Vorworte

Leseprobe aus Jean Stafford: Das Leben ist kein Abgrund

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In der Leseprobe stellen wir den zweiten Teil der Erzählung vor. Die Protagonistin schwebt infolge der verabreichten Beruhigungsmittel zwischen Wirklichkeit und Irrealität, mit den im ersten Abschnitt erwähnten Tamponaden sind die zur Lokalanästhesie verwendeten, kokaingetränkten Gazebäusche gemeint.

DIE INNERE BURG

Sie schnallten ihre Fußknöchel an den Operationstisch und befestigten die Handgelenke mit Lederschlingen. Über ihrem Kopf hing ein Spiegel mit tausend Facetten, in denen sie tausend Zerrbilder ihres Gesichts sah. Rechts von ihr stand der in Weiß gehüllte Tisch mit den blinkenden Klingen vieler Messer, die stoßweise Lichtstrahlen von sich gaben. Das Leinenzeug war eisig; alles blinkte weiß oder silbern und kalt wie Schnee. Dr. Nicholas, ein großer Schneemann mit Silberaugen und silbernen Fingernägeln, kam geräuschlos in den Raum, denn er ging auf Schichten und Schichten von Schnee, die seine Tritte erstickten; hinter ihm der Assistenzarzt, ein kleinerer Schneemann, weniger eindrucksvoll proportioniert. Am unteren Ende des Tisches legte ein Schneefigur ihre gefrorenen Hände auf Pansys hilflose Füße. Der Arzt zupfte die Tamponaden aus der kalten, tauben Nase. Sein Lachen war wie ein Schrei in einer bitteren, stillen Nacht: "Ich werde Ihnen jetzt zeigen", rief er über die weite Schneefläche hinweg, "dass Sie nichts spüren können." Die Zangen fassten nichts, schnappten ins Leere und zerstießen einen Eiszapfen ohne Nerven. Pansy rief zurück und hörte, wie ihre eigene Stimme echote: "Ich spüre nichts."

Die Wände waren hier grau, nicht hellbraun. Plötzlich zerfiel das Gesicht der Schwester am Ende des OP-Tisches, und Pansy dachte zuerst, es sei vor Kummer. Aber es war ein Lächeln, sie sagte: "Hat Ihnen der Kaffee geschmeckt?" Die Worte rieselten die grauen Korridore des Labyrinths entlang, huschten wie Mäuse, Vögel, zerbrochene Glasperlen: Hat Ihnen der Kaffee geschmeckt? geschmeckt? geschmeckt? Ähnlich hatte in einem anderen Raum mit ebenfalls grauen Wänden dieselbe Stimme einmal gesagt: "Soll ich ihr etwas Whisky geben?" Dankbarkeit erfüllte sie, dass diese junge Frau (wie hübsch sie war mit ihrem weißen Haar und dem weißen Gesicht und den kobaltblauen Augen!) damals in der ersten Nacht bei ihr gewesen war und auch jetzt bei ihr war.

In der großen Winterstille begann die Operation. Die Messer schnitten in Schnee. Pansy war glücklich. Kurz bevor sie abgeholt wurde, hatte man ihr ein Hypnotikum verabreicht, und sie wäre eingeschlafen, wenn sie sich nicht so sehr erfreut hätte an dieser List des Dr. Nicholas, den sie jetzt zärtlich liebte.

Im Operationssaal gab es eine Uhr, und von Zeit zu Zeit schaute sie darauf. Eine Stunde verging. Das Gesicht des Schneemanns schmolz; Wassertropfen hingen von seiner feinen Nase herab, aber seine Silberaugen waren so leuchtend wie je. Ihre Liebe wurde erwidert, das wusste sie: Er liebte ihre Nase genauso, wie sie seine Messer liebte. Sie sah in dem gewölbten Spiegel auf ihr Gesicht und sah, wie das Blut ihre lilienweißen Wangen gestreift und ihr Hemd befleckt hatte. Sie kam wieder zurück zu ihrem persönlichen Lied: Hat Ihnen der Kaffee geschmeckt? Kaffee geschmeckt?

Nach einer halben Stunde drang schlangenartig einschläferndes Gemurmel zu ihr, und erst als sie die Worte zweimal wiederholt hatte, prägte sich ihr deren Bedeutung ein. Dr. Nicholas sagte: "Einen Schritt zurück, Schwester. Ich bin gerade am Gehirn von der Kleinen, und ich möchte nicht, dass man mich am Ellbogen stößt." Sofort war Pansy wach. Ihre festgeschnallten Füße wölbten sich wütend; die Handgelenke spannten sich gegen die Armschlingen. Sie zuckte mit dem Kopf und spürte den Schmerz auflodern; sie hatte das Messer zum Abgleiten gebracht.

"Stillhalten!", rief der Chirurg. "Ruhig bleiben bitte!"

Er hatte ihr ins Gedächtnis gebracht, was sie aus dem Sinn verloren hatte, als er ihr seine Gazebrocken in die Nase zwängte: Sie wuselte herum wie eine Hausfrau, um die Haustür zu schließen. Sie dachte, ich muss schnell machen, bevor die Räuber kommen. Es wäre sonst wie damals, als Mutter die Kellertür aufließ und der Räuber kam und ausgerechnet den Blumenkasten mitnahm.

Dr. Nicholas wisperte ihr etwas zu. Er sagte mit der Stimme eines Liebhabers: "Wenn Sie es noch fünf Minuten aushalten, kann ich die zweite Operation gleich jetzt machen und Sie müssen das Ganze nicht noch einmal durchstehen. Was meinen Sie?"
Sie antwortete nicht. Es brauchte einige Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, warum ihrer Mutter der Blumenkasten so wichtig gewesen war, dann fiel ihr ein, dass die Witwe des Bischofs ihr aus Palästina ein Kraut mitgebracht hatte, um es darin einzupflanzen.

Der Assistenzarzt sagte: "Sie wollen doch nicht, dass Ihre Nase noch einmal tamponiert wird, oder?"

Die OP-Schwester sagte: "Sie ist eine tapfere Patientin, nicht wahr, Sir?"

"Tapfer wie noch keine", antwortete Dr. Nicholas. "Aber nennen Sie mich nicht 'Sir'. Sie sind doch keine Kanadierin."

Die Schwester am Fußende sagte: "Ich organisiere noch etwas Kaffee für Sie."

"Nun, wie steht's, Miss Vanneman?", sagte der Arzt. "Soll ich ran?"

Sie überlegte hin und her. Wäre sie erst einmal aus dem Krankenhaus und vor Dr. Nicholas geflohen, konnte nichts sie dazu bringen, zurückzukehren. Anderseits, wusste sie, würde die Zeit kommen, wo sie nicht länger abgeschieden leben konnte, sie wieder in die Welt gehen und gerüstet sein musste, darin zu leben; banalerweise, das war nicht zu leugnen, musste sie atmen können. Und obwohl die Welt, in die sie zurückkehren würde, unwirklich blieb, gab sie dem Chirurgen ihre Zustimmung.

Er musste nun durch Regionen ohne Betäubung, und das erklärte er ihr unumwunden, betonte aber, es gebe keinerlei Gefahr. Er entschuldigte sich, dass er sich versprochen hatte: In Wirklichkeit war er ihrem Gehirn nicht nahe gewesen, das hatte er bloß so gesagt. Er fing an. Die Messer wühlten und ritzten, schrubbten und reinigten die entstandenen Wunden; die Scheren kappten harte Knorpel, und die Skalpelle schabten Knochen ab. Es war, als würde ein Gewirr allerdünnster Nerven, jeder Nerv einzeln, geschickt durchtrennt; der Schmerz wand sich spiralförmig zu ihr hin, die ein rosa Vogel war und oben auf einem Tannenzapfen saß. Der Schmerz war eine Pyramide aus Diamant; er war ein intensives Licht; er war das heißeste Feuer, die eisigste Kälte, der höchste Gipfel, die schnellste Kraft, die fernste Weite, die neueste Zeit. Er besaß von ihr nichts weiter als diese eine unendlich kleine Szene: Jenseits des Wandschirms, dünn wie Spinnenweben, zitterte das Gehirn um sein Leben, hörte die Messer draußen wie witternde, zuschnappende Wölfe auf ihrer Jagd. Gnade! Gnade!, schrien die skalpierten Nerven.

Schließlich, wie durch ein Wunder, richtete sie die Augen ruhig nach innen. Dr. Nicholas hatte gesagt: "Das Schlimmste ist vorbei. Ich werde jetzt an Ihrem unteren Nasengang arbeiten", und bei seinem Signal schloss sie die Augen, und dieses Mal, und nur dieses Mal, sah sie ihr Hirn in einem muschelrosa Seidenfutteral liegen. Es war eine rosa Perle, nicht größer als ein Nadelöhr, aber es war so schön und so rein, dass seine Kleinheit nichts ausmachte. Und ohnehin wuchs es, während sie zusah. Es wuchs und wuchs, bis es eine riesige Blase war, die den Chirurgen und den ganzen Raum in ihren rosigen Glanz einschloss. In einem lange vergangenen Sommer war sie oft ganz versunken gewesen in das Schauspiel eines Schwarms gelber Vögel, die sich auf einer Zeder niedergelassen hatten, und sie erinnerte sich daran, dass in jenem Sommer alles gelb getönt gewesen war. In einem Jahr ihrer Kindheit hatte ihre Mutter sie häufig zum Tee bei einer betagten Lehrerin mitgenommen, auf deren Kaminsims eine Herde Elfenbeinelefanten stand; das war das weiße Jahr gewesen. Es hatte einen grünen Frühling gegeben, als sie früh im April eine Grasnatter auf einem Felsenbrocken gesehen hatte, aber gleich der Sommer darauf war violett, weil Kronwicken den Garten ihrer Mutter erobert hatten. Sie sah ein Stück blauen Tülls in einem Bastkorb auf der Veranda des braunen Hauses ihres Onkels Marion liegen. Nie zuvor war die Welt rosafarben gewesen, was auch immer sonst sie gewesen war. Oder doch, in einer anderen Zeit? Sie konnte nicht sicher sein, und es war ihr egal. Nur eines wusste sie genau: Nie zuvor hatte die Welt sie umschlossen, und nie war die Stille so sanft gewesen.

Nur einen Augenblick lang ließen die Wichtigtuer sie in ihrer Ekstase, dann drangen sie, ungeduldig und schwatzend, in ihr Inneres, zerschlitzten ihre sich wehrende Trance mit Fragen und Glückwünschen, mit irgendwelchen Feststellungen und Scherzen. "Später", sagte sie stumm zu ihnen. "Später vielleicht, ich bin beschäftigt." Aber ihre Stimmen hörten nicht auf. Sie berührten sie auch, wuschen ihr Gesicht mit so kalten Tüchern, dass es brannte, streichelten ihre Handgelenke mit zupackenden, aseptischen Fingern. Der Chirurg drückte ihr den Arm mit onkelhaftem Stolz und sagte: "Braves Mädchen", als wäre sie ein gescheiter Hund, der einen Knochen apportiert hat. Ihr stummer Geist beschimpfte ihn: "Sie sind ein Dieb", sagte er, "Sie sind herzlos und sollten hingerichtet werden." Aber er wandte sich schon zum Gehen, zupfte prahlerisch seinen Kittel zurecht, und der Assistenzarzt folgte ihm in unterwürfiger Bewunderung aus dem Operationssaal, grinsend wie ein alberner Junge.

Kurz nachdem man sie wieder in ihr Zimmer gebracht hatte, änderte sich das Wetter, nicht zum Besseren. Für einen Moment trat die Sonne aus ihrer Verdüsterung hervor, doch wenige Minuten später fiel Schnee und es kam Wind auf, der einen Blizzard verhieß. Da war ein großer Schmerz, aber weil er ihr nicht nutzen konnte, wies sie ihn zurück, und sie lag wie in einer Hängematte, in einer Atempause voller Bitterkeit. Sie machte die Augen zu und verschloss sich in ihrem schatzlosen Kopf.

Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlags.