Amitav Ghosh

Hunger der Gezeiten

Roman
Cover: Hunger der Gezeiten
Karl Blessing Verlag, München 2004
ISBN 9783896672032
Gebunden, 544 Seiten, 22,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen Barbara Heller. Die Sundarbans in der Bucht von Bengalen - ein unbesiedelbares Land der Ebbe, zusammengehalten von den graugrünen Wurzeln der Mangroven, beherrscht von Bengalischen Königstigern. Schon seit Jahrzehnten setzen sich westliche Tierschutzorganisationen für den Erhalt der gefährlichen Raubkatzen ein und haben deshalb in den Sundarbans das »Projekt Tiger« ins Leben gerufen. Auf Kosten der Menschen - so sehen das zumindest die Bewohner der Inselwelt, die jährlich rund hundert von Tigern gerissene Opfer zu beklagen haben. Für sie ist jeder, der eine Großkatze erlegt, ein Held. Die amerikanische Meeresbiologin Piya ist in diesen gefährlichen Archipel gekommen, um Delfine zu erforschen. Der Fischer Fokir beeindruckt sie tief durch sein Gespür für das Wasser, denn er kann sie zu den nur schwer auffindbaren Delfingründen rudern. Während er seine Krebsnetze auswirft, beobachtet sie die stahlgrauen Tiere - und dabei finden die beiden zueinander, ohne Worte, denn sie sprechen keine gemeinsame Sprache.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.03.2005

Auch wenn Amitav Ghosh zu den englischsprachigen Autoren Indiens gehöre, sei er der indischen Kritik "der liebste unter den an Amerika verlorenen literarischen Söhnen", berichtet Martin Kämpchen. In Indien hätte man besonders das "bengalische Aroma" des neuen Romans gelobt, der in den Sundarbans spielt, im Mündungsdelta des Ganges. Denn eigentlich sei Ghosh derjenige unter den indischen Autoren, der am konsequentesten das ländliche Milieu beschreibt, meint Kämpchen. Das bengalische Aroma kann seines Erachtens allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem großanlegten Werk an literarischer Tiefe fehlt. Das Ende sei verkitscht, der Epilog überflüssig, zählt der Rezensent als Kritikpunkte auf; einige Kapitel seien so mit Fakten überfüllt - Ghosh ist bekannt für seine reportagehafte Aufarbeitung wissenschaftlicher Zusammenhänge - , dass die Erzählung auseinanderzufallen drohe. Trotzdem bewahre sich der Autor ansonsten seinen eleganten, eloquenten Stil, der geschickt zwei Erzählstränge - die Forschungsreise einer Meeresbiologin im Mündungsdelta und die Geschichte eines Geschäftmannes aus Delhi, der sich in sie verliebt - miteinander zu verquicken wüsste. Aber alles stilistische Können und die versammelte Faktenkomptetenz könnten nicht darüber hinweg täuschen, dass Ghosh selbst lediglich mal auf Studienreise in den Sundarbans gewesen sei, stellt Kämpchen klar.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 01.03.2005

Durchaus angetan zeigt sich Meike Fessmann von Amitav Goshs neuem Roman "Hunger der Gezeiten" - auch wenn man dafür einen langen Atem brauche, weil sich der Autor Zeit lasse. Im Mittelpunkt des Geschehens steht laut Fessmann eine Dreiecksgeschichte zwischen einer indischstämmigen Meeresbiologin aus Seattle, die im Archipel der Sundarbans Delta von Ganges und Brahmaputra den Orcaella, einen Flussdelfin erforscht, einem verschlossenen Fischer und einem Großstadt-Single. Das Dreieck aus den zwei extrem unterschiedlichen Männern und der knabenhaften Forschungsnomadin findet Fessmann in menschlicher Hinsicht zwar "überaus labil". Erzähltechnisch aber leite es den Autor sicher durch die Untiefen seines Romans. Dessen großes Thema sieht die Rezensentin im "Antagonismus von Naturgewalt und kulturellen Errungenschaften". Dabei stelle Gosh die Praxis sentimentaler Umwelt- und Tierschützer ebenso in Frage wie die einheimische Politik, die nur zu gern vermeintlich übergeordnete Ziele anführe, wenn es darum gehe, die Schwächsten der Schwachen niederzuhalten. So habe er auch das historisch verbürgte Massaker auf Morichjhapi, einer Insel des Archipels, in die Geschichte eingearbeitet.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.01.2005

Katharina Granzin bewundert die Meisterschaft von Amitav Ghosh in der Disziplin der "literarischen Reportage" und nimmt ihm deshalb nicht übel, dass er vielleicht ein paar Themen und Thesen zuviel im vorliegenden Roman untergebracht hat. Zumal "Hunger der Gezeiten" durch seine ungewollte Aktualität umso stärker wirkt: Auf der Inselgruppe der Sundarbans vor dem bengalischen Festland (eine "malerische, aber unwirtliche Landschaft" mit häufigen Unwettern und aggressiven Tigern) geraten drei Menschen - eine indischstämmige Amerikanerin, die das Leben der Delphine erforscht, ein Übersetzer und Frauenheld vom Festland und ein einheimischer Fischer - in den Wirkungsbereich eines Tornados, der eine gewaltige Flutwelle auslöst. Das eigentliche Thema, so Granzin: "das stets prekäre Verhältnis von Mensch und Natur, das hier wie in einer zivilisatorischen Vorstufe (?!) betrachtet werden kann". Leider manchmal zu "thesenhaft" aufbereitet, aber im Ganzen "atemberaubend" und "präzise" erzählt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 29.12.2004

Sehr wohlwollend bespricht Irene Binal den neuen Roman des schreibenden Historikers und Sozialanthropologen Amitav Ghosh. Der indische Autor erzählt eine Dreiecksgeschichte, die in den Sundarbans, der bedrohten und bedrohlichen Welt des Ganges-Deltas angesiedelt ist. In dieser außergewöhnlichen Region, dem "Gezeitenland", treffen drei unterschiedliche Charaktere aufeinander: Der naturverbundene, einheimische Fischer Fokir, die amerikanische Meeresbiologin Piya und der urbane Dolmetscher Kanai, den die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit ins Gezeitenland verschlagen hat. Ausgehend von dieser Dreiecksbeziehung entwirft der Autor ein "gewaltiges Panorama der Sundarbans und ihrer Geschichte", erläutert die Rezensentin, die den Schauplatz als einen symbolischen Ort interpretiert: Das Gezeitenland sei eine Brücke zwischen Natur und Zivilisation, eine Verbindung zwischen Gestern und Heute. Auch das "Lebensthema des Autors" hat Irene Binal in Ghoshs Roman ausgemacht: die Globalisierung und ihre Auswirkungen. In den drei Hauptfiguren sieht sie Repräsentanten unterschiedlichster Weltanschauungen, deren Annäherung zwar schwierig, aber nicht unmöglich sei. Insgesamt ist "Hunger der Gezeiten" nicht weniger als ein Hohelied auf die Erde und ihre Schönheit, meint die überzeugte Kritikerin.
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