Essay

Transmission des "Antisemitismus"

Von Karl-Josef Pazzini
27.05.2023. In der Transmission, einem unbewussten Vorgang, gehen präzise semantische Aufladungen verloren. Unbewusst gewordene Spuren etwa durch Verdrängen, Vergessen, Verschieben, Verdichten, die sich in vorigen Generationen einmal antisemitisch in einem agierten Symptom zu erkennen gegeben haben, sind bei einer Reaktualisierung nur noch schwer erkennbar. Sollten wir davon ausgehen, dass sie wie getarnte Attraktoren für aktuelles antisemitisches Denken und Imaginieren fungieren? Nachdenken über "Antisemitismus" - Vorabdruck aus der Zeitschrift Riss.
Das neue Heft der Zeitschrift RISS - Zeitschrift für Psychoanalyse  denkt vor allem am Beispiel des Anschlags von Halle über Antisemitismus heute in Deutschland nach. Wir übernehmen in gekürzter Form einen Essays des Herausgebers Karl-Josef Pazzini. Die Zeitschrift erscheint am 7. Juni. D.Red.


Es gibt kein Jenseits des "Antisemitismus".

"Antisemitismus" schreibe ich in Anführungszeichen. Die Anführungszeichen zeigen eine Unsicherheit an, eine kleine Ironie, gegenüber der schnellen Zuordnung und Inhaltsbestimmung des "Antisemitismus". Die Identifikation von "Antisemitismus" kann zur Leidenschaft werden. Und so kann sich der "Antisemitismus" sogar des Jägers bemächtigen. Unbewusst wird das, was inhaltlich, hellwach "Antisemitismus" genannt wird, anders codiert, umcodiert, zensiert, fragmentiert, getarnt - behaupte ich. Und die Elemente erscheinen dann bei Gelegenheit komponiert mit anderen Elementen, die durch den Anlass angezogen werden, wieder im Handeln, Fühlen, Denken und Sprechen des je individuellen Subjekts an der Oberfläche vielleicht nicht direkt erkennbar, weder für den Sprecher oder den Handelnden noch unbedingt zunächst deutlich für andere. Fehlleistungen oder Witze zum Beispiel können annehmen lassen, dass Unbewusstes an der Generierung des "Antisemitismus" mitwirkt. Die Arbeit des Unbewussten bei der Transmission historisch antisemitischer Intentionen, kann man sich vorstellen wie eine Traumarbeit, so mein Vorschlag. Deren Resultate schmuggeln sich in die intentionalen Aktivitäten ein. Dementsprechend könnte es dann um Traumdeutung gehen auf dem Weg der Entdeckung von "Antisemitismus", dem "Antisemitismus" jenseits der manifest so erkennbaren Inhalte.


Gespräch

In einem Gespräch mit Max Czollek präzisierte sich mir der Wunsch, über Transmission nachzudenken. Es war nicht unerheblich, dass die Überlegungen in einem Gespräch ihren Ausgang nahmen, in einem Gespräch über die Ursachen und Arten des "Antisemitismus". Die Besonderheit lag darin, dass es eben in jenem Spannungsfeld stattfand, in dem der jeweils andere als Figur leicht einen genau bestimmbaren Platz hätte haben können. Erste Figur: ein junger, kritischer, politisch engagierter Schriftsteller, der die jüdische Tradition, aus der er kommt, als Widerlager, Energiespeicher und Differenzierungsmittel seines Denkens entdeckt, um häufig anzutreffende, moralisch gefasste Geschichten zu entblößen. Zweite Figur: ein christlich katholisch gefärbter alter Analytiker aus der ersten Generation nach dem Nationalsozialismus, der wie viele in Deutschland auch jüdische Vorfahren hatte, der über verschiedene Phasen, die Geschichten des "Antisemitismus" in der politischen Umgebung immer wieder anders mit den je zur Verfügung stehenden Mitteln interpretierte.

Die Versuchung bestand darin, sich gegenseitig als Figuren zu identifizieren. Die Abwehr als Figuren scheiterte, […] Manifestationen von Transmission lassen sich nicht in einer intentio recta ansteuern. Transmission findet jenseits greifbarer Traditionen und benennbarer Identitäten statt.

[…] Transmission weiß nichts von bewusst definierten Zugehörigkeiten. Erst in den wahrnehmbaren Bildungen des Unbewussten können sie größeren Zusammenhängen, Theorien und Ideologien zugeordnet werden.


Mögliche Konfiguration

Man könnte sich vorstellen, um einen Anlass dieser Überlegungen zu fassen: Im Nationalsozialismus war ein Teil einer Familie, mütterlicherseits, nicht exzessiv antisemitisch, aber engagierte Mitläufer. Ein anderer Teil, väterlicherseits, stand dem Nationalsozialismus und dem "Antisemitismus" widerständig kritisch gegenüber. Es gab aus beiden Teilen der Familie nach dem Krieg kurze, eher anekdotische Erzählungen meist bei Gelegenheiten, in denen der jeweils andere Teil der Familie nicht zugegen war. Die Äußerungen waren in gewisser Weise fertig, nicht mehr befragbar, jedenfalls nicht von einem Kind. Man ließ dem jeweils anderen seine Erinnerungen, es war sowieso vergangen. Vorstellen kann man sich weiter, dass es seltsame Schweigepausen gab. Anzunehmen ist, dass beide Haltungen Folgen für die nächste Generation hatten. Nicht allen fielen Inkompatibilitäten der Positionen auf. Nicht nur die die Bruchstücke von Inhalten, sondern auch die Atmosphären gingen nicht verloren. Einige Inhalte konnten später angereichert und rekonstruiert werden.


Transmission

So kann man sich in etwa vorstellen, dass Transmission nicht wie Tradition einen bestimmten Inhalt weitergibt. In der Transmission kann, transformiert durch die Logik des Unbewussten, etwas resultieren, das oft genug den bewussten Intentionen der Handelnden entwischt oder zuwiderläuft, gut getarnt, weil sonst zu viel Konfliktpotenzial im Alltag entstünde, das über die Kräfte ginge. […] "Antisemitismus" kann auch aus Elementen zusammengesetzt sein, die nie rein antisemitisch waren. Als Agiertes oder ein passage à l'acte wird dann "Antisemitismus" aus dem, was gerade bereitlag, komponiert und destruktiv gegen Juden und die gewendet, die in die Not des Unbestimmbaren, Unbeherrschbaren, Ambivalenzen und Ambiguitäten geführt hatten. Die Not treibt zur Bastelei. Diese Not ist oft singulär. Auch deshalb fällt es schwer zu entziffern, was denn "Antisemitismus" ist.

Weiter spekuliert: In der Transmission, einem unbewussten Vorgang, gehen präzise semantische Aufladungen verloren. Unbewusst gewordene Spuren etwa durch Verdrängen, Vergessen, Verschieben, Verdichten, die sich in vorigen Generationen einmal antisemitisch in einem agierten Symptom zu erkennen gegeben haben, sind bei einer Reaktualisierung nur noch schwer erkennbar. Sollten wir davon ausgehen, dass sie wie getarnte Attraktoren für aktuelles antisemitisches Denken und Imaginieren fungieren? Haben sie also eine Valenz, aktuell angereichert sich zu erneut antisemitischem Handeln zu verbinden? So gedacht ließe sich "Antisemitismus", wo er als Auswirkung des Vergangenen erscheint, als solcher nicht immer direkt identifizieren und bekämpfen. - Singuläre Geschichte wird signifikant in einer gesellschaftlichen, historischen Situation, einem Anlass und wird überraschende Mischungen produzieren.
[…]


Zwei Richtungen

Bei der Transmission wird nicht nur aus der Vergangenheit etwas in die Zukunft getragen, sondern auch umgekehrt, und es gibt "mitten" darin einen melting pot
Transmission ist getragen von etwas, das weitergegeben werden muss, weil es beunruhigt, etwas, das in vorangegangener Lebenszeit zu viel war und Zukunft fordert.
[…]


Heimsuchung

Das, was heimsucht oder auch nur bereitliegt, ist noch nicht zu einer Bedeutung geronnen, ein transmittiertes, unbewusstes Wissen. Es schwirrt herum, wird aufgeschnappt, notdürftig in logische, darstellbare Verbindungen gebracht und klebt sich an fertig liegende Erzählungen. Es ist permanent - anthropomorph gesprochen - auf der Suche nach Katalysatoren seines Erscheinens, weil es etwas gibt, das aufdringlich unvollendet, Stückwerk ist, eine Unruhe. So kann dann auch die Erwartung antisemitischer Aktionen und Darstellungen selbst zu einem solche herumirrenden Fragmente konfigurierenden Anlass werden. Dabei können auch ganz andere Beunruhigungen verdrängt werden, wie zum Beispiel der Konflikt zwischen Nord und Süd, eine nicht so extrem individualisierte Lebensform mit jederzeit scheinbar zuzuordnenden Verantwortlichkeit nach einem Kausalitätsprinzip, andere Formen der Hermeneutik und Bedeutungsgewinnung, Kunst, die nicht autonom gedacht wird, einfach als bedrohlich verdeckt werden.
[…]


Trauma?

Zum kausalen Denken gehört auch die Vermutung, dass meist ein Trauma der Startpunkt einer transgenerationellen Transmission sei. So kann auch Verdrängung anders gefasst werden: "Verdrängung" richtet sich nicht gegen ein umschreibbares Ereignis, einen Inhalt, sondern entsteht aus der fehlenden Gelegenheit der Auslese aus den nebeneinanderliegenden Stückchen von einst gelebten, von Lebenden durch ihre Interessen zusammengehaltenen Ausrichtungen.
[…]


Zusammenbruch der Zivilisation

Antisemitismus heute ist in einer kruden Form, die immer wieder an die Grenzen des Begreifens führt, mit dem Holocaust verbunden. Diese Ereignisse und Erfahrungen rühren an die Grenze des Erzählbarenii. Diese können dazu führen, von einem Zusammenbruch der Zivilisation zu reden. Mit der Psychoanalyse können solche Zusammenbrüche als Moment des Zivilisationsprozesses selbst gesehen werdeniii, gerade dadurch bedrohlich, weil sie menschenmöglich sind. Die anfängliche Unerkennbarkeit der Destruktion hat nicht unbedingt mit Verdrängung, Abspaltung oder Verleugnung zu tun, sondern mit der ärgerlichen Tatsache, dass von keinem Handeln, Fühlen und Denken mit Gewissheit gesagt werden kann, an welchen Bedeutungen deren Elemente schon Anteil hatten oder haben werden. Was aber niemanden enthebt, wenn's eng wird zu handeln.


Aus meinem Notizbuch: Aber

Einem Analysanten fällt in der Woche vor Ostern, anlässlich eines Schleudertraumas bei einem Unfall, ein, dass im Religionsunterricht einer Dorfschule in der 3. Klasse der Pfarrer erzählte, dass in der Karwoche die Christen der Tatsache gedenken, dass die Juden Christus ermordet haben. Der Analysant meldete sich in jener Unterrichtsstunde und sagte: "Aber Jesus war doch selbst ein Jude!" - Er betont 'Aber' sehr deutlich. - Daraufhin habe der Pfarrer angefangen zu schreien, irgendetwas von Unverschämtheit, habe ihn am Arm hinter sich her über den Boden aus der Klasse geschleift und mit Schwung über den gebohnerten Boden in den Flur geschmissen, sodass er an der gegenüberliegenden Wand erst zum Halten kam. - Das war die Verbindung zum Schleudertrauma. - Der Pfarrer habe noch geschrien, dass er nie mehr an seinem Unterricht teilnehmen dürfe. Er habe sich nicht getraut, seinen Eltern davon zu erzählen, weil er die Dimension dieses Geschehens nicht genau verstanden habe, sich selbst nicht verstanden habe, sagt er Jahrzehnte später in seiner Analyse. Ihm fiel auch der seltsame Satzanfang wieder ein: "Aber Jesus war doch selbst ein Jude". Es hätte wie eine Argumentation geklungen. Es brauchte 14 Tage, bis er sich ein Herz fasste und seine Großtante besuchte, eine Vertrauensperson, der er die Geschichte erzählte. Sie hörte zu und sagte zu ihm: "Aber das ist doch klar, die Urgroßmutter deines Vaters war doch Jüdin! Aber das darfst Du nicht erzählen, dass ich Dir das verraten habe." Zunächst war er erleichtert, fühlte sich verstanden, meinte eine Erklärung zu haben, die ihm aber unter den Fingern zerbröselte, je länger er darüber nachdachte. "Auch jetzt wieder", sagte er, "Jetzt höre ich die Abers, die nichts wirklich erklären. Was erklärte die Erklärung der Großtante?" Mit Pausen sprach er weiter: "Konnte von der Urgroßmutter her eine Sensibilität für Antijudaismus abgeleitet werden? - Oder war es das Bemerken von Antisemitismus, wenn ein solcher Satz 1960 in Deutschland ausgesprochen wurde? - Aber ich hatte doch noch gar keine Ahnung von dem, was in Deutschland geschehen war. - Gut, auf dem ganzen Schulweg waren immer noch zerbombte Häuser zu sehen gewesen." Die Angst vor etwas Schrecklichem, was passiert war, habe er deutlich bei seinen Eltern und Großeltern gespürt. Manchmal die leise Andeutung, dass sich die Mutter seiner Mutter wegen irgendetwas schämte, was da gewesen war, was er nicht verstand. Die Großtante hatte ihm eine kausale Abfolge nahegelegt, die er damals nicht verstand, dennoch dann später immer wieder kurz diesen Anschein produzierte: "Ja, ja, deswegen war das so!" Er hatte, so sagte er, wie getrieben, das sagen müssen im Religionsunterricht, er wollte etwas richtigstellen, so sei es ihm vorgekommen. Erst in der Analyse verstand er, dass der Pfarrer ein Problem hatte. Jesus, sozusagen dessen Dienstherr, durfte nicht Jude genannt werden. Das war für einen vermutlich kirchlichen Antijudaisten, der sich in der Nazizeit wie viele Kirchenmitglieder zum Antisemiten gewandelt hatte, unerträglich.

Zwei Mal kondensierte sich ein Widerstand, ein Gegensatz im Aber. Das Aber war wichtig. Das, was folgte, war eine schnelle Verlegenheitslösung, nicht falsch, aber sehr verkürzt. Aus dem Knall, der damals passierte, der ihn aus einem eigentlich unbeschwerten Schülerdasein riss, leite er immer noch Widerstandskraft ab. Und es erschrecke ihn immer wieder, dass sich ein solcher Widerspruchsgeist nicht ankündigt, sondern meist plötzlicher Protest sei, der ihn selbst wohl ähnlich überrascht, wie die Umstehenden.
[…]

Gegen "Antisemitismus"

Psychoanalytisch formuliert, könnte das auch heißen, die Überzeugung von der Existenz des Unbewussten macht es schwerer, "Antisemitisches" zu identifizieren. Von einem Signifikanten lässt sich nicht eineindeutig auf ein Signifikat schließen, von einem Symptom nicht auf bestimmte Konflikte oder Bedeutungen.

Klarheit und Reinheit im "Antiantisemitismus" wäre dann "antisemitisch". Vielleicht ist "Antisemitismus" genau die Steigerung des Rassismus, der sich von isolierten Diskursen nährt und das oft auch noch phantasmatisch und dieses Objekt ideologisch ohne Bezug zu dem, was man Fakten nennt, konstruiert.


Kampf gegen "Antisemitismus"

Etwas am Aufspüren und Bekämpfen des "Antisemitismus" scheint von einen unbewussten, konflikthaften, manchmal mit fast panischer Angst besetzten Prozess getragen: Wiederholungen in der Argumentation, dabei Kritikresistenz, Sicherheit im Urteil, schnelle Übereinstimmung darin, dass der Kampf gegen den "Antisemitismus" gut sei und die Kritik daran, dies belege. Im Unterschied zu "Antisemiten", die Argumente gegen ihre Überzeugungen in Persistenz kaum vernehmen oder bedenken können, weil sie eine andere wahnhafte Narration gefunden haben, um Gewissheit zu produzieren und Angst zu mindern, haben Juden direkt oder historisch motiviert Angst. Das aber nicht als Juden, was immer das ist, sondern als um einen Zug herum konstruierte Entitäten.


Struktur des "Antisemitismus"

Es geht darum, feste Zuordnungen zwischen handhabbaren Bildern und Vorstellungen immer wieder zu lösen und umzuschreiben, das Mediale von Schrift und Sprechen als ein spielerisches Moment neuer Zusammenhangsproduktion - gemeinhin Sinn genannt - zu nutzen. Das wäre fortlaufende Repräsentationskritik inklusive der sie mit Macht stützenden Institutionen. Das führt zu belebender Ambiguitätstoleranz und Streit. Aber auch mit diesen thetischen Vermutungen bleibt der Konkretismus des Hasses zuletzt rätselhaft, aber faktisch durchschlagend.

Die Auflösung eineindeutiger Zuordnungen von Gesprochenem, Geschriebenem, Sichtbaren und überhaupt Gedanken und Vermutungen zu deren medialen Repräsentation ist kein Luxus. Sie verunsichern. Sie erschweren handhabbare Abkürzungen, die nicht nur Juden diskriminieren, verletzen und töten. Sie finden sich immer da, wo sich Menschen politisch, künstlerisch, journalistisch, wissenschaftlich an das Abbildungsverbot zu halten versuchen. Das legt den Gedanken nahe, von einer Struktur des "Antisemitismus" zu reden.
Dabei steht zuallererst fest: Der Hass trifft Juden. Es kann sich dabei auch, aber nicht ausschließlich, schwer zu denken, um eine Verschiebung handeln, […]

"Antisemitismus" wird so zum Auffangbecken für das Unbehagen in der Kultur. Ambiguitäten, Ambivalenzen, Kritik der Identitäten wandeln sich in Hass und Wut, in einen mörderischen passage à l'acte.

Das Transmittierte stößt, wenn es bemerkt wird, an die Grenze, an der Wahrnehmbarkeit entsteht, mit "Rücksicht auf Darstellbarkeit". Das, was formuliert wird, wird eine mythologische Form haben, so ähnlich wohl wie Freud von der Trieblehre als seiner Mythologie schreibt. Im Unterschied zum Traum, der eher flüchtig ist nach dem Erwachen, scheint mir die Transmission drängender. Wie ein Trieb lässt sie in ihrer Insistenz nicht nach, braucht dauernd neue Aufführungsformen. Ähnlich wie der Trieb kann das Unbewusste der Transmission nie "Objekt des Bewusstseins werden". […]


"Antisemitismus" gegen Bildungen des Unbewussten

Es gab (nicht nur) im Nationalsozialismus eindeutig antisemitische Gewalttaten, Geschädigte und Ermordete. Die Gewalttaten hinterlassen auch Spuren bei den Tätern und ihrer Umgebung. Sie sind toxisch. Diese Spuren werden immer wieder ausgelesen. Je nach Umgebung und Kontext können sie Anlass von Scham, nicht zu vergessen Stolz, Dummheit, auch Bockigkeit, psychoanalytisch gesprochen von Verdrängung, Verleugnung oder Verwerfung werden. Auch ehemals bewusste Elemente sinken ins Unbewusste ab, sind aber nicht einfach weg. - Die Nachträglichkeit einer Einordnung gilt auch für die durch "Antisemitismus" Geschädigten.

Diese transmittierten Spuren, Elemente, Bruchstücke und deren Zusammenbau in Situationen neuer Bedrängnis sind aus der analytischen Arbeit bekannt, können dort manchmal entziffert werden, zum Beispiel als Effekte von Traumata, von Familiengeheimnissen, von unerfüllten Erwartungen. Der Zusammenbau ist der Konstruktion eines Symptoms vergleichbar. So wird vorstellbar, dass zum Beispiel auch in Mimik, in Gestik, im körperlichen Erscheinungsbild und in der Aussprache sedimentierte Wendungen, die zu faschistischen Ritualen gehörten, automatisch exerzierte Übungen der Verbundenheit und Zugehörigkeit, unbewusste und im Agieren aufgegangene Auswirkungen des "Antisemitismus" in einer schwer greifbaren Weise weitergegeben und möglicherweise uminterpretiert werden.

Der "Antisemitismus" wehrt sich gegen genau die Charakteristik des Unbewussten, die in der Unbestimmtheit der Transmission zur Geltung kommt. Er negiert die Notwendigkeit der Konstruktion und flüchtet in substanzialistisches, zum Beispiel biologistisches Denken, verbirgt Angst und Verunsicherung in paradoxer Weise gerade dadurch, dass er sich auf sichtbare, klare Merkmale zu stützten versucht, wenn er Handlungs- und Denkweisen, die bei Menschen vorkommen, die zu beunruhigend sind, Juden zuordnet.

Verborgen bleiben Identifikationswünsche und zudem Idealisierungen, deren Spuren auch in diesem Text zu finden sind: Die idealisiert definierbaren Juden, die es nicht gibt, die ihren Überzeugungen und Lebensweisen treu bleiben - wie mancher sich das von außen wünscht, - indem sie sie auch reformieren, kommen mit dem Abbildungsverbot, der Repräsentationskritik und der erforderten Ambiguitätstoleranz, dem Paradoxalen und dem Witz als Selbst- und Fremdkritik viel besser zurecht. Das kann Unterlegenheitsgefühle erzeugen.

Das kann zu Abschattungen des intellektuellen Vermögens führen. […]

Karl-Josef Pazzini