Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Oktober 2023

Exitus und Riesenjubel

31.10.2023. Die Filmkritiker gehen auf die Knie vor Sandra Hüller: In Justine Triets cannes-prämiertem Gerichtsdrama "Anatomie eines Falls" spielt die deutsche Schauspielerin auf Oscar-Niveau! Veröffentlicht mehr Bücher aus dem ukrainischen Krieg, ruft die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig in der FAZ . Die Literaturinstitutionen reagieren auf die Vorwürfe, sie würden zu Israel schweigen, etwas verschnupft. Die taz bewundert, wie der Künstler Sarkis Traumata heilt. Die SZ schwärmt von Asmik Grigorians girrender und zärtelnder "Salome" an der Staatsoper Hamburg. 

Für das Auge wäre das zu viel

30.10.2023. Im Kino kehrt der Krieg in der Ukraine wieder in die Aufmerksamkeit zurück: Zeit-Online hat beim Ukrainian Film Festival in Berlin erschütternde Dokumentarfilme gesehen. Die NDR-Doku "Deutsche Schuld" über die Kolonialzeit in Namibia ruft viel Protest hervor, berichtet die taz. Die FAZ schmilzt dahin, wenn Keith Jarrett Bach spielt: Was für eine behutsame Anschlagskultur! Außerdem entdeckt sie auf der Fotobuch-Messe in Bristol wahre Schätze. Die Nachtkritik reist mit Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Heiner Müllers "Der Auftrag" ins Herz der Finsternis.

Explosives kulturelles Material

28.10.2023. Im Spiegel kritisiert die Künstlerin Hito Steyerl scharf einen Offenen Brief "für die Befreiung Palästinas!" in Artforum, den Tausende Künstler unterzeichnet haben. Warum Antimoderne und Antisemitismus fast zwangsläufig Hand in Hand gehen, erklärt in der taz der Künstler Leon Kahane. In der FAS staunt Salman Rushdie noch immer, dass seine "Mitternachtskinder" nicht das Ende einer Tradition einläuteten, sondern einen Anfang. Die taz amüsiert sich mit Lars von Triers "Geistern" und berichtet begeistert von der Kibera Fashion Week in Nairobi. Die SZ bewundert in Venedig die Frechheit Marcel Duchamps.

Wer Erlösung erwartet, ist falsch

27.10.2023. In der Welt fordert Mirna Funk - nachdem der Münchner Kunstverein auch nach unsäglichen Tweets an der Künstlerin Noor Abuarafeh festhält - eine Ent-Hamasifizierung des Kunstbetriebs. In der nachtkritik steht der linke israelische Theatermacher Gad Kaynar Kissinger ratlos vor dem Schweigen seiner palästinensischen Kollegen. Der iranische Regisseur Ali Samadi Ahadi erinnert in der Welt an den iranischen Filmemacher Dariush Mehrjui, der vor wenigen Tagen in seinem Haus ermordet aufgefunden wurde. Van resümiert die Donaueschinger Musiktage. FAZ und FR feiern die große Lyonel-Feininger-Ausstellung in der Frankfurter Schirn.

Niemand braucht hier einen safe Space

26.10.2023. Der neue Asterix-Band ist da, erstmal getextet von Fabcaro: Weder woke noch anti-woke, dafür ausgesprochen spritzig, freuen sich die Kritiker. Seit der Nachkriegszeit ist der Judenhass in Deutschland unverändert, meint in der Zeit Michel Friedman, dessen Roman "Fremd" nun von Sibel Kekili auf die Bühne gebracht wird. Die FAZ starrt in Berlin in der Ausstellung "Läuft" auf blutige Sporthosen und lernt, dass Menstruationsblut Pflanzen doch nicht tötet. Und in der FR erklärt Timm Kröger: Er wollte einen Film machen, der so wirkt, als würden Hitchcock und Lynch auf dem Teppich einer alten Hotellobby Liebe machen.

Die Formen unserer Fantasie

25.10.2023. Der Tagesspiegel wirft einen vielleicht letzten Blick auf die marmorweiße elegante spätsowjetische Architektur in Taschkent, die vom Abriss bedroht ist. In Dezeen klagt der Architekturprofessor Aaron Betsky über die neue Langeweile der niederländischen Architektur, findet dann aber doch ein paar eindrucksvolle neue Blüten. Die FAZ bewundert in Timm Krögers Film "Die Theorie von Allem" elegante Schwünge im Inneren der Schweizer Berge. Der Antizionismus der Clubszene ist immer stärker antisemitisch grundiert, meint in der SZ der Antisemitismusforscher Jakob Baier.

Kaleidoskop der Details

24.10.2023. Wo war eigentlich das besondere Sicherheitskonzept auf der Frankfurter Buchmesse, fragt die SZ. Außerdem schwärmt sie vom neuen Entwurf für die deutsche Botschafterresidenz in Tel Aviv. Die Schriftstellerin Rebecca F. Kuang will vor allem als Geschichtenerzählerin, nicht als asiatische Autorin wahrgenommen werden, verrät sie ZeitOnline. Die taz blickt zurück auf das Werk von Füsun Onur - einer unerschrockenen Pionierin der türkischen Avantgarde.

Ekstatische Posen als Genussverstärker

23.10.2023. Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Die Welt schwärmt von seiner Rede, in der er den Ernst der politischen Lage mit den Spinnereien der Literatur zu verbinden wusste. Diese Rede war ein wahres Geschenk, freut sich auch die SZ. Eine Lizenz der Literatur auf beißende Satire sieht die FAZ darin. Die Zeit erklärt, warum sie ihr Gespräch mit Adania Shibli doch nicht veröffentlicht hat. Die Kritiker bewundern die Tänzerin Veronika Frodyma als verzweifelte "Bovary" in Christian Spucks Einstandsstück am Staatsballett Berlin.

Etwas zu viel Flow

21.10.2023. Die Feuilletons teilen Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse: Wo bleibt bei den ganzen politischen Debatten eigentlich die Literatur, fragt die taz. Salman Rushdie folgen die Kritiker auf Schritt und Tritt: Die FR lauscht hingerissen seinem Geplauder und und hätte gerne noch mehr davon gehört. Die SZ denkt mit Ingrid Lausunds Monolog "Der geflügelte Froschgott" über Pizza im Jenseits nach. Und die Filmkritiker gratulieren Catherine Deneuve zum Achtzigsten.

In Schweiß gebadet von der Jubel-Permanenz

20.10.2023. Permanente Polizeibewachung und angespannte Stimmung auf der Buchmesse: Der Hamas-Terror und der Fall Shibli sind die bestimmenden Themen, auch bei ZeitOnline. Die SZ ist genervt von Verlagen, die sich in den sozialen Medien als infantil jubelnde Marktschreier betätigen. Mit dem Opernmonstrum "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss hat die Lyoner Oper einiges gewagt - und gewonnen, schreibt die mitgerissene nmz. Dass Schriftsteller ihr Leben gerne wie eine ihrer Geschichte inszenieren, lernt die FAZ in einem Doku-Film über John Le Carré. Der Standard empfiehlt außerdem die Einnahme von Halluzinogenen für den vollen Krautrock-Hörgenuss.

Wesen mit Besenfrisur

19.10.2023. Die abgesagte Preisverleihung an Adania Shibli sorgt weiter für Wirbel. In der taz greift Julia Hubernagel die Verteidiger der Autorin an: Möglich, dass Shibli nicht mehr gar so krasse Anti-Israel-Positionen vertritt wie früher; aber warum schweigt sie jetzt? Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon" begeistert die Kritiker durch Opulenz, Bildgewalt und Rassismuskritik. Nur der Tagesspiegel findet, der Film hätte etwas mehr Critical Race Theory vertragen. Außerdem trauert das Feuilleton um die Jazzmusikerin Carla Bley und den Architekturkritiker Wolfgang Pehnt.

Divers kuratiert

18.10.2023. Die Frankfurter Buchmesse hat eröffnet: Israel sollte eigentlich Ehrengastland werden, findet die FAZ. Slavoj Zizek hingegen wirbt in seiner Eröffnungsrede um Verständnis für die Palästinenser. Auch die Debatte um Meinungsfreiheit zündet weiter: Im Fall der verschobenen Preisverleihung für die Autorin Adiana Shibli sieht Ilija Trojanow in der taz tribale Selbstgerechtigkeit am Werk. Die Welt wiederum fragt, wie divers der Literarische Herbst in Leipzig ist, wenn Alice Schwarzer wie gefordert ausgeladen wird. Die FAZ begeistert sich für rotierende Totenschädel in einer Londoner Frans-Hals-Ausstellung. Die NZZ begutachtet nigerianische Architektur auf dem Wasser.

Gedankenreiche Paradoxie

17.10.2023. Tonio Schachinger erhält für "Echtzeitalter" den Deutschen Buchpreis 2023. ZeitOnline ist begeistert, die übrigen Kritiker zürnen zumindest nicht. Ein gutes Buch zur falschen Zeit, findet die Welt. Im Freitag spricht der slowenische Schriftsteller Drago Jančar darüber, warum in seinen Romanen zwar der Zweite Weltkrieg eine Rolle spielt, aber nicht der Zerfall Jugoslawiens. Bei dem am Samstag ermordet aufgefundenen iranischen Regisseur Dariusch Mehrdschui sind zuletzt offenbar Morddrohungen eingegangen, schreiben taz und FAZ.

Zwischen den Gedichten

16.10.2023. Die Feuilletons trauern um Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück: Die FAZ umarmt mit ihr das Nichts als stofflichen Wert des bedeutsamen Gedichts, die FR feiert ihr Genie der Einfachheit. Die Nachtkritik erlebt mit Johan Simons "Die Brüder Karamasow" in Bochum einen monumentalen Abend der großen Fragen. Die FAZ stellt fest: Franz von Assisis Ideen sind heute aktueller denn je, genauso wie die Kunstwerke, die ihn zeigen.

Stimmig, kostbar, seltsam und schräg

14.10.2023. Gut, dass Salman Rushdie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, meint die taz. Aber gerade jetzt hätte die Jury auch würdigen können, dass Rushdie mit den "Satanischen Versen" eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Auf Zeit Online betont der polnische Fotograf Rafal Milach die Bedeutung linker Protestkultur in Polen, nur: Die katholische Kirche ist immer mächtiger. Der Tagesspiegel lernt in der Berliner AdK, dass die Masse allen verbauten Betons bald die weltweite Biomasse übertrifft. Die amerikanische Lyrikerin Louise Glück ist gestorben, melden die Zeitungen.

Mozart, Matrose, Zylinder-BH

13.10.2023. Die taz berichtet über einen Kongress des Instituts für Neue Soziale Praktik, der die antisemitische Kritik an Israel in der Kunstszene aufs Korn nimmt. Die SZ fragt sich in einer Hamburger Otto-Dix-Ausstellung: Wo bleibt sein Opportunismus? Die NZZ feiert die sinnlichen Qualitäten des italienischen Kinos mit Alice Rohrwachers "La Chimera". Die Theaterkritiker amüsieren sich mit Tanz und mit hundert Millionen Svarowski-Kristallen besetzten Gaultier-Kostümen in der neuen  Friedrichstadtpalast-Revue "Falling in Love". In der taz erinnert der israelische DJ Moscoman die zum Terror der Hamas schweigende Clubszene: Es hätte auch sie treffen können.

Wir sind gefordert, uns einzumischen

12.10.2023. FAZ und SZ verteidigen Adania Shiblis Roman "Eine Nebensache" gegen den Vorwurf des Antisemitismus: "Lesarten sind Interpretationen, noch keine Tatsachen", meint die FAZ. In der Zeit möchte Jon Fosse vollkommen hinter seinem Werk verschwinden. Die taz findet in Dresden Trost in den surrealen Kabinetten von Orhan Pamuk. Die SZ lässt sich in Wolfsburg von Kapwani Kiwangas Farben manipulieren. Ist das noch Pollesch, fragt sich die nachtkritik nach dessen Fantomas-Inszenierung an der Volksbühne. Und die Zeit erschrickt vor der "klirrenden Kälte", die ihr nach dem Hamas-Massaker aus der hiesigen Clubszene entgegenweht. 

Die Stille ist doch laut

11.10.2023. Ausgerechnet die deutschen Theater, die sonst so groß sind in Solidaritätsbekundungen, im Mahnen und Einmischen, vermeiden Solidaritätsbekundungen mit Israel, stellt die nachtkritik fest. Kaum auszuhalten findet es die taz, dass Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse für ihren Roman "Eine Nebensache" der "Literaturpreis 2023" verliehen werden soll, obwohl er antisemitische Narrative bedient. Wer ethische Leitlinien sucht, sollte sich besser an die Literatur als an die Religion halten, empfiehlt Salman Rushdie im Tagesspiegel.

Das Wort bannt die Wirklichkeit

10.10.2023. Nach den Anschlägen auf Israel herrscht in der hiesigen Kunst- und Clubszene "ohrenbetäubendes Schweigen". Kein Wunder, wenn man BDS-Sympathisanten und Antisemiten in die Institutionen lässt, notieren taz und Welt. Die FAZ nimmt Salman Rushdies angekündigten Besuch auf der Frankfurter Buchmesse zum Anlass einer literarischen Würdigung. Im c/o Berlin entdeckt sie Schönheit, die wehtut in den Fotografien von Mary Ellen Mark. Essen ist zu beneiden, ruft die SZ nach dem Saisonauftakt am dortigen Schauspielhaus.

Endlich wieder Menschenopfer in Athen!

09.10.2023. Die FAZ erlebt ein "Maximum an künstlerischer Originalität" in der Werkschau des georgischen Malers Niko Pirosmani, die die Fondation Beyeler ausgerichtet hat. Die NZZ bewundert im Strauhof Zürich wilde, anarchische und bösartige Kinder - . zumindest in der Literatur. Die nachtkritik hat wenig Freude an Tina Laniks Inszenierung von Nino Haratischwilis "Phädra, in Flammen": zu viel Herzschmerz. Die taz stellt die ukrainische Modedesignerin Irina Dzhus vor. Die FAZ verneigt sich vor dem Bluesmusiker John Fahey.

Jede seiner Figuren schweigt anders

07.10.2023. Die SZ begeistert sich für Wes Andersons unsagbar kluge Verfilmung von Roald-Dahl-Geschichten. In der FAZ trauert die Schriftstellerin Iris Hanika um die Musen, die derzeit Zwangsarbeit in Russland verrichten. Die FAS fragt entsetzt, warum amerikanische, deutsche, italienische und französische Verlage so gar kein Problem mit dem Antisemitismus von Bernardo Zannonis Tierfabel "I miei stupidi intenti" haben. Die Welt geht mit der britischen Künstlerin Sarah Lucas Spaghetti Bolognese frühstücken. Und: Die Theaterregisseure Thomas Ostermeier, Marius von Mayenburg und Falk Richter erinnern sich an ihre erste Begegnung mit Literaturnobelpreisträger Jon Fosse.

Enigmatische Mitteilungen

06.10.2023. Der Literaturnobelpreis für Jon Fosse kam etwas unerwartet. Und älter, weißer und männlicher ging's auch nicht. Aber die Literaturkritiker sind dennoch zufrieden: atemberaubendes sprachliches Rhythmusgefühl bescheinigt ihm die taz. Die Welt geht sehr gern mit ihm auf Sinnsuche in die Grenzregion des Poetischen. Die FAZ würdigt ihn als Meister der Schwarzmalerei. Die FR freut sich schon, ihn für sich entdecken zu können. Außerdem: Ihr habt keine Chance, aber nutzt sie, ermuntert Dominik Graf laut Artechock den deutschen Filmnachwuchs. FR und Berliner Zeitung freuen sich über die neue Wertschätzung von DDR-Malern wie Willi Sitte und Eric Keller.

Es werden sämtliche Triggerpunkte gedrückt

05.10.2023. Die Filmkritiker suchen mit Paul Schrader und einem Ex-Neonazi im Garten Eden nach Erlösung. Die FAZ plustert mit Constantin Brancusi im rumänischen Temeswar ihren Bronzeleib auf. Die Welt blickt mit Jean-Michel Landon in Mannheim hinter die Fassaden der Massenbauten in den Pariser Banlieues. In der SZ möchte Matthias Schulz, Intendant der Berliner Staatsoper, seine Schutzfunktion gegenüber Anna Netrebko nicht aufgeben. Dank Yussef Dayes atmet die SZ auf: Polyrhythmen können wir immer noch besser als Maschinen.

Alles Finesse

04.10.2023. FAZ und FR schwelgen in einem zähnefletschenden Frankfurter "Figaro". Ein gigantisches Marx-Mosaik wird in Halle ausgerechnet mit Wüstenrot-Geld restauriert, berichtet Zeit Online. Die Welt sieht in einer Bonner Architekturausstellung Berliner Häuser mit den Augen klimpern. Die Literaturkritik trauert um den syrischen Schriftsteller Khaled Khalifa, der sich von den Fundamentalisten dieser Welt die Komik nicht nehmen ließ. Und Teodor Currentzis lässt sich in Russland direkt von Wladimir Putin finanzieren, hat das Badblog herausgefunden.

Ihre Körper sind wie Messer!

02.10.2023. Die taz besucht den 6. Berliner Herbstsalon im Gorki Theater, der den postjugoslawischen Raum in den Blick nimmt. Der Guardian bewundert die Wut Shirin Neshats, die in einer Londoner Ausstellung den iranischen Mullahs die Macht der Frauen vorführt. Die Welt verheddert sich in einer hypnotischen Variation von drei Tönen des Musikers Steven Wilson. NZZ und Welt sind uneins über Kilian Riedhofs Verfilmung von Takis Würgers Roman "Stella": Sechs Millionen Holocaustopfer und Riedhof stürzt sich ausgerechnet auf eine jüdische Kollaborateurin, fragt entsetzt die NZZ. Die Welt wüsste hingegen gern, warum der Film nicht auf der Berlinale gezeigt wurde.