Marie-Luise Scherer

Der Akkordeonspieler

Wahre Geschichten aus vier Jahrzehnten
Cover: Der Akkordeonspieler
Die Andere Bibliothek/Eichborn, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783821845418
Gebunden, 405 Seiten, 27,50 EUR

Klappentext

Marie-Luise Scherer wohnt unweit der alten Zonengrenze in einem Dorf an der Elbe und schreibt. Sie schreibt wenig. Sie verlangt von jedem ihrer Sätze, daß er wie ein Handschuh sitzt. Ein solcher Anspruch macht aber viel Arbeit, und er ist im Journalismus nicht üblich. Marie-Luise Scherers Geschichten gehören zum Kernbestand der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leise, aber mit gespannten Sehnen, kommen in ihren Texten die Katastrophen daher, so, dass man als Leser erstaunt, und lacht, und erschrickt. "Die Hundegrenze" ist wahrscheinlich der definitive literarische Text über den deutschen Zaun, "Der Akkordeonspieler" die genaueste Innenansicht der Migration. Mit so enormen Themen kann es nur eine große Erzählerin aufnehmen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.07.2004

Verehrung ist ein zu schwaches Wort für das, was Angelika Overath der Autorin und Journalistin Marie-Luise Scherer entgegen bringt. Anbetung trifft es eher. Elegisch preist die Rezensentin die "schreckliche Wahrnehmungsfähigkeit" Scherers, ihre "minuziöse Arbeit am Wort" oder die "winzig gewirkten" Details ihrer Geschichten. Schon der erste Satz der titelgebenden Erzählung, eine Erstveröffentlichung, überzeugt Overath, aber auch die bereits bekannten Stücke finden ausnahmslos die begeisterte Zustimmung der Rezensentin, wie die Spiegel-Reportage über die an metallenen Laufseilen angebundenen Wachhunde an der deutsch-deutschen Grenze. Overath hält dieses Stück für nicht weniger als den "eindringlichsten Text" über dieses Sujet, der nach der Wende veröffentlicht wurde. Erfolgreich balanciert Scherer an der "Schnittstelle von Artistik und Moral".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 03.07.2004

Fast schon ergriffen ist Rezensent Martin Krumbholz von Marie-Luise Scherers "Spiegel"-Reportagen, die jetzt als stattlicher Band in der "Anderen Bibliothek" erschienen sind. Gleich mehrere Texte haben es ihm angetan, allen voran aber "Der unheimliche Ort Berlin", in dem Scherer den Todesfall einer jungen Schwäbin in Berlin rekonstruiert, und der eine eigentümliche Nähe von schwäbischem Provinzmilieu und Kreuzberger Kiez zutage fördert. "Die Waldemarstraße ist eine harte Provinz, die der schwäbischen Provinz nicht nachsteht. Nur, dass sich manchmal ganz laut die girlandenhafte, plötzlich abstürzende Türkenmusik mit dem Geruch von Kohlenbrand auf die Bürgersteige drückt, was es in Saulgau nicht gegeben haben kann." Hier und in allen ihren Texten glänze Scherer gleichermaßen mit ihrer bestechenden "Faktendemut" und der "Fülle der scharfen Beobachtungen, die mit dramaturgischer Raffinesse aufbereitet sind und jede Form des Moralisierens strikt vermeiden". Beeindruckend auch, wie problemlos Scherer von einem Milieu zum anderen wechsele, etwa eben noch ein Otto-Schily-Porträt vorlege um sich dann schon mit dem französischen Surrealisten Philippe Soupault zu unterhalten. Mit ihrer "wütenden Neugier", so das bewundernde Fazit des Rezensenten, stellen Scherers Reportagen "alle denkbaren Klischees auf den Kopf".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 19.05.2004

Marie-Luise Scherer gilt als eine der bedeutendsten Journalistinnen der Nachkriegszeit, obwohl ihr Werk schmal ist. Ihre Reportagen sind im "Spiegel" erschienen, elf davon werden nun mit einer Ausgabe von Enzensbergers "Anderer Bibliothek" geadelt. Trotz der allgemeinen Begeisterung formuliert Rezensent Ulrich Stock einige Einwände, die vor allem der einzigen neuen Geschichte, dem titelgebenden "Akkordeonspieler" gelten. 130 Seiten lang ist die Geschichte über einen in der Berliner U-Bahn spielenden Musiker aus der Ukraine, die ein detailreiches Panorama von Globalisierung, Ost-West-Beziehungen, Berliner Lokalkolorit und postsowjetischen Transportsystemen aufblättert. Seitenlang setzt die Hauptgeschichte aus, stört sich Stock, jede Person, die dem Protagonisten über den Weg laufe, diene zu Abschweifungen, so dass der Leser das Gefühl bekomme, die Geschichte sei nur ein Vorwand für die mikrosoziologischen Erkundungen der Autorin fremder Milieus. Ob Kreuzberger Hinterhöfe, Wohnungen französischer Adliger, kubanische Restaurants oder der Arbeitsplatz Moskauer Museumswärterinnen, alles interessiere Scherer auf gleiche - brennende - Weise. Diese Beschreibungen seien die große Kunst Scherers, zugleich unterstellt ihr der Rezensent, banale Situationen sprachlich aufzuladen und im Zweifelsfall hinzudichten, hinzuzuerfinden, was sie selbst gar nicht miterlebt haben konnte. Da die Verfasserin aber nicht genau kenntlich macht, wo sie Erlebtes und Erfundenes vermengt, leidet für Stock die Glaubwürdigkeit ihrer Reportage.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.04.2004

"Marie-Luise Scherer kann alles." Dieser Satz, ergänzt um die Feststellung, dass es sich bei den journalistischen Texten der Autorin um "bedeutende Literatur" handelt, würden eigentlich genügen, um die gesammelten Reportagen Scherers einzuordnen. Niemals aber würden sie Gustav Seibts Hingerissenheit angemessen Ausdruck verleihen, und schon gar nicht wären sie der berühmten Langsamkeit würdig, mit der Scherer ihre Geschichten recherchiert - nein: erfährt - und schreibt. "Sie sammelt nicht einfach Eindrücke", schreibt Seibt, "sie versinkt in fremdem Leben, sie geht mit Haut und Haar darin auf". Und: kein Moralismus, nichts "literarisch Vorgestanztes" - rein gar nichts, was die tagesjournalistische Standardreportage inzwischen unerträglich mache. Scherer setze nie diesen feuilletonistischen Tonfall auf, lobt der Kritiker, bei ihr spreche "die Welt selbst", egal wo, wann und in welchem Milieu sie sich zeige. So hat Seibt lauter kleine Romane gelesen, "beeindruckend bis zum Gruseligen und zwingend unterhaltsam". Man liest's und möchte gleich zur nächsten Buchhandlung laufen.
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