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Als Gott oder als Tier

Über Bilder, Bände und Sites Von Peter Truschner
08.03.2017. Die über siebzig Kilo schwere Wärmebildkamera, mit der Richard Mosse für sein Buch "Incoming" Flüchtlinge auf dem Mittelmeer fotografierte, kann mit einem gigantischen Tele-Zoom durch Rauch und Nebel hindurch Fotos auf große Entfernung schießen. Entstanden sind gespenstische Bilder, die einen ganz anderen Blick auf das Geschehen zulassen.
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Alles ist so oft gesagt und so häufig abgebildet worden, dass einem Hören und Sehen vergeht, da alle Kanäle unter der Dauerberieselung längst verstopft sind, und man das Schrecklichste irgendwann mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nimmt. Inmitten einer Schar von gut sechzig Fotografen in einem Flüchtlingslager, die alle auf der Pirsch sind nach demselben eindringlichen Foto des Schreckens oder der Hoffnung, stellte sich der irische Fotograf Richard Mosse nicht zum ersten Mal die Frage: Wie kann ich die Dinge in einer Weise darstellen, die nicht allen bekannt vorkommt? Auf die man nicht in einer routinierten Weise reagieren kann?

Ein Projekt über die Flüchtlingskrise war geboren: "Incoming". Mosse hat sich für dieses Projekt auf den Weg gemacht: von der afrikanischen Flüchtlingsroute über Libyen und den griechischen Lagern wie Moira und Idomeni über den Flughafen Tempelhof in Berlin bis zur zivilisatorischen Wildnis von Calais, wo ein Faustrecht aus grimmiger Hoffnung, Dreck und Drogen herrscht, an dem sich der Spruch des Aristoteles zu bewahrheiten scheint, dass man außerhalb der Polis nur als Gott oder als Tier leben könne.

Mosse wird dabei nicht nur vom Komponisten Ben Frost und vom Kameramann Roger Tweeten begleitet, sondern vor allem von einer Wärmebildkamera, die fürs Militär entwickelt wurde. Der Apparat ist über siebzig Kilo schwer und vermag mit seiner Radiationstechnologie und einem geradezu gigantischen Tele-Zoom durch Rauch und Nebel hindurch Fotos auf eine Entfernung von bis zu dreißig Kilometern zu schießen.


Richard Mosse "Incoming", The Curve, Barbican Center. Ausstellungsansicht. Copyright: Richard Mosse, Barbican Center.

Susan Sontag nennt die Kamera die "Sublimierung einer Schusswaffe". Bei Mosse bedarf es einer solchen Sublimierung nicht mehr, seine Kamera ist nach dem internationalen Waffenrecht ITAR eine Waffe, die nicht nur dazu dient, militärische Zielvorgaben (Personen und Objekte) zu überwachen oder zu verfolgen, sondern auch die Treffsicherheit von Raketen zu erhöhen. Da ist es nicht nur konsequent, sondern im Kontext von "Incoming" geradezu unerlässlich, dass Mosse die Kamera auch auf dem Flugzeugträger USS Theodore Roosevelt zum Einsatz bringt und zeigt, wie Bomber und Aufklärungsflugzeuge in den Nachthimmel am Persischen Golf hoch steigen.

Das Fotobuch "Incoming" besteht aus Film Stills, die dem gleichnamigen, 52-minütigen Film entnommen sind. Die Fotos zeigen mit Flüchtlingen überfüllte Schlauchboote am nächtlichen Abgrund des Meeres - dahinter lauern die Ungeheuer, die man doch hinter sich lassen wollte. Menschen, die in den Camps um Essen und Medizin anstehen; Kinder, die Fußball spielen und sich prügeln; Muslime, die einen Moment für sich allein haben und ihre Gebete gen Mekka richten.



Mosse hat diese Vorgänge oft in der Nacht und auf eine größere Entfernung hin aufgenommen, sodass die darin verwickelten Menschen nicht wussten, dass sie von ihm beobachtet und gefilmt werden. Er nennt es dementsprechend eine "gestohlene Intimität", was ihm harsche Kritik eingebracht hat, die er unter anderem dadurch zu entkräften sucht, dass die Kamera nicht in der Lage ist, identifizierbare, individuelle Gesichtszüge darzustellen und dadurch eine prinzipielle Anonymität aller Beteiligten gewahrt bleibt.

Die Wärmekamera ist dabei eine brutale und mitleidlose Gleichmacherin: die gleißende Emission des verbrannten Kraftstoffs, die das startende Kampfflugzeug freisetzt, führt den Betrachter zum Suchscheinwerfer der Küstenwache und endet in einem fernen Raketeneinschlag oder einem einsamen Lagerfeuer inmitten existenzieller Dunkelheit. Der Körper eines Sicherheitsbeamten ist ein Betonpfeiler: ein starres, funktionales Element, das eine Aufgabe erfüllt. Ein Flüchtling, der sein Gesicht gegen den Zaun eines Lagers presst, ist weniger ein Mensch als ein Tier, das die Infrarotkamera eines Zoologen bei einem nächtlichen Streifzug eingefangen hat. Der helle warme Fleck, den eine Kinderhand auf dem kalten, toten Oberkörper eines ertrunkenen Flüchtlings hinterlässt, zieht seine Spur bis in die Höhle von Lascaux. 


Richard Mosse, Still frame from "Incoming", 2015. Copyright: Richard Mosse.

Aus Benjamins "Ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort?" wird bei Mosse "Der Mensch ist der Tatort". Die Bilder evozieren den Hobbesschen Naturzustand - den "Krieg aller gegen alle" - als conditio humana. Im Gegensatz zu Hobbes braucht es jedoch keine Metaphern mehr. Der Mensch ist dem Menschen kein Wolf - der Mensch ist dem Menschen ein Mensch und damit das Schlimmste, was sich zu bestimmten Zeiten und in gewissen Situationen überhaupt sagen lässt.

Manche Medien haben die bei aller Anonymität dennoch Ausgestellten und dabei auf eine gespenstische Weise in einem urgeschichtlichen Kern Getroffenen mit Zombies verglichen, was einerseits zu pittoresk, anderseits schlicht falsch ist, da es eine Entmenschlichung suggeriert, wo in Wahrheit nur das Menschliche in einer Weise ans Licht kommt, von dem der Mensch selbst nichts mehr wissen will, und das er vor sich selbst zu verbergen gelernt hat, in dem er es "unmenschlich" nennt.

Mitgefühl. Barmherzigkeit. Großzügigkeit. Toleranz. Der in idealistischer Weise ins absolut Gute überhöhte Begriff der Humanität muss dem im Stammhirn und in den Genen verankerten Naturzustand der Triebe und Instinkte in Wahrheit auch im Jahr 2017 immer wieder aufs Neue abgerungen werden. Mosse spricht selbst davon, dass die Bilder "entmenschlichend" wirken. Tatsächlich gleichen sie eher fotografischen Laborproben einer Spezies als Hymnen an die Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit jedes einzelnen Lebens.


Richard Mosse, Still frame from "Incoming", 2015. Copyright: Richard Mosse.

Dass die Fotos und der Film derart spektakulär gelingen, liegt ironischer Weise auch daran, dass Mosse mit seiner Herangehensweise nicht nur triumphiert, sondern auch scheitert, geradezu scheitern muss. Er wollte die verwendete Waffentechnologie gegen diejenigen richten, die diese Waffen entwickeln und einsetzen, und den Menschen hinter der Entmenschlichung wieder sichtbar werden lassen - das Bildmaterial sperrt sich jedoch gegen eine solche, gut gemeinte Vereinnahmung. Mosse braucht darüber jedoch nicht traurig zu sein - im Gegenteil. Seit er vor Jahren mit der preisgekrönten Kongo-Installation "The Enclave" begonnen hat, sich nicht länger an der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der dokumentarischen Fotografie abzuarbeiten, ist er ohne große Geste, ohne künstlerischen Aplomb zu einem der wichtigsten Künstler der Gegenwart geworden, der darauf vertrauen kann, was Gerhard Richter als wesentliche Selbstregulierung eines Bildes beschreibt und vielleicht überhaupt ein Merkmal bedeutender Kunstwerke ist: "Meine Bilder sind immer klüger als ich". Ein gutes Bild entzieht sich demzufolge einer endgültigen Klassifizierung gerade so wie der Absicht, mit der es in Angriff genommen wurde.

Mit "Incoming" ist Mosse eines der unangenehmsten und gerade deshalb aufschlussreichsten Bücher unserer Zeit gelungen. Wer sich darin vertieft, dem erschließt sich nicht nur eines der größten gegenwärtigen und zukünftigen Probleme, sondern auch ein Ansinnen Roland Barthes: "Ich wollte mich in die Fotografie vertiefen, nicht wie in ein Problem, sondern wie in eine Wunde". 

Peter Truschner

Richard Mosse, Incoming. Texte von Giorgio Agamben und Richard Mosse. MACK Books 2017, 576 Seiten, 17.5 x 19.7 cm, €40.00. ISBN 978-1-910164-77-8. Bestellen beim Verlag oder bei Abebooks.