Essay

Sein Schädel ist rund

Von Karl Schlögel
08.08.2016. Irgendwann in den 1990er Jahren - in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wie man jetzt immer öfter sagen hört - sagte er mir einmal so aus heiterem Himmel, dass das russische Regime nichts anderes sei als ein Mafiaverein. Von Karl Schlögel
Ich habe Arno Widmann seit Jahren nicht mehr gesehen, vielleicht ist es sogar mehr als ein Jahrzehnt her, dass wir uns getroffen haben. Die letzten Treffen waren zufällig oder am Rand irgendeiner Veranstaltung, auf der man sich über den Weg lief, sich über den Weg laufen mußte, wie auf der Frankfurter Buchmesse. Ich bin darüber im Nachhinein traurig. Denn ich hatte so in Augenblicken, wenn die Weltgeschichte einen Dreh machte, immer die Hoffnung, dass wir uns irgendwo sehen würden, vielleicht in einem Cafe am Savigny-Platz oder im Bücherbogen, um tastend zu besprechen, was das wohl bedeuten könnte. Aber ich habe ihn dann doch nie angerufen, obwohl ich seine Telefonnummer hatte und seine Adresse kannte. Jeder hatte ja zu tun, saß in seinem Tunnel, man wollte sich in Ruhe lassen, sich nicht an den Veteranengesprächen beteiligen.

Vielleicht war an dieser Zurückhaltung auch mehr. Dass man zum Beispiel in einem harmlosen Gespräche etwas gesagt bekam, worauf man nicht gefasst war. Irgendwann in den 1990er Jahren - in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wie man jetzt immer öfter sagen hört - sagte er mir einmal so aus heiterem Himmel, dass das russische Regime nichts anderes sei als ein Mafiaverein. Für mich, der ich ein Leben lang mit Russland zu tun hatte, eine unwissenschaftliche Bemerkung, die mich irritierte, weil sie von einem sehr genau beobachtenden und klugen Kopf kam, die ich aber abwehrte. Widmann bewegte sich in einer anderen analytischen Welt, ganz weit weg von den Kategorien der "postsowjetischen" oder "Transformationsgesellschaft", diesem Jargon der Eindeutigkeiten und falschen Klarheiten. Ich habe Widmanns Bemerkung damals nicht ernst genommen, epistemologisch nicht ernst genommen. Man hört ja nie auf andere, man muss alles selber (noch einmal) lernen.

Ich war Arno Widmann dankbar für eine Rezension, nicht weil sie mir gewogen war, sondern weil ich mich darin recht verstanden fühlte, auf den Punkt genau, als er vom Gang durch das Moskau im Jahre 1937 als dem Gang Dantes in die Unterwelt sprach. Ich konnte nicht alles verfolgen, was er zu verschiedenen Zeit und in verschiedenen Blättern geschrieben hat, ich lese nicht mehrere, sondern höchstens zwei Tageszeitungen, aber wenn er mir unterkam, dann war er immer der Alte, unangestrengt, unprätentiös, fast salopp, und fast immer aus einem Dreh oder einem Blick heraus, der anders und frisch war. Man hatte immer etwas von solchen Lektüren. Wenn ich an Arno Widmann denke, den ich wie gesagt seit Jahren nicht gesehen habe, dann sehe ich ihn als jemanden, der mit einer einfachen, billigen Kamera unterwegs war und Bilder machte aus dem Abseits heraus und im Abseits, nicht erheiternd. Vor allem aber denke ich an seinen runden Schädel. Und es kommt mir dann Francis Picabia in den Sinn, von dessen Existenz ich überhaupt erst sehr spät erfahren habe, und dessen Spruch einem Alt-Hegelianer und Alt-Marxisten wie mir fast weh tut: Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann (oder so ähnlich). Ja, aber das war, oder genauer: ist Arno Widmanns Schädel.

Die Nachbarschaft mit und die Ferne zu Arno ist für mich vielsagend. Er war nur zwei Jahre älter als ich, aber das war in jenen Jahren bedeutsam: er hatte noch Adorno gehört und gesehen und wusste um die Überlegenheit dieser Welt, während die jüngeren jenseits davon, schon im nach-1968er-Bereich, in einer Schwundstufe politischer Praxis, sozialisiert worden sind. Man hatte als Angehöriger dieser Generation einen irgendwie gemeinsamen "Erfahrungshorizont", aber jeder musste und wollte selber mit dieser Erfahrung und mit sich selbst klar kommen. Deshalb gab es, wenn man sich den existierenden Parteien und Lagern, den diversen Alternativen Listen und Projekten der Linken oder Grünen, einschließlich der taz, an deren Gründung Widmann beteiligt war, nicht anschließen wollte, nie eine post-1968er-Formation oder Kohorte, sondern nur Einzelgänger, die sich selber durchschlagen mussten. Für mich ist Arno Widmann einer dieser Fernen und Nahen, die ihre Wege gegangen sind und wohl nie mehr zusammenkommen werden. Er lebe hoch!