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Dem Feuerhimmel entgegen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
20.12.2022. Eine Ausstellung in Paris wirft einen Blick auf die Arte Povera und die Fotografie - eine kuratorische Pionierarbeit mit einem tollen Katalog. Ebenfalls in Paris wird eine Boris-Mikhailov-Retro gezeigt. Und auch deren Katalog ist als Weihnachtsgeschenk zu empfehlen. Und noch ein paar Anregungen.
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Weihnachten steht vor der Tür, und egal, ob man an Heiligabend in einer Kirche Bachs Weihnachtsoratorium lauscht oder im Wohnzimmer Loriots "Weihnachten bei Hoppenstedts" guckt - im Hintergrund macht sich eine gewisse Vorfreude auf die nahende Bescherung breit, die Schenkende und Beschenkte wenig später hoffentlich gleichermaßen beglückt.

Geschenke also. Wäre dies eine Kolumne, in der ich hemmungslos meinen Tageslaunen und anderen Präferenzen frönen könnte, würde ich jetzt etwas über Küchenartikel schreiben. Etwa eine schöne "Creuset" (auf den ersten Blick teuer, aber eine lebenslange Gefährtin, auf die man sich immer verlassen kann).

Oder vielleicht ein (in der europäischen Grundausstattung) fünfteiliges Messerset aus japanischem Damaszenerstahl: Santoku (Allzweckmesser für Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Kräuter), Gyuto (Fleisch, Fisch), Petty (Obst, Gemüse), Nakiri (Gemüse) und Deba (Fisch).  Ich habe während des Studiums eineinhalb Jahre lang in der Fleischabteilung eines Feinkostwarenladens von einem Metzger alten Schlags alles über Fleisch gelernt. Das und natürlich das Aufwachsen am Bauernhof mit (Nutz-)Tieren samt üppigem Gemüse- und Obstgarten - die Gerüche! die Farben! - bildet die Grundlage meiner Begeisterung für alles Kulinarische.

Aber das ist ja nun mal eine Kolumne über Fotografie und Fotobücher (mit manchmal schwer verdaulichem Fokus auf Gegenwart und Kunst), keine übers Kochen. Oder über Wein- und Champagnerverkostungen (mal sehen, ob ich da angesichts unserer beeindruckenden Abo-Zahlen nicht doch was arrangieren kann, Perlentaucher-Chef Thierry Chervel hat französische Wurzeln, er wird das sicher verstehen).

Prini / Penone © Jeu de Paume, Le Bal


Frankreich. Da sind wir schon beim Thema. So langweilig die Paris Photo auch war (und in absehbarer Zukunft auch bleiben wird, es kann im Grunde nur schlimmer werden), gab es in Paris doch zeitgleich zwei richtig gute Ausstellungen.

Ich habe aus Termingründen nur eine davon gesehen  - die auf Jeu de Paume und Le Bal verteilte Retrospektive "Reversing the Eye: Arte Povera and beyond - 1960 -1975. Photo, Video, Film".

Der gleichnamige Katalog dazu ist bei Atelier EXB erschienen und kann schlicht als Must Have bezeichnet werden, sowohl für die, die nach einem stringent aufgebauten und reich bebilderten Überblick über das Thema suchen, vor allem aber für jene, die die Arbeiten im Grunde kaum oder gleich gar nicht kennen (was nicht verwerflich ist, weil sich die Wahrnehmung der Arte Povera lange auf Malerei und Skulptur beschränkte).

Etwa Guiseppe Penones  (*1947) großformatige, ausdrucksstarke Gesichter (später spezialisierte er sich auf Holzskulpturen); Emilio Prinis (*1943) Film Stills eigener Performances, in denen Rhythmus und Licht eine größere Rolle spielten als ein konkreter Inhalt; Guiseppe Paolini (*1940) übermalte Fotografien von stehenden, liegenden und laufenden Menschen mit expressiven Farbstrichen (später verfertigte er höchst komplexe Skulpturen aus Einzelteilen, die er gewann, indem er zum Beispiel ein Objekt wie ein Klavier auseinander nahm  und neu zusammensetzte); die von den Ideen der Land Art inspirierte Laura Grisi (*1940) arbeitete von Beginn an mit der Kamera, die Fotos dokumentieren ihre minimalistischen Performances in den sechziger und siebziger Jahren, was bei den US-Pionieren der Land Art wie Robert Smithson oder Walter di Maria lange als verpönt galt. Grisi stellte 1968 ihre Arbeiten in Leo Castellis legendärer New Yorker Galerie aus, wo sie unter anderem auf James Turrell Eindruck machten.

"Fotografie wird Buch, Dokument, Allegorie, (Tafel-)Bild, Skulptur, Installation, Performance", heißt es zutreffend im Text zur Ausstellung. Anfänglich nur Hilfsmittel, beginnen sich Fotografie und Video zu emanzipieren und für sich den Raum der Kunst zu erobern.
Zugleich ist es frappant zu sehen, wie diese Ästhetik heute in den Arbeiten jenes Teils der jungen Generation wiederkehrt, der sich bewusst wieder mit analoger Schwarzweiß-Fotografie beschäftigt - wobei es für den einen oder die andere sicher überraschend sein wird, zu sehen, was in den sechziger und siebziger Jahren gerade im Bereich installativer und performativer Unterwanderung (oder aber Überhöhung) des Mediums ausprobiert wurde. Spannend!



Reversing the Eye: Arte Povera and beyond - 1960 -1975. 420 Seiten, 22 x 23 cm, Soft Cover. Atelier EXB, Paris 2022, 55 Euro. ISBN: 9782365113403

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Von der andern Pariser Ausstellung, zu der ich es leider nicht geschafft habe, erzählte mir beglückt Photo-Talker ("Pepper's Photo Chat") und Autor Jens Pepper: die Retrospektive des ukrainischen Fotokünstlers Boris Mikhailov (*1938) - "Ukrainian Diary".

© Boris Mikhailov, MEP


Aus zwanzig der bedeutendsten Serien Mikhailovs zeigt die "Maison europeénne de la photographie" (MEP) achthundert Fotografien. Kein anderer fängt die Zeit unter dem Diktat der Sowjetunion, ihren Zusammenbruch und die mit vielen Hoffnungen und Sehnsüchten verbundene, chaotische Zeit nach 1989 so ein wie Mikhailov: irrwitzig, intim, vulgär, theatralisch, banal, pathetisch, hässlich, hart, pornografisch, idiotisch, bitter, liebevoll, verspielt.

Zur Ausstellung ist bei Mörel ein prächtig gestalteter Katalog erschienen, dessen erste Auflage rasch ausverkauft war.




Boris Mikhailov: 1965 - 1922. 576 Seiten, 17 x 24 cm, Hard Cover. Mörel Books, London 2022, 2. Auflage, 50 Euro. ISBN:9781907071454

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Auf der Paris Photo habe ich zum ersten Mal ein Buch in Händen gehalten, das mich, als ich es im Newsletter des Pariser Verlags RVB zum ersten Mal wahrgenommen habe, sofort interessiert hat: Tabitha Sorens "Surface Tension".

Mit einer analogen Mittelformatkamera fotografiert Soren das Display ihres Smartphones. Auf dem Display sind ausschließlich Bilder zu sehen, die im  Zuge der katastrophalen Brände entstanden sind, die die letzten Jahre in Kalifornien wüteten, wo Soren lebt.

Bilder, die nicht wahllos dem Internet entnommen wurden, sondern von Soren und ihren Freunden in Sozialen Netzwerken wie Twitter gepostet und geteilt, manchmal sogar eigenhändig vor Ort geschossen wurden: zum zwischen Stahl- und Kobaltblau changierenden Nachthimmel hoch züngelnde Flammen; eine brennende Tankstelle wie aus einem Hollywood Action-Kracher; verkohlte Gerippe von Bäumen; dunkle Silhouetten von Menschen, die ihre Fäuste dem Feuerhimmel entgegen strecken; und mitten drin, als wesentlicher Bestandteil der ganzen Komposition: mal ölige, mal wolkige Schlieren, die Sorens Finger auf dem Display hinterlassen haben, als sie darüber wischten - ein von höllischem Feuer grundiertes "Action Smearing".

© Tabitha Soren, RVB


Einfach wunderbar, diese buchstäblich heißen, wilden Bilder - erst recht im Vergleich zur bei uns üblichen, wohlstandsbürgerlichen Gediegenheit, für die aktuell Anne Schönhartings "Habitat" steht. (Eigens geschrieben habe ich darüber nicht, weil das Ausmaß der allseits akklamierten Konventionalität dieses Langzeitprojekts - Buch, Ausstellung, Publikum, Medienecho - sogar mich einmal sprachlos gemacht hat.)

Wie auch immer. "Surface Tension" ist ein richtig tolles, passend zur Haptik eines Displays auf einer glänzenden Folie gedrucktes Buch, das ich selbst immer wieder mal zu Hand nehme - das Ganze inklusive Hardcover zum sensationellen Preis von nur dreißig Euro.



Tabitha Soren: Surface Tension. 64 Seiten. 22 x 34 cm, Hard Cover. RVB Books, Paris 2022, 30 Euro. ISBN: 2492175081
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Zum Schluss für alle, die es a) nicht so mit Büchern haben, und b) einfach nicht genug kriegen können vom immer noch rastlos durch die Straßen Tokios streifenden, fotografierenden, Bücher und Ausstellungen förmlich ausschwitzenden, dabei in allem so gut wie vorbehalt- und schrankenlos agierenden Workaholic und Foto-Irrwisch Daido Moriyama - für die gibt's jetzt die ultimative Hommage "The Past is always new, the Future is always nostalgic" als Download und auf DVD - wie immer natürlich am besten zu erwerben über eichendorff21, den Buchladen des Perlentaucher.


Frohes Fest und guten Rutsch wünscht

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de