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Eine normale Fotomesse

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
07.07.2022. Dass im diesjährigen Fotofestival von Arles ausgerechnet Susan Meiselas den Akzent setzt, ist eine Enttäuschung. Meiselas' großartige Arbeit ist vielfach dokumentiert und wurde gerade in Paris, Wien und Berlin gewürdigt.  Eigentlich erwartet man von Arles doch gegenwärtigen State of the Art!
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Seit 4. Juli gibt es wieder das jährliche Stelldichein der Fotoszene beim Festival "Les Recontres de la Photographie" in Arles.

Nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum gilt die provenzalische Kleinstadt mit rund fünfzigtausend Einwohnern als Sehnsuchtsort, hofft man doch, der Überschaubarkeit der eigenen Fotolandschaft, die seit einiger Zeit die Kulisse für eine Retro-Show der Dokumentarfotografie aus den siebziger und achtziger Jahren gibt, zu entkommen (obwohl man als Kurator:in, Galerist:in oder Verleger:in für diesen Zustand die Verantwortung trägt).
 
Leider Gottes sieht es dieses Jahr in Arles in Bezug auf die großen Ausstellungen nicht besonders aus.  

Etwa Susan Meiselas (bei aller Begeisterung über den wunderbaren, zweibändigen Katalog im Schuber von Steidl) oder Exponate der feministischen Avantgarde nach 1945 aus der von Gabriele Schor über die Jahre aufgebauten Wiener "Sammlung Verbund". Beides wird in den letzten Jahren durchgewunken und ist europaweit in Ausstellungen zu sehen, wobei Meiselas mit der aktuell unschlagbaren Kombination aus siebziger/achtziger Jahre Dokumentarfotografie, Female Gaze und Sexarbeit natürlich den Vogel abschießt: "Carnival Strippers", gerade bei C/O Berlin und letztes Jahr im Zuge der Meiselas-Retrospektive in Wien zu sehen, die zuvor schon im Pariser Jeu de Paume Station machte (hier die Besprechung von Thierrry Chervel), ist eine großartige Arbeit - aber muss so etwas auch noch in Arles gezeigt werden, das ursprünglich ein Avantgardefestival war, eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen State of the Art?

Da nutzt es auch nichts, dass mit den Filmen und Fotografien von Babette Mangolte ein im Vergleich bisher nur Insidern bekanntes Werk seinen großen Auftritt und den "Women in Motion Award" bekommt, den 2019  - eh klar - Susan Meiselas bekam. Ob diesem Werk einmal eine ähnliche Bedeutung zukommen wird wie dem von Carolee Schneemann, wage ich allerdings zu bezweifeln. (Übrigens wurde Schneemanns Werk erst Mitte der neunziger Jahre von einer jüngeren Generation von Feministinnen entdeckt, nachdem First Wave-Vertreterinnen Schneemann beschieden hatten, mit ihren sinnlichen Performances besser in Striplokalen aufgehoben zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte.)

©Cammie Toloui, VOID






























Wenn schon Retro und Strip, dann hätte man die in mehrerlei Hinsicht hemmungslosen Fotos von Cammie Toloui aus den neunziger Jahren aus dem "Lusty Lady" ausstellen sollen, wo Toloui in San Francisco als Stripperin arbeitete, um ihr Fotojournalismus-Studium zu finanzieren. Wider Erwarten machte es ihr eine Zeitlang Spaß - nicht zuletzt, als ihr Männer, die zu ihren Darbietungen masturbierten, gestatteten, sie dabei zu fotografieren - Dick-Pics, die in diesem Fall einmal von der Frau gewollt sind.

Dazu gibt's noch die technisch überaus kompetente Noémie Goudal, die gerade massiv gehyped wird. Ich überlasse es den werten LeserInnen, nach Ansicht des Making of-Videos zu entscheiden, ob sich der ganze Aufwand (ähnlich wie beim Duo Cortis/Sonderegger) wirklich lohnt.

Wenigstens ist das von Toloui beim Verlag Void bereits in zweiter Auflage erschienene Buch "5 Dollars for 3 Minutes" für den in Arles vergebenen Fotobuchpreis nominiert (wie so unterschiedliche Bücher wie die von Hannah Darabi, Rafal Milach, Cristiano Volk und Dimitra Dede), dem einzigen Format, indem sich so etwas wie Avantgarde und Innovation erhalten haben. Bei überbordenden Selektionen wie in der Fondation Manuel Rivera-Ortiz braucht man dahingehend schon ein wenig Glück (generell finde ich ein sich aus so vielen Einzelpositionen speisendes Programm eher kontraproduktiv).

Im Grunde ist Arles heute eine normale Fotomesse, allerdings in ungleich schönerem Ambiente, mit ungleich größerem Nimbus und ungleich größerem Willen aller Beteiligten zu Entspanntheit und Fröhlichkeit als ähnlich strukturierte Veranstaltungen, denen nicht das Licht der Provence leuchtet. Natürlich kann man auch hier immer noch glücklich werden, wenn man ein rückhaltloser Foto-Verrückter ist wie der Buchkunst Berlin - Verleger Thomas Gust, und infolge dessen durch Gassen und Ausstellungen flaniert und sich beschenkt fühlt wie beim Kindergeburtstag.

© Klaus Pichler


Ein kurzer Blick auf TeilnehmerInnen aus dem deutschsprachigen Raum ergibt, dass der Österreicher Klaus Pichler für den Fotobuchpreis nominiert ist. Und das verdient: Das im Self Publishing entstandene Buch "The Petunia Carnage" ist Pichlers bisher beste Arbeit, in der seine Qualitäten - eine Nähe zur (Natur-)Wissenschaft, ein Sinn für skurrile, in Alltagsgegenständen und ihrem (verfremdeten) Gebrauch wurzelnde Stillleben, ein Hang zu visuellen Rätseln - zum Tragen kommen. Nominiert ist auch Thorsten Baensch mit seiner Langzeitwanderung durch sieben Länder "Von Ort zu Ort".

Boris Eldagsen hat gemeinsam mit dem polnischen Fotografen Tomasz Lazar auf Jahrmärkten, an Halloween und anhand gängiger Horrorformate recherchiert, was Menschen einen Schrecken einjagt, gruseln macht. Als erstes Resultat gibt es dazu auf Arles ein 28-seitiges Booklet, die Premiere des Videos "Black Mirror" findet im Rahmen der Wiesbadener Fototage statt. Buchkunst Berlin zeigt Florian Bachmaiers Fotos aus der Ukraine. Andreas Trogisch, Regina Anzenberger, Katrin Jaquet, Wolfgang Josef Mayer, Andrea Diefenbach, Anne Morgenstern und andere treten im Verlauf der Woche auch auf den Plan. Und Verlage wie Hartmann und Kehrer versuchen natürlich, ihre Bücher in Szene zu setzen.

Falls jetzt eine spitzfindige Person beklagt, dass im Zuge von Corona und russischem Angriffskrieg ein Thema wie "Black Lives Matter" im Gegensatz zu weißen Frauen fortgeschrittenen Alters offensichtlich wieder vom Tisch ist: Geduld! In Maja Hoffmanns Luma gibt es ab dem 6. Juli "Afrophon", eine Messe für Kunstbücher aus Afrika. Ein Glück, dass man sich auf das Engagement von Schweizer Pharma-MilliardärInnen für die gute Sache wie gewohnt verlassen kann.

Workshop in Arles 1976 © Marion Kalter, Bildrecht Wien



Wenn ich mir die Entwicklung in Arles in den letzten Jahre so anschaue und sie einem Foto von Marion Kalter aus dem Jahre 1976 gegenüber stelle, das einen Workshop von Jean Pierre Sudre zeigt, halte ich es nicht für unwahrscheinlich, dass das vielleicht mein letzter Artikel über die Veranstaltung ist. Einfach deshalb, weil das, was die Kunst interessant, unberechenbar, unvergleichlich macht, immer seltener in etablierten Formaten  - Theatern, Festivals, Museen, TV-Sendern - stattfindet.
Für dieses Mal heißt es am Ende aber noch schlicht: Santé!

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de