Jaroslav Rudis

Winterbergs letzte Reise

Roman
Cover: Winterbergs letzte Reise
Luchterhand Literaturverlag, München 2019
ISBN 9783630875958
Gebunden, 544 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald, seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma. Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er "Überfahrt". Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er gelähmt und abwesend im Bett. Es sind Kraus' Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe - eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.03.2019

Judith von Sternburg ist zwiegespalten angesichts von Jaroslav Rudis' Roman. Die Erzählung über die Zugreise eines Sudetendeutschen und seines böhmischen Altenpflegers von Berlin Richtung Sarajevo scheint ihr das Thema Heimatverlust einerseits dramaturgisch geschickt, mit dialogischer Finesse und Situationskomik zu erfassen. Andererseits plappern ihr die Figuren einfach zu viel. Vor lauter Geschwätz über historische Begebenheiten im Stil von Baedeker-Einträgen anno 1913, verliert Sternburg mitunter den Faden und langweilt sich. Aber so ist das eben auf Zugfahrten, meint sie.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2019

Rezensent Tilman Spreckelsen bespricht diesen Roman zusammen mit Jáchym Topols Roman "Ein empfindsamer Mensch". Der Vergleich bietet sich an, denn bei beiden handelt es sich um Reiseromane, und beide versuchen eine Reflexion über Mitteleuropa nach 1989. Beiden Autoren attestiert der Rezensent ein waches Gespür für den neuen Nationalismus in den mitteleuropäischen Ländern. Was Duktus und Humor angeht, unterscheiden sich beide Romane laut Spreckelsen aber sehr deutlich: Topols Humor sei grotesk, Rudis' Witz dagegen eher sanft. In "Winterberg" sind es zwei sehr unterschiedliche Protagonisten - ein Mann von annähernd hundert Jahren und sein Pfleger - die die Stationen eines Baedekers von vor dem Ersten Weltkrieg abfahren, als Mitteleuropa noch ganz, wenn auch nicht heil war. Beide jagen ihren Dämonen hinterher, so Spreckelsen, und in beiden überblenden sich für den Rezensenten Aktualität und Beschreibung der Vergangenheit, für die das Ambiente einer Zugfahrt mit ihren gleichmäßigem Geratter geradezu ideal sei. Und nebenbei gehe es um die Frage, was vom Alten im Neuen zu retten sei.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 16.03.2019

Rezensent René Hamann kann es nicht anders sagen, als dass es sich bei "Winterbergs letzte Reise" um einen Eisenbahn-Roman handelt, der "nicht wirklich in Fahrt kommt". Der greise Winterberg reist hier mit seinem Pfleger per Zug zu Stationen, die ihn aus Interesse am preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und dem Kaiserreich Österreich-Ungarn faszinieren, erzählt der Kritiker, der das eigentlich für keinen schlechten Aufhänger zu halten scheint. Weil der Roman nur wenig äußere Handlung hat und ihn ansonsten zu sehr daran erinnert, dass "Opa wieder vom Krieg erzählt", konnte Hamann ihm dennoch nicht allzu viel abgewinnen.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.03.2019

Rezensent Hans Peter Kunisch ächzt zwar ein wenig angesichts der Länge dieses Romans, dennoch bereut er keine Seite der Lektüre. Der Geschichte um einen 99jährigen Deutschen namens Winterberg und seinen tschechischen Pfleger und Sterbebegleiter, die auf einer langen "komisch-unheimlichen" Zugfahrt in die deutsch-tschechische Vergangenheit eintauchen, merkt der Kritiker die Leidenschaft des tschechischen Germanisten und Autors an. Wie Rudis seinen Alten mit "makabrem Unterton" von k.u.k-Erinnerungen, Feuerhallen und Verbrennungsöfen erzählen lässt, findet Kunisch eindringlich und doppelbödig. Über die Geschichte des Pflegers, der andeutet, 1972 mit einer Gruppe junger Tschechen ein tschechisches Flugzeug gekapert zu haben, um nach dem russischen Einmarsch aus der Tschechoslowakei zu fliehen, hätte der Kritiker allerdings gern mehr erfahren.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 08.03.2019

Rezensent Holger Heimann folgt mit Jaroslav Rudis' Roman einem ungleichen Paar auf eine Reise quer durch Europa. Dass die Reise der beiden Männer sowohl tief in die persönliche als auch in die europäische Geschichte führt, historische Linien bis in das Österreich-Ungarn von 1913 zieht und Zusammenhänge aufdeckt, findet Heimann reizvoll. Die Monologe im Band erinnern Heimann an Thomas Bernhards Satzkaskaden. Sie korrespondieren dem Rhythmus der Zugreise, meint er. Den Humor dieser Reden aber entlarvt der Rezensent als vordergündig. Darunter, erklärt er, liegt eine tiefe Melancholie. Die Kunst des Autors liegt für ihn darin, beides in Balance zu halten.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 05.03.2019

Hm, schade. Streckenweise folgt Rainer Moritz Rudis Erzählung gern: Der Roman ist ihm eine tour d'horizon durch die Geschichte Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert mit einem nostalgischen Akzent auf dem Habsburgerreich, so scheint es. Die Schlacht von Königgrätz 1866 sei für den 99-jährigen Romanhelden der Angelpunkt der Geschichte: Von dort aus ging es bergab, Richtung Nationalismus. Der Held erzählt das alles seinem Pfleger, mit dem er im Zug unterwegs sei, so Moritz. Aber leider erzählt er ein bisschen zu viel: Der Roman wird dem geduldigen Rezensenten irgendwann zu lang. Der Leser ermattet vor so viel Geschichte und Geschichten.