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Landschaften aus Pinselstrichen

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
15.02.2024. Angesichts einer zur Zeit recht überschaubaren Fotoszene lohnt sich ein Ausflug in die Malerei, vielleicht auch um die Sprachen der Moderne neu buchstabieren zu lernen. Die Pariser Mark-Rothko-Ausstellung ist nur der Höhepunkt einer neuen Aneignung des Abstrakten Expressionismus und einiger der Maler - und  vor allem auch Malerinnen - die ihn inspirierten und formten von Chaim Soutine über Arshile Gorky, Robert Motherwell, Helen Frankenthaler bis zu Joan Mitchell.
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Im Zuge der "Paris Photo" begegnete man in den letzten Jahren einem Phänomen, dessen Ausläufer schließlich bis in die niederösterreichische Provinz vorgedrungen sind - große Ausstellungen zum Abstrakten Expressionismus.

Ein Zentrum bildet dabei die "Fondation Louis Vuitton". 2022 gab's dort die wunderbare Ausstellung "Monet - Mitchell", bis April 2023 ist noch die große Retrospektive zu Mark Rothko sehen. Die Ausstellung "Chaim Soutine/Willem de Kooning" in der Pariser Orangerie fiel 2021 teilweise dem zweiten Corona-Lockdown zum Opfer. Die Kunstsammlung NRW zeigte dafür gerade die Soutine-Retrospektive "Gegen den Strom", bei Hatje Cantz ist der Katalog dazu erschienen.

Im Gegensatz zu Cézanne, Picasso, Matisse und den Surrealisten wurde Soutines Einfluss auf die Kunst nach 1945 erst spät erkannt und aufgearbeitet (ein wichtiger Baustein war dabei eine Ausstellung seiner Arbeiten 1964 auf der Documenta III). Er inspirierte Lucian Freud und Francis Bacon - und durch diese bis heute Malerinnen wie Cecily Brown und Jenny Saville -, zugleich aber auch Vertreter des Abstrakten Expressionismus. (Auf den Punkt brachte die diversen Wechselwirkungen der englischen Kunst die Ausstellung "All too Human: Bacon, Freud and a Century of Painting Life" 2018 in der Londoner Tate Gallery.)

Chaim Soutine (1924) © Hatje Cantz, Musée de l'Orangerie


Während Freud und Bacon vor allem den kräftigen und üppigen Farbauftrag und die damit verbundene sinnliche, in Bezug auf Haut regelrecht fleischliche Qualität seiner Malerei schätzten ("Ich will, dass die Farbe so funktioniert wie das Fleisch", sagte Lucian Freud einmal), spielte für die Abstrakten Expressionisten nicht zuletzt der unorthodoxe Bildaufbau eine große Rolle, der durch konsequente Verfremdung und Verzerrung von Physiognomien und Perspektiven geprägt ist, die jedoch im Gegensatz zum klassischen Kubismus und Surrealismus keinen erkennbaren Regeln und anderweitigen Manifesten folgen, sondern subjektiv und überraschend bleiben.

Der 1893 in einem weißrussischen, jüdischen Shtetl geborene Soutine wuchs in Armut auf, der Vater war ein Flickschuster, die schwermütige Mutter war ihren Kindern keine Stütze. Beide Eltern waren streng gläubig und bestraften den kleinen Chaim, wenn er Abbildungen von Menschen zeichnete. Er entfloh diesen Verhältnissen später über Vilnius, wo er Kunst studierte, 1913 nach Paris. Dort blieb er - obwohl er Förderer wie den Gründer der legendären Barnes Foundation fand - ein Außenseiter, der die Sprache mehr schlecht als recht beherrschte, und seine Zeit abseits von der Arbeit im Atelier und dem Besuch von Ausstellungen lieber auf dem Land verbrachte.

Ein weiterer, wichtiger Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus, Arshile Gorky (eigentlich: Vosdanig Manoug Adoian), wurde 1904 im heutigen Armenien geboren (damals ein Gebiet, um dessen Beanspruchung Russland und das Ottomanische Reich immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen führten). Der Vater und die älteren Geschwister waren bereits Jahre zuvor in die USA ausgewandert, als Gorkys Mutter im Zuge des Völkermords der Türken an den Armeniern verhungerte. Gerade mal fünfzehn Jahre alt, machte er sich mit seiner jüngeren Schwester auf die Reise und gelangte - wie immer er das auch geschafft hat - über Tiflis, Konstantinopel und Griechenland schließlich 1920 in die USA.

Arshile Gorky (1947) © Yale University Press, MoMA


In einer Zeit, in der der unwidersprochene Mittelpunkt der Kunst Paris war, stand Gorky lange unter dem Einfluss von Picasso, Matisse, Miro, den Kubisten und Surrealisten - erst Ende der dreißiger Jahre, nicht lange vor seinem Freitod nach einer Darmkrebsdiagnose 1948, begann er sich davon zu lösen.

Seinen Einfluss auf die spätere "New York School", die der Vorherrschaft der "Ecole de Paris" nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende setzte, belegt ein Zitat von de Kooning: "I come from 36 Union Square", wo das Atelier von Gorky lag - der einzige, der überhaupt über ein Atelier verfügte, während Willem de Kooning, Franz Kline oder Jackson Pollock bis in die Vierziger Jahre noch in den Wohnzimmern ihrer kleinen Apartments arbeiteten, die sie oft mit anderen teilten - die Bilder wurden bei Besuchen kurzfristig in der Badewanne verstaut.
1934 hatte Gorky seine erste Einzelausstellung in einer namhaften Galerie, 1937 kaufte das Whitney Museum Arbeiten von ihm an. Obwohl andere noch bis in die Fünfziger Jahre warten mussten, bis ihnen Ähnliches widerfuhr, gab er ein Beispiel dafür, dass man mit moderner Kunst in den USA Erfolg haben konnte. Auch in der täglichen Arbeit im Studio und im unbedingten Glauben an sich selbst war er ein Vorbild.

Mark Rothko, 1903 als Mark Rothkowitz und Sohn eines jüdischen Apothekers im heutigen Lettland geboren, kam 1913 auf der Flucht vor den Pogromen im Zarenreich mit seiner Familie in die USA. Der Vater, der Mark auf eine strenge Talmud-Schule geschickt hatte, verstarb bereits im Jahr darauf, was den kleinen Rothko dazu zwang, Geld für die Familie als Zeitungsverkäufer zu verdienen. So aber hatte er Freiheiten gab, die am Ende zu einem Stipendium und einem Studium in Yale führten, das er jedoch bald abbrach, um an der New Yorker "Art Student's League" Kurse in Malerei zu belegen.

Mit durchwegs an die gängigen europäischen Vorbilder angelehnten Werken schaffe er es 1944 in eine Gruppenausstellung bei Peggy Guggenheim und in Jahresausstellungen des Whitney Museums. Erst ab 1948 begann er jenen Stil auszuprägen, für den er heute von manchen regelrecht verehrt und geliebt wird - immer wieder gibt es Berichte von Menschen die vor einem Bild von Rothko zu weinen beginnen.

Diese "Multiform Paintings" basierten auf klaren Prinzipien, die Rothko und sein Mitstreiter Adolph Gottlieb 1947 in der New York Times darlegten: "Wir bevorzugen es, einen komplexen Gedanken einfach auszudrücken. Wir sind für die große Form, weil sie die Wirkung des Unmissverständlichen hat. Wir möchten die Bildebene wieder in den Vordergrund rücken. Wir sind für flache Formen, weil sie Illusionen zerstören und Wahrheit als solches offenbaren."

Mark Rothko in der Fondation Louis Vuitton

Rothko verfiel jedoch nie der von Clement Greenberg - einflussreichster Kritiker seiner Zeit, dessen Größenwahn eine ausgesprochen despotische Komponente hatte - rigoros propagierten Monochromie eines Barnett Newman oder Ellsworth Kelly, seine Bilder bekamen nach Besuchen in Italien, wo er in Florenz intensiv die Fresken von Fra Angelico im Kloster San Marco studierte, spirituellen Charakter.
In seinen späten Jahren entwickelte Rothko eine heftige Abneigung gegen jede Verbalisierung und Interpretation von Kunst. "Bilder müssen geheimnisvoll sein", proklamierte er. Kein Wunder, dass Rothko Ende der Sechziger Jahre den Auftrag erhielt, in Houston eine nach ihm benannte Kapelle zu entwerfen. Deren Einweihung 1971 erlebte er jedoch nicht mehr mit, da er im Jahr zuvor den Dämonen seiner Depression nicht mehr Herr wurde und seinem Leben ein Ende setzte.

Der Begriff "Color Field Painting" geht auf Greenberg zurück - der Name "New York School" war eine Erfindung von Robert Motherwell, der sich in vielem von seinen Künstlerkollegen unterschied (und dessen Wiener Retrospektive Anfang dieses Jahres zu Ende ging).

1915 als Kind wohlhabender Eltern geboren, studierte Motherwell in Stanford und Harvard französische Literatur und Philosophie. Seine erste Liebe galt der Literatur, Garcia Lorca, Ezra Pound, James Joyce und vor allen anderen Baudelaire, dessen Einfluss auf ihn Motherwell später dazu brachte, zu behaupten, dass "die Abstraktheit in der modernen Kunst in der Tradition der französischen symbolistischen Dichtung" steht, weil sie es ebenso "ablehnt, alles auszubuchstabieren".

1938 reiste er nach Frankreich, knüpfte dort Kontakte zu Marcel Duchamp, Max Ernst und André Breton (der ihn spöttisch "Le petit Philosophe" nannte), und studierte danach beim einflussreichen Kunsthistoriker Meyer-Schapiro an der New Yorker Columbia University. Im selben Jahr begann er ernsthaft zu malen und hatte ein Jahr später schon seine erste Einzelausstellung.

Seine vornehme Herkunft, seine Weltgewandtheit und seine Intellektualität machten ihn zu einer idealen Ansprechperson für Peggy Guggenheim, die vor dem Zweiten Weltkrieg von Paris nach New York floh und dort 1941 ihre legendäre Galerie "Art of the Century" eröffnete. Motherwell war neben William Baziotes anfangs der einzige Amerikaner, der an Gruppenausstellungen neben berühmten europäischen Künstler von Mondrian bis Ernst teilnehmen durfte.

Bis weit in die Fünfziger Jahre herrschte unter den sich formierenden New Yorker Avantgardisten eine strenge Trennung zwischen zwischen "Uptown" und "Downtown".

"Uptown" bedeutete: da, wo das Geld ist und eine finanziell potente Käuferschicht, die sich langsam, aber doch mit dem Gedanken anfreundete, neben den berühmten Europäern ab und an einen unbekannten modernen amerikanischen Maler zu kaufen. Zu Baziotes und Motherwell stießen später Newman, Rothko und Gottlieb, zu aller Überraschung schließlich auch Pollock, ein beständig unter Strom stehender, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn changierender Alkoholiker und Kunst-Outlaw aus dem Mittleren Westen, der während eines Dinners für ausgewählte Gäste sturzbetrunken auf den Boden in Guggenheims Apartment pinkelte.

"Downtown" bedeutete, diese Möglichkeiten nicht zu haben. Ganz im Gegenteil. Die meisten Künstler und Künstlerinnen lebten in den dreißiger und vierziger Jahren ohne jede Anerkennung in absoluter Armut. Sie wurden regelmäßig aus ihren Apartments geworfen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Sie hatten keine Ateliers, und als Willem de Kooning endlich eines hatte, war es ohne Heizung - alle, die den New Yorker Winter kennen, wissen, was das bedeutet. Da er sich oft auch keinen Strom leisten konnte, zapfte er illegal öffentliche Stromleitungen an. Lange arbeitete er mit billigen Farben aus dem Bedarf für Malerarbeiten am Bau. Als er sein erstes Bankkonto und sein erstes Telefon bekam, war er über fünfzig.

Willem de Kooning im Musée de l'Orangerie, Paris


Für Frauen gestaltete sich alles noch mal schwieriger

Waren in der "Progressive Era" zu Beginn des Jahrhunderts künstlerische Biografien wie die von Georgia O'Keefe und Berenice Abbot möglich, war damit in den restaurativen Jahren zwischen Depression und Nachkriegszeit Schluss. In die Kunstszene aufgenommen wurde man, wenn man sich einem berühmten Mann anschloss, weshalb besonders Ambitionierte wie Elaine de Kooning und Lee Krasner sich naturgemäß die größten Hechte im Teich angelten. Helen Frankenthaler und Grace Hartigan (sowie unzählige andere) versuchten es mit dem notorisch untreuen Misogyn Greenberg.

Mit den Kindern, die solchen Liebschaften eher unfreiwillig entsprangen, blieben die Frauen meist allein sitzen. Oder aber sie trieben ab - eine Praxis, die so gängig war, dass manchen Frauen nach mehreren Abtreibungen zeitlebens gesundheitliche Schäden blieben.

Oft zogen die Leute auf der Suche nach Essbarem durch die Gegend - wer etwas hatte, teilte es mit anderen. Immer wieder ging man hungrig zu Bett. Franz Kline musste sich oft entscheiden, ob er das wenige, was er zu essen hatte, selbst aß oder seinem Hund gab. Die Schuhe hatten Löcher, die Hosen waren geflickt, und billiger Fusel gewährte eine kurzfristige Flucht, aus der man am Ende in irgendeiner schmutzigen Ecke erwachte. Depression, Alkoholismus, temporäre Aufenthalte in psychiatrischen Anstalten und Suizid waren weit verbreitet.

Rothko, dem es nicht ganz so dreckig ging wie anderen, sagte später dennoch über diese Zeit: "Keine Galerie. Keine Sammler. Kein Geld. Und trotzdem war es unendlich besser als heute, da alles Geschwafel, Aktionismus und Konsum ist."

Jung, reich, theorielastig und ohne formale Ausbildung, stand Motherwell trotz ersichtlicher Begabung bei seinen Zeitgenossen nicht hoch im Kurs. Sie erkannten jedoch den Nutzen seines großen und weitgehend uneigennützigen Engagements für die Sache. Mit einer ganzen Reihe von Vorträgen und Artikeln bei prominenten Medien und Institutionen trug er ebenso zum allmählichen Siegeszug der US-Avantgarde bei wie der legendäre Artikel 1949 im Magazin Life "Jackson Pollock: Is he the greatest living painter in the United States?" oder der nach dem gewonnenen Krieg von höchster Stelle verordnete, amerikanische Kulturimperialismus (mit dessen weltweiter Durchsetzung Organisationen wie der OSS betraut wurden, der Vorgänger der CIA).

In Wien konnte man nun die Genese von Motherwells Werk nachvollziehen und Bilder aus nächster Nähe unter die Lupe nehmen. Zugleich ist ein schöner Katalog erschienen, der jedoch bereits im Titel eine problematische Behauptung enthält: "Robert Motherwell: Pure Painting".

Das ist der Beginn einer ganzen Reihe fragwürdiger Thesen, die in den ersten beiden Essays des Katalogs von Susan Davidson und Jack Flam aufgestellt werden. Etwa: "Als intellektueller Maler verlieh er seinen gestischen Werken eine Strenge, die die menschliche Psyche reflektiert". Oder: "Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen hat er mit einem breiten Vokabular gearbeitet, als wolle er jede Nuance seiner Sensibilität zum Ausdruck willen". Und: "Er versuchte, die komplexe und oft widersprüchliche Natur des Daseins als solchem zum Ausdruck zu bringen".

Das ist nicht nur ein pathetisches Gesülze - es entspricht auch nicht den Tatsachen. Mal ganz abgesehen davon, wie es gelingen soll, mit intellektueller Strenge ein breites Vokabular zu entwickeln und mit jeder Nuance die widersprüchliche Natur des Daseins zum Ausdruck zu bringen. Das wäre in etwa so, als hätte Wittgenstein seinen "Tractatus" im Gestus von Tolstois "Anna Karenina" verfasst.

Für manche Kollegen blieb Motherwell immer der "painter who came out of a book" (Fairfield Porter), was "pure painting" verständlicher Weise schwierig macht.

Dass er einmal entwickelte Formen immer wieder variierte, stimmt. Aber das Vokabular war deshalb kein breiteres als bei Gorky oder Rothko, die verschiedene Phasen der Figuration und Abstraktion durchliefen. Ganz zu schweigen von Willem de Kooning, der sich strikt weigerte, sich zwischen Abstraktion und Figuration zu entscheiden. Selbst sein erbitterter Gegner Greenberg erkannte an, dass sein Pinselstrich "einzigartig, schön, verzweifelt" war, und er eine ganze Generation von Malern damit in seinen Bann zog "wie Hemingway junge Schriftsteller". Wie Lucian Freud, an dessen Bildern in Zeiten von Abstraktem Expressionismus, Pop Art und Minimal Art Kritik und Publikum kein Interesse hatten, ist er in dieser Hinsicht ein klassischer "Artist's Artist".
Es hat schon seinen Grund, warum Robert Rauschenberg ausgerechnet eine Zeichnung des von ihm bewunderten de Kooning ausradieren wollte, um mit der Vergangenheit zu brechen.

Joan Mitchell in der Fondation Louis Vuitton


In ihrer Pariser Ausstellung wurde offensichtlich, wie sehr der einzelne Pinselstrich zugleich Ausdrucksform und Konstruktionsmittel von Joan Mitchell war. Der Vergleich mit dem späten Monet war aufschlussreich. Während Monet in Giverny an einer Symbiose feinster malerischer und inhaltlicher Elemente zu einem fließenden, großen Ganzen arbeitete, baute Mitchell im nicht weit von Giverny entfernten Vétheuil ganze Landschaften aus Pinselstrichen, die zugleich Grashalme, Blüten, Blumenstängel, Regentropfen und Sonnenstrahlen sind. Elaine de Kooning nannte das Ergebnis "Abstrakten Impressionismus".

Das Gestische ist bei Motherwell  im Vergleich dazu das Ergebnis von Reflexion, danach Konstruktion des Bildraums und Organisation des Farbauftrags - natürlich nicht auf eine sterile Weise, sondern durchaus emotional - aber eben immer in Bezug auf das Ganze, worin auch der Grund dafür liegt, dass er Bilder über Jahre überarbeitet hat wie ein Schriftsteller einen Roman, an dessen vermeintlicher Endfassung es immer wieder etwas zu verbessern gibt.

Um mehr Spontaneität in seine Arbeit zu bringen und von den interessanten Konstellationen zu profitieren, die der Zufall beschert, übernahm Motherwell im Laufe der sechziger Jahre die Schütt- und Wurftechniken mit Farbe seiner dritten Frau Helen Frankenthaler (der die Kunsthalle Krems 2022 eine Retrospektive widmete) - ohne sich dabei jedoch wirklich dem Fluss zu überantworten wie Jackson Pollock, der das durch "Dripping-Technik" Entstandene bei Ungenügen lieber zerstörte, anstatt nachträglich daran herumzudoktern.

Simon Kellys klarer, gehaltvoller Essay über den Einfluss der französischen Moderne des 19. Jahrhunderts auf Motherwells Werk entschädigt für das Vorangehende. Motherwell orientierte sich an Malern, die nicht den Regeln der Akademie folgten: Delacroix, Manet, Monet, Cézanne, und die sich politisch einbrachten wie Courbet und Daumier. Viele Motive, die Motherwell ein Leben lang begleiteten, haben ihre Wurzeln in der Beschäftigung mit diesen Künstlern.

In Delacroix' Tagebuch (das der Gegenstand von Motherwells nie geschriebener Dissertation sein sollte) gibt es eine Schilderung vom Tod eines Toreros beim Stierkampf. Er ließ sich zudem vom Griechischen Unabhängigkeitskrieg inspirieren ("Das Massaker von Chios", 1823), nicht anders als Motherwell vom Spanischen Bürgerkrieg ("Elegies to the Spanish Republic").

Auch Manet war von Spanien fasziniert, es gibt Gemälde und Zeichnungen von der Corrida, eine Flamenco-Sängerin, einen toten Torero und sein Lieblingsmodell Victorine Meurent 1862 als Stierkämpferin in der Arena - ein Affront zur damaligen Zeit, der im Jahr darauf noch getoppt wurde, als Meurent auf dem "Frühstück im Grünen" nackt unter zwei angezogenen Männern sitzt und die Betrachter in einer Weise anblickt, die fragt: Na, was haltet ihr davon?

Robert Motherwell, Elegy No. 171 © Modern Art Museum Fort Worth, Hatje Cantz


Manets über drei Meter breite "Erschießung Kaiser Maximilians" kann man ebenso wie Courbets über sechs Meter breites und ebenso düsteres, mit Farbinseln von Rot und Grün durchzogenes Bild "Begräbnis in Ornans" als Vorgänger der bis zu sechs Meter breiten Bilder aus der Spanischen Elegien-Serie betrachten. Auch in seiner Feierlichkeit und Trauer entspricht dieses Bild Motherwell, der "das Tragische mit dem Ästhetischen" zu verbinden zu suchte und der sagte, eine Elegie zu malen "ist wie einen Tempel zu bauen, einen Altar, eine Ritualstätte".

Mit Monet und Cézanne verband Motherwell das Motiv der Variation.

Monet bei der Kathedrale von Rouen, einem beliebigen Heuhaufen und beim Seerosenteich von Giverny; Cézanne bei den Badenden und der Montagne Sainte-Victoire. In ständiger Überarbeitung und Variation war Motherwell ein Zweifler wie der ebenso aus wohlhabenden Verhältnissen stammende Cézanne, der für ein kleines Porträt des Kunsthändlers Ambroise Vollard fünfzehn Sitzungen brauchte und einmal resigniert sagte: "Es will mir nicht gelingen, jene Intensität zu erreichen, welche sich vor meinen Sinnen entfaltet, ich verfüge nicht über jenen herrlichen Farbenreichtum, der die Natur belebt."

Wer sich nach dieser Lektüre wundert, warum es in dieser Foto-Kolumne einen solchen Beitrag zur Malerei gibt und auch in Zukunft geben wird: Einerseits entspreche ich damit einem Wunsch, der immer wieder von LeserInnen an mich herangetragen wird. Andererseits ist die Fotoszene formal wie inhaltlich auf Dauer oft zu überschaubar und die Versuchung, ihr aus gegebenem Anlass hin und wieder zu entfliehen, manchmal einfach zu groß.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de




Robert Motherwell: Pure Painting. 208 Seiten, 16 x 29 cm, Hardcover. Hatje Cantz, Berlin 2023, 44 Euro. ISBN-10: 3775754385 - Kaufen bei eichendorff21, dem Buchladen des Perlentaucher.