähnen, dass der Erlös aus dem Verkauf ausschließlich der Arbeit des Archivs zugute kommt.



Rafal Milach: Strajk/Strike. 254 Seiten, 16,5 x 20, 5 cm, Softcover. Jednostka, Warschau 2021, 20 Euro. ISBN: 978-83-949273-4-9



Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de