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Are Bure Bokeh

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
22.12.2023. Am Ende des Jahres ein subjektiver Blick auf ein paar Bücher von Fotografen und zur Fotografie, die es für mich bereichert haben. Tomas Gudzowaty stellt sich in die rasante Tradition der Provoke-Fotografie. Wolfgang Matz denkt in einer neuen Auflage von Walter Benjamins "Kleiner Geschichte der Photographie" über die Bedeutung dieses Essays heute nach. Und dann noch: "Italia"!
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Tomas Gudzowaty, 1971 in Warschau geboren, arbeitet seit über zwanzig Jahren als Reportagefotograf für Magazine wie Vogue oder National Geographic. Neunmal konnte er bisher den World Press Photo Award gewinnen.

Alle paar Jahre legt er - ohne viel Aufhebens davon zu machen - ein Buch vor, das in künstlerischer Hinsicht äußerst bemerkenswert ist. 2016 war das "Proof" im Steidl Verlag, das Positive seiner Aufnahmen mit dem legendären Planfilm Polaroid Typ 55 zeigt, die sonst als Proofs für die Auswahl der Negative dienen. Über- und unterbelichtet, zerkratzt und verschwommen, schlagen sie eine Brücke zur Malerei von Luc Tuymans oder Marlene Dumas.

Auch William Klein arbeitete immer wieder nach dem Prinzip "Are, Bure, Bokeh", das als grob (-körnig), verschwommen und unscharf übersetzt werden kann. Entwickelt wurde es in den 1960er Jahren in Japan als Gegenbewegung zur allgegenwärtigen Hochglanz-Ästhetik der Nachkriegszeit, die der konservativen Mischung aus Konsum und Verdrängung der fünfziger Jahre visuell Vorschub leistete.

Zentralorgan dieser Politik und Ästhetik vereinenden Bewegung war das zwar kurzlebige, aber äußerst einflussreiche Magazin Provoke (über Provoke hat Perlentaucher Thierry Chervel hier vor ein paar Jahren geschrieben). Bekanntester Vertreter dieser Richtung wurde Daido Moriyama mit seinen Bildern, die von der grell ausgeleuchteten Hektik der Großstadt ebenso künden wie von ihren Geheimnissen und dunklen Ecken.

© Tomas Gudzowaty, Hatje Cantz

In seinem neuen Buch ist Gudzowaty dieser Ästhetik verpflichtet und fängt damit ein ur-japanisches Motiv ein: den Sumo-Ringkampf. Das Buch verfolgt das Leben der Kämpfer, das einzig und allein dem Kampf geweiht ist, ob im Ring, unter der Dusche, bei der Fahrt mit der Limousine durch nächtliche Straßen oder im Garten einer Tempelanlage. Wie schon bei Moriyama ist Tokio selbst das Thema und die Konfrontation zwischen Kommerz und Tradition.

Die Besonderheit des rundum gelungen Buches besteht in seiner Machart: Mit ganzseitigen Abbildungen kann man es aufgrund seiner handlichen (dabei nicht zu kleinen) Maße (18 x 23 cm, Softcover) durchblättern wie eine spannende Graphic Novel, und damit an anderer Stelle in einer anderen Geschwindigkeit immer wieder von vorne beginnen.




Tomas Gudzowaty: SUMO. 432 Seiten, 18 x 23 cm, Softcover. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2023, 58 Euro. (Kaufen bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher)

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In der aparten "Kreisbändchen"-Reihe des Berliner Alexander Verlags gab es schon das ein oder andere lesenswerte Buch, etwa die gesammelten Gedichte von Heiner Müller oder Guy de Maupassants Essay über Gustave Flaubert.

In diesem Jahr kam eine aufwändig gestaltete, mit zahlreichen Abbildungen versehene Neuauflage von Walter Benjamins "Kleiner Geschichte der Photographie" aus dem Jahr 1931 hinzu. Ich selbst verfüge über die Ausgabe in der Edition Suhrkamp, wo dieser Text Benjamins legendärer Abhandlung "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935) beigefügt wurde, was überaus sinnvoll ist, da der eine Text den anderen erhellt.

Wer immer sich abseits ihres praktischen Nutzens für Fotografie interessiert, für ihre historischen und theoretischen Hintergründe, wird einmal mit diesen Texten konfrontiert worden sein, nicht anders als mit Arbeiten von Roland Barthes und Susan Sonntag, ob während des Studiums oder als Folge des vertiefenden, privaten Interesses.

Weshalb ich mir erlaube, im Zuge dieser weihnachtlichen Ausgabe von Fotolot, die mehr hinweisenden als analysierenden Charakter hat, nicht weiter darauf einzugehen, dafür allen, die es noch nicht getan haben, die Lektüre ans Herz zu legen.

Interessant ist diese Neuausgabe auch aufgrund des Essays von Wolfgang Matz, der sich im Gegensatz zu so einigen anderen Autoren aller philosophischen Lyrismen enthält, sondern in der Tradition alter, englischer Essay-Schule durchdekliniert, was Sache ist oder was er dafür hält und dabei plausibel zu machen versteht (die wenig ergiebigen Ausflüge in das Werk von Künstlern wie Gustave Caillebotte oder Michael Wesely seien ihm darob rundweg verziehen).

Anders als viele Rezensionen von Büchern, die zu zwei Dritteln aus einer langatmigen Nacherzählung des Inhalts bestehen, will ich den werten LeserInnen die Freude der Begegnung mit den diversen Aspekten des Textes nicht nehmen und zähle daher nur wenige Punkte auf.

Etienne  Cajart: Charles Baudelaire 1863 (Wikimedia Commons)


Manche Streitfrage hat sich inzwischen erledigt, etwa die Frage nach dem Kunstcharakter der Fotografie und ihrer Stellung im Vergleich zur Malerei, den Benjamin ohnehin sinnlos fand, da sie "den Photographen vor eben jenen Richtstuhl" beordert, von dem Benjamin behauptet, der Fotograf habe ihn umgeworfen.

Die fotografische Technik müsse vielmehr ihre eigenen Maßstäbe setzen.

Dass die Fotografie vor allem wegen ihres unvergleichlichen "Realitätsgehalts" wertgeschätzt wurde - den Schuhputzer auf dem Foto von Daguerre, das 1839 erstmals einen Menschen zeigt, muss es unleugbar gegeben haben, gleichgültig, ob es nur ein Schauspieler war, der einen Schuhputzer spielte -, hat es der Malerei ermöglicht, sich von den Fesseln dieses Realitätsbezugs zu lösen. Das gleichzeitige Aufkommen der Fotografie und des Impressionismus (und all dem, das auf ihn folgte) sind dementsprechend kein Zufall.

Nach einer griffigen Kritik an Benjamins "Aura"-Begriff landet Matz am Ende bei der heutigen, unermesslichen Produktion von digitalen Fotos und ihrer Manipulierbarkeit, der die KI - zum Zeitpunkt des Niederschrift des Textes noch kein beherrschendes Thema - die Krone aufsetzt, in dem sie die vermeintliche Selbstverständlichkeit zerstört, dass es das, was es auf dem Foto zu sehen gibt, auf irgendeine Weise in der Wirklichkeit gegeben haben muss.

Langfristig führt das zu einer Vertrauenskrise gegenüber der gesamten Bildkultur und - so Matz - zu einer Erosion des historisch gewachsenen Bildgedächtnisses.

Ein kurzweiliger Essay, der selbstverständlich nicht allen Aspekten von Benjamins diesbezüglichen Gedanken Rechnung tragen kann, aber Lust darauf macht, sich eingehender damit zu beschäftigen.




Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Fotografie. Mit einem Essay von Wolfgang Matz. 120 Seiten, 12 x 17 cm, Softcover mit Silberfolie. Alexander Verlag, Berlin 2023, 18 Euro. ISBN 978-3-89581-587-4 (Kaufen bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher)

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© Thomas Hoepker, Buchkunst Berlin




Zuguterletzt:

Wer Federico Fellinis "Müßiggänger", Vittorio de Sicas "Fahrraddiebe", Roberto Rossellinis "Stromboli", Luchino Viscontis "Rocco und seine Brüder" und Pier Paolo Pasolinis "Mamma Roma" und überhaupt das alte Italien liebt (oder einfach nur ein schönes, aus der Ferne sorgsam gehütetes Bild davon), der wird auch Thomas Hoepkers "Italia" lieben.

Non c'è altro da dire a riguardo.



Thomas Hoepker: Italia. 200 Seiten, 24 x 17 cm, Hardcover. Verlag Buchkunst Berlin, Berlin 2023, 45 Euro. ISBN: 3981980573
Frohe Weihnachten und erholsame Feiertage wünscht

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de