Lukas Bärfuss

Hagard

Roman
Cover: Hagard
Wallstein Verlag, Göttingen 2017
ISBN 9783835318403
Gebunden, 174 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Ein Mann, eben stand er während des Feierabendgedrängels noch am Eingang eines Warenhauses, folgt aus einer Laune heraus einer Frau. Er kennt sie nicht, sieht sie auch nur von hinten, aber wie in einem Spiel sagt er sich: Geht sie dort entlang, folge ich ihr nicht weiter; geht sie in die andere Richtung, spiele ich das Spiel noch eine kleine Weile weiter. Es bedeutet ja nichts, niemand kommt zu Schaden, und der Abstand in der Menge ist so groß, dass die Frau es gar nicht bemerken wird. Eher ist es eine sportliche Aufgabe, sie in der Menge nicht zu verlieren. In einer knappen Stunde hat Philip ohnehin einen wichtigen Termin. Aber schon fragt er sich, ob der nicht auch zu verschieben wäre, bis zur Abendverabredung bliebe ja noch etwas Zeit. Was ihn bewegt, ist erst einmal unklar. Ist der Verfolger einfach ein gelangweilter Schnösel? Ein Verrückter? Ein Verbrecher? Er scheint selbst vor etwas zu fliehen. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, etwas Getriebenes. Ein atemloser Sog entsteht, in den auch der Leser gerät, je länger die Verfolgung anhält. Allen Sinneswahrnehmungen haftet etwas beunruhigend Surreales an. Die aufgerufenen Fragen über unsere Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert gewinnen eine unabweisbare Schärfe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 22.03.2017

Nicht unbedingt begeistert, aber sehr anerkennend bespricht Rezensentin Judith von Sternburg diesen Roman des Schweizers Lukas Bärfuss, der vom "totalen Ruin" eines Lebens in zwei Tagen erzählt. Vieles bleibt mysteriös in dieser Geschichte, räumt die Rezensentin ein, doch entwickle sie viel Komik und einen großen Sog: Ein Mann jagt sinnlos einer Frau hinterher, verliert dabei sein Smartphone, sein Auto, seine Papiere und offenbar auch seine Existenz, aber wie genau, das verrät uns Sternburg nicht. Virtuos und clever findet die Rezensentin diesen Roman konstruiert, denn Bärfuss doppele die fatale Verfolgungsjagd: Hinter dem Mann, der eine Frau verfolgt, steht ein Ich-Erzähler, der einer Figur nachjagt. Am Ende erkennt Sternburg darin eine Analogie auf den Menschen von heute, der viel wisse, ohne dass es ihm etwas nützt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 14.03.2017

Lukas Bärfuss' neuer Roman "Hagard" löst bei Rezensent Julian Weber im besten Sinne "ungute" Gedanken aus. Wenn der Kritiker liest, wie Bärfuss' Protagonist Philip nur durch einen Zufall beginnt, eine unbekannte Frau zu verfolgen, aus seiner durchgetakteten Existenz als Immobilienentwickler ausbricht und immer mehr verwildert, wird Weber nicht nur schnell in den Bann gezogen, sondern beginnt auch, seinen eigenen Wahrnehmungen zu misstrauen. Großartig, wie der Autor Gegenwartskritik mit Sacher-Masochs "krankhaftem Realismus" zu verbinden weiß, lobt der Kritiker, der nicht zuletzt eine spannenden Verfolgungsjagd gelesen hat.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.03.2017

Was geschieht, wenn eine zufällige Begegnung mit einer Frau alle Gewissheiten zerstört, lernt Jürg Altwegg in dem neuen Roman von Lukas Bärfuss. Den Verfall des Ich-Erzählers zum Underdog, der Essenreste sucht und schwarzfährt, verfolgt der Rezensent mit Spannung. Dass im Text vor allem gewartet, gerochen und gesehen wird, instinktmäßig, animalisch, scheint Altwegg zu gefallen. Der Rezensent überlässt sich dem Sog der katastrophensatten Geschichte, auch wenn dem Autor, wie er meint, die Dramaturgie seiner Story mitunter zu entgleiten droht, er das Tempo und den Anspruch an die Leser steigert und diese letztlich ratlos zurücklässt. Himmlisch mit all seiner Symbolik scheint Altwegg der Text allemal.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 25.02.2017

Mit einer hymnischen Besprechung feiert Meike Fessmann Lukas Bärfuss' neuen Roman "Hagard", der ihr zwar mehr als Novelle erscheint, aber vor allem eines ist: ein "wildes", traumspielerisches "Wunder". Großartig, wie Bärfuss seinen Helden Philip, einen unter dem Druck der Leistungsgesellschaft zunehmend zermalmten Immobilienmakler von plötzlichem Liebeswahn für eine wie von Herman Bang impressionistisch hingetupfte "Lichtgöttin" ergriffen, durch Zürich jagt, schwärmt die Kritikerin. Mehr noch: Bärfuss' konzentrierte, psychologisch leuchtende und ebenso mysteriöse wie "glaubwürdige" Geschichte erscheint ihr wie eine Bestandsaufnahme des Maschinenzeitalters, in der das Smartphone die menschliche Triebstruktur berherrscht. Und unter dem doppelten Boden dieses Meisterwerks, das mit Verweisen auf aktuelle Begebenheiten, etwa die Besetzung der Krim ebenso geschickt umgeht wie mit Anspielung auf Leonardo oder Kafka, meint Fessmann gar antike "Sirenengesänge" über Verschwendung, Begehren und Verglühen zu vernehmen.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 25.02.2017

Richard Kämmerlings bleibt nach der Lektüre von Lukas Bärfuss' neuem Roman "Hagard" ebenso verwirrt wie "verstört" zurück. Und das hat dem Kritiker ausgesprochen gut gefallen. Er begleitet hier den Immobilienmakler Philipp, der plötzlich von einer Obsession für eine namen- und gesichtlose Frau ergriffen wird, die er quer durch die in der "Schlacht des Neoliberalismus" untergehende Stadt stalkt. Dass Philipps Beweggründe ebenso rätselhaft bleiben wie die Figur des Erzählers, erscheint Kämmerlings reizvoll. Und wie doppelbödig und erzählerisch geschickt Bärfuss den "Stoizismus unserer Gegenwart" unterwandert, findet der Kritiker gar brillant.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.02.2017

Philipp Theisohn hält den neuen Roman von Lukas Bärfuss für ein Ereignis. Begründet ist das für Theisohn in der Anlage des Textes als beredter Zweifel an seiner eigenen Legitimation. Die Geschichte eines Aussteigers aus den Fesseln des bürgerlichen Daseins erzählt der Autor laut Rezensent als Kleist'sches Problem von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Für Theisohn keine bildungsbürgerliche Koketterie, sondern ein zwischen Komik, Schwärze und Verstörung changierender Text. Dem laut Theisohn vorauszusehenden Vorwurf der Nebulosität setzt der Rezensent entgegen, dass dieses Buch viel riskiert, indem er an sich selber zweifelt. Ein Kraftakt, findet er.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 23.02.2017

Ein "Hagard" ist ein schwer zähmbares Tier, klärt uns Andreas Isenschmidt auf. Einem solchen folgt der Kritiker hier in Gestalt des Immobiliendealers Philip, der plötzlich von einer Obsession für eine namenlose Frau ergriffen wird und diese anderthalb Tage lang durch die Stadt verfolgt, bis er sich schließlich bei einem Einbruchsversuch versehentlich die Pulsadern aufschlitzt. Bärfuss gelingen Passagen von großer Sogkraft, vor allem, wenn er die "rhetorisch hinreißende Misanthropie" seines Helden schildert, meint Isenschmidt. Leider verfällt der Autor aber immer wieder in die dritte, mitunter allzu "schwadronierende" Erzählperspektive und streut ermüdende "kulturkritische Einlassungen" ein, klagt der Kritiker. Die "satirischen Alltagsbilder" und Nebenhandlungen lassen schließlich aber doch noch den formidablen Erzähler erkennen, schließt Isenschmidt.