Fatma Aydemir

Dschinns

Roman
Cover: Dschinns
Carl Hanser Verlag, München 2022
ISBN 9783446269149
Gebunden, 368 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt "Dschinns" nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.2022

Rezensentin Nicole Henneberg ist begeistert von Fatma Aydemirs Familienroman, erzählt von der zweitältesten Tochter, einer Germanistin, die ihre türkische Mutter mit Judith Butler traktiert. Es geht um die Leerstellen in der Einwanderergeschichte der Familie, erkennt Henneberg, und diese inszeniert die Autorin laut Rezensentin mitreißend und geschickt zwischen den Träumen und Traumata des Gastarbeiter-Vaters und den Erfahrungen seiner Kinder mit dem Schweigen der Eltern. Besonders die Frauenfiguren im Text scheinen Henneberg stark gezeichnet. Sprachlich überzeugt die Autorin Henneberg mit einem klaren, eleganten, aber emotionalen Ton. Wie Mutter und Tochter im Buch schließlich das Schweigen brechen, findet sie "grandios" beschrieben.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.02.2022

Rezensentin Iris Radisch kennt Fatma Aydemirs "kämpferische Unerbittlichkeit" bereits aus deren Kolumnen. Aber die kann sie im neuen Roman nicht überzeugen. Das liegt für Radisch zum einen am Ton des Romans, in dem Aydemir von "verkacktem Leben", "verficktem Land" oder "Scheißfamilien" im "Scheißkaff" schreibt. So klingt "stereotyper" Politaktivismus, aber nicht Literatur, meint die Kritikerin. Und dass die Autorin dann noch von Migration, Homophobie, Gendertheorie, Rassismus und Transgender-Debatte alles in den Roman packt, worüber aktuell diskutiert wird, bleibt für die Rezensentin vom Buch nicht mehr übrig als das aalglatte Dokument der Zurschaustellung einer "makellosen Gesinnung". Autsch.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 16.02.2022

Rezensentin Susanne Lenz lauscht gespannt der ganz eigenen Stimme mit der Fatma Aydemir in ihrem zweiten Roman von Migrationserfahrung erzählt. Zugleich Familien- und Gesellschaftsroman wird darin die Geschichte einer Familie erzählt, deren Vater als Gastarbeiter nach Deutschland kam und kurz nach Antritt der Rente an Erschöpfung starb, nun ziehen die Mutter und die drei Kinder in die Istanbuler Wohnung, die der Vater für seine Pension vorgesehen hatte, resümiert die Rezensentin. Indem Aydemir jedem Familienmitglied ein Kapitel widmet, veranschauliche sie gekonnt die zahlreichen Aspekte des sogenannten "Migrationsspagats" und wie jede einzelne Figur diese für sich selbst aushandelt, meint Lenz: von den Gastarbeitern in der Türkei zurückgelassene Kinder, "Racial Profiling", "Sexualmoral" und mehrdimensionale Identitäten.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 16.02.2022

Rezensentin Meike Fessmann ist völlig aus dem Häuschen angesichts von Fatma Aydemirs deutsch-türkischem Familienroman, der sich um den plötzlichen Tod eines Patriarchen und die hektischen Beerdigungsvorbereitungen entwickelt. Dichte, soziologische Genauigkeit und Einfühlung der Geschichte scheinen Fessmann bemerkenswert. Die Vielfalt der Erzählperspektiven meistert die Autorin laut Fessmann bravourös und jeweils absolut glaubwürdig und stimmig. Dem Lüften von Familiengeheimnissen, den Diskursen über Identität und Herkunft im Roman lauscht Fessmann mit Spannung und Vergnügen. Dramaturgie, Dialoge, Leitmotivik - all das beherrscht die Autorin souverän, findet sie.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 14.02.2022

Fatma Aydemirs Roman ist für Rezensent Christoph Schröder ein formal äußerst unausgegorener Text. Unklare Perspektivik, nicht oder nur unzureichend ausgeführte Motive und Figuren, dazu Klischees und unrealistische Volten, zählt er auf. Dennoch scheint ihn das Buch zu faszinieren. Das liegt für Schröder an der Vielfalt aktueller Themen von weiblicher Selbstermächtigung, Rassismus bis Klassismus und Sexualität, sowie an deren atmosphärisch starker Behandlung, die die Gegenwart und den historischen Kontext gleichermaßen in den Blick nimmt. Die quälende Ohnmacht der verschiedenen Generationen einer unterprivilegierten türkischen Familie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird dabei gut sichtbar, findet der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.02.2022

"Kaum weglegen" kann Rezensent Tobias Rüther Fatma Aydemirs neuen Roman, der manches ähnlich, einiges aber auch anders mache als sein Vorgänger "Ellbogen". Ganze sechs Perspektiven nehme die Autorin in ihrem Familienroman abwechselnd ein: die der Eltern, 1979 aus der Türkei nach Deutschland ausgewandert, und die der vier Kinder mit jeweils ganz eigenen Problemen mit Heimat und Tradition. Dabei gelinge Aydemir der individuelle Tonfall der Figuren mal besser (wie bei der ältesten Tochter, die ihren Mann verlässt), mal weniger gut (wie beim "Männermelodram" des chaotischen Sohns). Besonders spannend findet Rüther außerdem eine weitere, mysteriöse Ich-Perspektive, vielleicht eines Geistes, die den Roman rahmt, weil sie eine externe Perspektive auf die Eltern erlaube. Neben Aydemirs Talent zur Beschreibung von Gesten schätzt der Kritiker außerdem die politische Dimension, die der überwiegend in den 90er Jahren spielende Roman aufmacht, wenn es um eine an Solingen und Hoyerswerda angelehnte "Mobstimmung" geht. Dass der Roman auch mit klassischen Elementen wie Geheimnissen operiert, stört den Rezensenten keineswegs.