Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2023

Nihilistischer Rasenmäher

30.09.2023. Der Filmemacher Emin Alper erzählt im taz-Gespräch von den Schwierigkeiten, in der Türkei einen Film finanziert zu bekommen: Die Darstellung autoritärer Strukturen kann man an den Behörden vorbeimogeln, aber die Thematisierung von Homophobie geht gar nicht. Wer darf wie über die DDR schreiben und wer nicht: Der Kampf um die Deutungshoheit ist im vollen Gang, beobachten 54books und Literarische Welt. Die nmz sieht mit "The Zeroth Law" einen Musiktheater-Abend, bei dem die Roboter die Macht längst ergriffen haben.

Höllische perkussive Kraftexplosion

29.09.2023. Findet das Theater der Zukunft wirklich in der Virtual Reality statt, während man allein zu Haus sitzt, fragt die FAZ nach einer Kostprobe im Staatstheater Augsburg. In Graz entstaubt Andrea Vilter lieber den Kanon, zum Beispiel mit Christiane Schlegel, notiert eine anerkennende SZ. Der Standard spendet Renate Bertlmann im Wiener Belvedere freudig für die Reliquie des Hl. Erectus. Die NZZ durchstreift die Chanel-Ausstellung in London. Das Neue Deutschland huldigt der Neuen Musik beim Musikfest Berlin.

Vorbewusste Instinkte

28.09.2023. Christian Thielemann wird Daniel Barenboims Nachfolger als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper: "Berlin hat ein Faible für tote Pferde", kommentiert Albrecht Selge in VAN. FAZ und SZ fürchten ein extrem schmales Repertoire für die Zukunft. Nur Welt und Freitag freuen sich über die Berufung. Die Berliner Zeitung starrt gebannt auf eine Kakerlake in Yana Thönnes' Vergewaltigungsdrama "In Memory of Doris Bither". Die FR blickt mit Emin Alpers Paranoiathriller "Burning Days" in die Abgründe einer enthemmten Gesellschaft.

Perversion eines Teppichs

27.09.2023. Die SZ freut sich, dass Intendant Anselm Weber am Frankfurter Schauspiel diese Saison ausschließlich Frauen inszenieren lassen will. Die FAZ wüsste allerdings gern, warum er dann Jessica Glauses Inszenierung von "Orlando" verstümmelt hat. Der russische Oligarch Roman Abramowitsch besitzt Kunst für rund eine Milliarde Dollar, aber wo ist sie, fragt Zeit online. Der KI-Film "The Creator" reißt die FAZ zu Kubrick-Vergleichen hin. Die Zeit unterhält sich mit dem Jazzmusiker Henry Threadgill, der sich vom menschlichen Herzschlag inspirieren lässt.

Ein Regenbogen aus Melancholie

26.09.2023. Die polnische Filmemacherin Agnieszka Holland wird in ihrer Heimat von ihrer Regierung extrem angefeindet, berichtet die FAZ. Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß fordert ein 1968 für die Ostgeschichte. Die FR saust mit Virgina Woolfs "Orlando" am Schauspiel Frankfurt durch die Jahrhunderte und Geschlechterrollen. Die SZ schmilzt beim elektronischen Geräuschglitzer des Cyber-Manga-Gothic-Popstars Yeule dahin.

Geist - wie geisterreich spuken

25.09.2023. Die SZ ist wie elektrisiert von Rainald Goetz Stück "Baracke", das bei der Liebe beginnt und beim NSU-Terror endet. Der Filmemacher Christoffer Guldbrandsen findet sich mit seinem Porträtfilm "A Storm Foretold" über den US-Politikberater Roger Stone in einem amerikanischen Albtraum wieder, berichtet der Tages-Anzeiger. Die FAZ ist fasziniert von chinesischer Kunst aus der Gegend Jiangnan. Die NZZ blickt auf den postumen Erfolg der im vergangenen Jahr überraschend verstorbenen Jazzmusikerin Jaimie Branch.

Rot, Gelb und Blau

23.09.2023. Die NZZ erkennt im Kimono das Kleidungsstück für fluide Identitäten. Der Tagesspiegel erinnert sich mit Hou Hsiao-Hsiens "Millennium Mambo" an die artifizielle, betörende Schönheit des Kinos der nuller Jahre. In der FAZ feiert der Schriftsteller Matthias Jügler die Geburtsstunde einer neuen Generation von Autoren mit Ost-Sozialisierung. Und der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker hält fest: Nicht Bertolt Brecht hat die Theorie des epischen Dramas erfunden, sondern Alfons Paquet. Bei Simon Rattle swingt sogar Haydn, freut sich die SZ über Rattles fulminantes Auftaktkonzert als neuer Chef des BR-Symphonieorchesters.

Erkenntnisgewinn durch Verzweiflung

22.09.2023. Die SZ erlebt Formen der Agnosie in einer Duisburger Ausstellung der Bildhauerin Alicja Kwade. Die neue musikzeitung hat in Straßburg einen Riesenspaß mit Simon Steen-Andersens Oper "Don Giovanni aux enfers", die erzählt, wie es nach Don Giovannis Höllenfahrt weiterging. FAZ und SZ erliegen in der Zeche Zollverein dem Verzweiflungscharme von Nina Hoss in Barbara Freys Inszenierung von Dostojewskis "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch". Artechok fliegt nach Taipeh und lernt in einer Ausstellung über den Autorenfilmer Edward Yang, was Filmkunst ist.

Zwischen dem Oben und Unten

21.09.2023. So kann man Identitätsfragen auch auf die Bühne bringen: mit Leichtigkeit, staunt die FAZ in Yasmina Rezas Pariser Inszenierung ihres neuen Stücks "James Brown benutzte Lockenwickler". Der Tagesspiegel erwartet sich von der Findungskommission für die neue Berlinale-Leitung genau gar nichts. Die Zeit bewundert in Düsseldorf die Filmarbeiten des britischen Künstlers Isaac Julien, der Politik und Schönheit radikal vereint. Tagesspiegel und Filmdienst versinken in "Music for Black Pigeons", einer Doku über den dänischen Jazzgitarristen Jakob Bro und seine Kollaborateure.

Als Hohlform doch präsent

20.09.2023. In Russland ist zeitgenössische Kunst zum Hobby von Töchtern systemtreuer Familien geworden, erzählt der Kunsthistoriker Konstantin Akinsha in der NZZ. Augenkrebs, aber als Ultrakunst: Die FAZ feiert eine Ignacio-Zuloaga-Ausstellung in der Kunsthalle München. In der taz begeistert sich die Altistin Julie Comparini für die Musik und den schwelgenden Masochismus der Barockkomponistin Isabella Leonarda. Die Welt ist immer noch geschockt von der stalinistischen Anmutung eines Podiums über den Band "Oh Boy" beim Literaturfestival in Berlin.

Von fremder Hand geführte Geister

19.09.2023. Beim Filmfestival in Toronto hat Cord Jeffersons Verfilmung von Percival Everetts Roman "American Fiction" den Hauptpreis gewonnen: Der Roman ist zwanzig Jahre alt, aber hochaktuell, freut sich die FAZ. Der nmz bleibt die Luft weg bei John Adams Oper "Doctor Atomic" in Bremen, wo Wissenschaftler in Zeitlupe zu Ungeheuern werden. Niemals wurde etwas Subversiveres über Stalin geschrieben als Ossip Mandelstams "Ode an Stalin", meint Slavoj Zizek in der Berliner Zeitung. Die Gründungskommission für das Deutsche Fotoinstitut steht fest, melden die Feuilletons.

Todessatte Klänge

18.09.2023. Die SZ hört in einem Berliner Flugzeughangar mit Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa", wie eine Revolution entsteht. Die Welt unterhält sich mit der Autorin Natalja Kljutscharjowa über ihre Flucht aus Russland. Die FAZ hört Geister von Staaten streiten in Marina Davydovas theatraler Freiburger Installation "Museum of Uncounted Voices". Die Berliner Zeitung gerät beim Atonal Festival in der Ausstellung "Universal Metabolism" in Trance

Vom Kleinsten ins Kosmische

16.09.2023. Die SZ stellt die iranische Künstlerin Sadaf Ahmadi vor, deren "Tschadors" in Schweden nicht gezeigt werden sollten. Die Welt fragt sich angesichts des Neuen Deutschen Theaters in Essen, ob es vielleicht vorbei ist mit dem Identitätstheater. Zeit Online versteht das Urknallprinzip mit den Songs von Mitzki. Der Filmdienst porträtiert die Filmkomponistin Hildur Guđnadóttir und ihre Kunst, musikalische Abgründe zu vertonen. In der FAZ erklärt Najem Wali, warum er die "Westfälischen Friedensgespräche" ins Leben gerufen hat.

Je nach Position und Lichteinfall

15.09.2023. Mit "Gittersee" ist eine DDR-Geschichte auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet, die die westdeutsche Autorin Charlotte Gneuß verfasst hat. Die FAZ fragt: Darf sie das? Heute abend wird Anna Netrebko in der Berliner Staatsoper die Lady Macbeth singen. Auch hier fragen Musikkritiker und andere: Darf sie das? Die NZZ lernt in Bern mit dem Künstler Markus Raetz einen Magier des Uneindeutigen kennen. Wohltuend zurückhaltend, aber laut SZ und FAZ auch ziemlich unpolitisch scheint Sabine Michels Filmdoku "Frauen in Landschaften" über vier ostdeutsche Politikerinnen zu sein.

Stolze Erektionen

14.09.2023. Edvard Munch schlug 1892 in Berlin ein wie eine Bombe - warum, lernen SZ und Tagesspiegel in einer großen Berliner Munch-Ausstellung. Die hingerissene Welt hört das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth mit Händels "Flavio" swingen, singen und lachen. In der FR kritisiert Autor Michael Kleeberg die neue Lust an der Denunziation. Die taz fragt anlässlich einer Frankfurter Ausstellung: Kann 'Detroit'-Techno nicht auch in Detmold, Ditzingen, Dortmund entstehen?

Das Blau von Ansas Mantel

13.09.2023. Eine Welt ohne falsche Sehnsuchtsfarben: Die Filmkritik freut sich über den neuen Kaurismäki. Kunst und Politik? Das geht, meint die FAZ nach der Brüsseler Uraufführung von  Bernard Foccroulles' Klimaoper "Cassandra". Die Fauvisten feierten lieber das lebbare Leben - auch das ein Akt des Widerstands, denkt sich die Welt in einer Basler Ausstellung. Ai Weiwei erinnert im Tagesspiegel daran, dass man Geld für Kunst auch an die Armen verteilen könnte. Die Art Week Berlin beginnt mit Poledance und Bodybuilding. Die FAZ mag keine baukulturellen Verschwörungstheorien.

Statthalter des Geheimnisvollen

12.09.2023. Kann man einen früheren, zum Kriegsdienst gezwungenen, ugandischen Kindersoldaten wirklich in Den Haag verurteilen, fragt sich der Filmdienst nach der Doku "Theatre of Violence." Die Literaturkritiker hörten gerne zu, wie Salman Rushdie in Berlin via Schalte über seinen Roman "Victory City" sprach. Die taz trauert in Rom mit dem Schmelz von Bruno Martino um den Sommer. Die FAZ taucht mit Claude Débussys "Palléas et Mélisande" in Budapest ab in einen schummerigen Zauberwald des Unbewussten.

Ein Orkan aus Frischluft

11.09.2023. Die Filmkritiker feiern Yorgos Lanthimos' weibliche Frankensteiniade "Poor Things", die bei den Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen erhalten hat: Der Film pustet die Synapsen frei, schwärmt die FAZ, der Filmdienst sieht darin die Welt wie zum ersten Mal. Die FAZ amüsiert sich mit der Adaption von Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Noch wach?" am Thalia-Theater über einen Medienchef als Dracula - taz und SZ vermissen die Frauenstimmen in diesem MeToo-Stück. Die NZZ staunt über die Souveränität von Valdimir Jurowski, der Klimaklebern bei seinem Konzert das Wort erteilt hat.

Die Menschheit, nein, das Universum

09.09.2023. Die Filmfestspiele Venedig gehen zu Ende: Zwei Grenzdramen konkurrieren wohl um den Goldenen Löwen, schreiben die Kritiker. Uneinig sind sie sich, ob Matteo Garrones "Il Capitano" der rechten Regierung Italiens gefallen wird. Wir wollen lieber Bücher schreiben, statt immer nur Anträge auf Stipendien, rufen junge Schriftsteller in der FAZ. Die Nachtkritik hofft mit Philipp Quesnes "Der Garten der Lüste" auf die Erlösung der Menschheit. Berliner Zeitung und taz bewundern, wie Nadia Kaabi-Linke die "Haken der Geschichte" visualisiert.

Die Kraft zu zerstören

08.09.2023. In Berlin wurde das Literaturfestival unter der neuen Leitung von Lavinia Frey eröffnet. Viele Politiker waren dabei, notiert die taz, der unwohl dabei wird, wie eng sich dort Politiker und Kulturschaffende verbandeln. Die Filmkritiker sind immer noch fassungslos, wie Claudia Roth den Berlinale-Leiter Carlo Chatrian abgesägt hat: Roth beschädigt die Berlinale auch perspektivisch, ärgert sich der Tagesspiegel. Der FR ist völlig unklar, wie Roth sich die Zukunft der Berlinale vorstellt. Auch die FAZ fragt, wer den Job jetzt noch machen soll. Und die NZZ wüsste gern, warum sich kein Politiker für Herta Müllers Vorschlag eines Exilmuseums interessiert.

Triebkräfte unseres biologischen Überlebens

07.09.2023. Fast 400 internationale Filmemacher protestieren gegen Claudia Roths Rausschmiss des Berlinale-Leiters Carlo Chatrian. Der Tagesspiegel bewundert in Venedig den furchtlosen Widerstand der Frauen im Iran, die der Regisseur Ayat Najafi in seinem Dokumentarfilm "The Sun Will Rise" porträtiert. In der FAZ preist Francesca Melandri das Schweigen, das für unser Überleben so wichtig ist wie Hunger und Sex. Monopol spürt im gesteppten Satin von Anna Virnich in Köln das kribbelige Unbehagen an der Gegenwart. Und die Zeit lauscht dem Klang der Wangen von Meredith Monk.

Das ist Freude, Optimismus, Liebe

06.09.2023. Sensibler Triumph oder Kostümorgie? Die Filmkritiker in Venedig sind zwiegespalten in Sofia Coppolas "Priscilla"-Biopic. Die FAZ blickt mitfühlend auf drei tote Heringe, denen Chaim Soutine ein Denkmal gesetzt hat. Die SZ feiert das Berliner Musikfest für seine Verspieltheit. Die NZZ erlebt in Lucerne mit Herbert Blomstedt das Geheimnis ganz großer Dirigierkunst. In der FAZ verabschiedet Fiat die Farbe Grau.

Das ist hinreißend!

05.09.2023. Beim Filmfestival Venedig zeigt sich Woody Allen gelassen, dass er seine Filme nur noch in Europa drehen kann. Auch ohne Gardiner, aber vor allem wegen des Monteverdi Choirs war die Berliner Aufführung von Berlioz' "Die Trojaner" ein Ereignis, schwärmt VAN. Und im ZeitMagazin erklärt die Modejournalistin Lynn Yaeger, warum sie ohne Tüll in ihrer Kleidung gar nicht erst aus dem Haus geht.

Fenster öffnen zum Möglichen

04.09.2023. Die Nachtkritik sieht mit Bahram Beyzaies Stück "Yazgerds Tod" in Düsseldorf eine tiefgründige Parabel auf die aktuelle Situation im Iran. Das stalinistische Kino erhebt sich wie ein Zombie aus dem Grabe, erzählt Igor Saweljew in der FAZ. Carlo Chatrian verlässt die Berlinale nun endgültig - zwei bittere Statements sprechen Bände. Der Tagesspiegel zeigt sich darüber fassungslos: Mit dieser brüskierenden Demontage habe Claudia Roth das Festival massiv beschädigt. Ilija Trojanow will mit seinem neuen Roman die Künstliche Intelligenz umarmen, verrät er dem Standard.

Knirschende Beschwörung der Ewigkeit

02.09.2023. Das Publikum feiert Joana Mallwitz, die ihren Einstand als neue Chefdirigentin des Berliner Konzerthauses gegeben hat, berichtet der Tagesspiegel. Giorgos Lanthimos' feministischer Frankenstein-Variante "Poor Things" fliegen beim Filmfestival in Venedig alle Kritikerherzen zu. SZ und FAZ werden bei Dmitri Tcherniakovs düster-wuchtiger Oper "Aus einem Totenhaus" bei der Ruhrtriennale zu Gefängnisinsassen. Und der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch bezeugt in der NZZ die Blutlachen von Dnipro.

Auf klassische Weise altmodisch

01.09.2023. Carlo Chatrians Vertrag bei der Berlinale wird nicht verlängert - ein glatter Rauswurf, staunt die Berliner Zeitung. Der Tagesspiegel wundert sich, dass nach der Doppelspitze plötzlich wieder das Intendantenmodell angesagt ist. Die NZZ schwelgt in Mondschein und Romantik in der großen Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Winterthur. Die FAZ lauscht einer Predigt von Critical Consumption, während sie von Luxusmarken träumt.