Vorgeblättert

Neal Stephenson: Quicksilver. Teil 2

21.09.2004.
An der rechten Seite entlang verlief die Privy Gallery. Nun war eine Galerie streng genommen nichts weiter als ein Gang - in diesem Falle einer, der direkt in jene Teile von Whitehall führte, wo der König selbst residierte, mit seinen Mätressen tändelte und mit seinen Beratern zusammenkam. Aber wie sich die London Bridge im Laufe der Zeit mit Häusern und Läden von Kurzwarenhändlern, Handschuhmachern, Tuchverkäufern und Gastwirten überzogen hatte, so hatte sich der Privy Gallery, obwohl sie noch immer eine leere Röhre war, eine unregelmäßige Kruste aus alten Gebäuden angelagert - hauptsächlich Wohnungen, die der König jeweils den Höflingen und Mätressen zusprach, die gerade in seiner Gunst standen. Sie verdichteten sich zu einem Schattenbollwerk rechts von Daniel und wirkten wegen ihrer Vielzahl und ihrer wirren Anlage viel größer, als sie in Wirklichkeit waren - so wie ein Froschkadaver, der in eine Tasche passen kann, dem jungen Naturphilosophen, der ihn sezieren und seine diversen Teile inventarisieren möchte, riesengroß erscheint.
Mehrfach wurde Daniel aus hoch gelegenen, kerzenerleuchteten Fenstern mit Lachsalven überfallen: Es klang nach kultiviertem, grausamem Gelächter. Die Durchfahrt erreichte nach einer Biegung schließlich den Punkt, wo Daniel ihr Ende sehen konnte. Augenscheinlich mündete sie in einen kleinen, kiesbestreuten Hof, den er vom Hörensagen kannte: Theoretisch hörte sich der König an den Fenstern diverser Gemächer und Salons, die auf diesen Hof gingen, Predigten an. Doch ehe sie den heiligen Ort erreichten, zügelte der Kutscher sein Gespann, und die Kutsche hielt an. Daniel fragte sich nach dem Grund und blickte sich um, sah aber nichts weiter als eine Steintreppe, die in ein Gewölbe oder einen Tunnel unter der Privy Gallery führte.
Pepys, Comstock, der Bischof von Chester und Enoch der Rote stiegen aus. Unten in dem Tunnel wurden nun Lichter entzündet. Infolgedessen konnte Daniel durch ein offenes Fenster eine gedeckte Tafel sehen: eine Hammelkeule, ein Rad Cheshire-Käse, eine Schüssel mit Lerchen, Ale, chinesische Orangen. Aber dieser Raum war kein Speisesaal. In den Ecken konnte er das Schimmern von Retorten, Quecksilberfläschchen und Feinwaagen, die Glut von Schmelzöfen sehen. Er hatte Gerüchte gehört, der König habe sich in den Eingeweiden von Whitehall ein alchimistisches Laboratorium bauen lassen, aber bis jetzt waren es nur Gerüchte gewesen.
"Mein Kutscher wird Euch zu Mr. Raleigh Waterhouse? Haus zurückfahren", sagte Pepys, der auf der obersten Treppenstufe stehen geblieben war, zu ihm. "Bitte macht es Euch unten bequem."
"Ihr seid sehr freundlich, Sir, aber bis zu Raleigh ist es nicht weit, und der Spaziergang wird mir gut tun."
"Wie Ihr wollt. Bitte grüßt Mr. Oldenburg von mir, wenn Ihr ihn seht."
"Es wird mir eine Ehre sein", antwortete Daniel und konnte es sich eben noch verkneifen, Und bitte grüßt den König von mir! zu sagen.
Nun nahm er seinen Mut zusammen, ging hinab in den Sermon Court, den Predigthof, und schaute zu den Fenstern der königlichen Gemächer auf, allerdings nicht lange - er versuchte, den Eindruck zu erwecken, als käme er ständig hierher. Ein kleiner Nebengang unter dem Ende der Privy Gallery führte ihn in die Ecke des Privy Garden, einer ausgedehnten Parkfläche. An ihrem Rand entlang verlief parallel zum Fluss eine weitere Galerie, durch die er bis zum königlichen Bowling-Grün und von dort nach Westminster hätte gelangen können. Doch vorläufig hatte er genug Aufregung erlebt - er ging stattdessen quer durch den großen Park in Richtung Holbein Gate zurück.
Überall spazierten und plauderten Höflinge. Daniel drehte sich immer wieder um und blickte zum Fluss hin, um die Unterkunft des Königs und der Königin und ihres Hauswesens zu bewundern, die sich im goldenen Schein unzähliger darin leuchtender Kerzen über dem Park erhob.
Wenn Daniel wirklich der Lebemann gewesen wäre, den er noch vor ein paar Minuten gespielt hatte, hätte er nur Augen für die Leute in den Fenstern und auf den Parkwegen gehabt. Er hätte sich angestrengt, irgendetwas mitzubekommen - einen neuen Trend im Schnitt persischer Westen oder zwei wichtige Persönlichkeiten, die in einer schattigen Ecke miteinander tuschelten. So aber gab es ein und nur ein Spektakel, das seinen Blick anzog wie der Polarstern einen Magneteisenstein. Er kehrte der Behausung des Königs den Rücken und blickte nach Süden über den Park und das Bowling-Grün hinweg Richtung Westminster.
Dort war hoch auf einer verwitterten Stange eine Art unregelmäßige Knolle aufgepflanzt, die im Mondlicht gerade noch als grauer Fleck erkennbar war: der Kopf von Oliver Cromwell. Bei seiner Rückkehr vor zehn Jahren hatte der König befohlen, den Leichnam dort, wo Drake und die anderen ihn begraben hatten, auszuscharren, ihm den Kopf abzuschneiden, diesen auf einer Pike aufzupflanzen und nie wieder herunterzunehmen. Seither schaute Cromwell hilflos auf die Szenerie ungezügelter Lüsternheit herab, die Whitehall Palace war. Und nun schaute er, der einst Drakes jüngsten Sohn auf dem Knie geschaukelt hatte, auf ihn herab.
Daniel legte den Kopf zurück, blickte zu den Sternen auf und dachte, dass dies alles von Drakes Warte im Himmel aus tatsächlich wie die Hölle aussehen musste - und er, Daniel, war mittendrin.

Im Tower von London eingesperrt zu sein hatte Henry Oldenburgs Prioritäten nachhaltig verändert. Daniel hatte damit gerechnet, dass der Sekretär der Royal Society sich kopfüber in den großen Sack mit ausländischer Post stürzen würde, den er ihm mitgebracht hatte, aber ihm lag offenbar nur an den neuen Lautensaiten. Er war zu dick geworden, um sich sonderlich effektiv zu bewegen, deshalb schaffte Daniel aus verschiedenen Winkeln des halbmondförmigen Raums das Nötige herbei: Oldenburgs Laute, zusätzliche Kerzen, eine Stimmgabel, einige Notenblätter, mehr Holz für das Feuer. Oldenburg legte sich die Laute übers Knie wie einen ungezogenen Jungen, dem eine Tracht Prügel zugedacht ist, knotete dem Instrument ein, zwei Stücke Darm um den Hals, die als Bünde dienen sollten (die alten waren völlig abgegriffen), und tauschte dann zwei gerissene Saiten aus. Es folgte eine halbe Stunde des Stimmens (die neuen Saiten dehnten sich immer wieder), dann endlich bekam Oldenburg, wonach er sich wirklich sehnte: Er und Daniel saßen sich mitten im Raum gegenüber und sangen ein zweistimmiges Lied, das so geschickt komponiert war, dass ihre Stimmen sich gelegentlich zu wohlklingenden Akkorden verbanden: Die gebogene Wand der Zelle wirkte dabei ganz ähnlich wie der Spiegel in Newtons Fernrohr und warf den Schall zu ihnen zurück. Nach ein paar Strophen konnte Daniel seine Stimme auswendig, weshalb er sich, als er zum Refrain kam, gerade setzte, das Kinn hob, laut zur Wand hin sang und dabei die von Gefangenen vergangener Jahrhunderte in den Stein gekratzten Graffiti las. Keineswegs vulgäre Graffiti, wie man sie vom Gefängnis von Newgate kannte - das meiste davon war auf Lateinisch verfasst, groß und feierlich wie ein Grabstein, und es gab astrologische Diagramme und von gefangenen Hexenmeistern eingeritzte Zaubersprüche in Runenschrift.
Sodann ein paar Schluck Ale zur Kühlung der Stimmbänder, eine Rehfleischpastete, ein Fässchen Austern und einige von der R. S. gestiftete Orangen, und Oldenburg sortierte rasch die Post - ein Stapel mit den neuesten Begebenheiten aus dem Salon des Hotel Montmor in Paris, ein paar Briefe von Huygens, ein kurzes Manuskript von Spinoza, ein großer Stapel wirrer Suaden von diversen Verrückten und ein Berg Leibniz. "Dass dieser verwünschte Deutsche nie Ruhe geben kann!", brummte Oldenburg - ein Scherz, der, da Oldenburg selbst ein notorisch weitschweifiger Deutscher war, eigentlich auf seine Kosten ging. "Wollen sehen ? Leibniz schlägt vor, eine Societas Eruditorum zu gründen, die junge Landstreicher aufnimmt und sie zwecks Einschüchterung der Jesuiten zu einer Armee von Naturphilosophen ausbildet ? hier seine Überlegungen zum Gegensatz zwischen freiem Willen und Prädestination ? es wäre ein großer Spaß, ihn in eine Auseinandersetzung mit Spinoza zu locken ? hier fragt er mich, ob ich wisse, dass Comenius gestorben ist ? schreibt, er sei bereit, die verlöschende Fackel des Pansophismus* zu ergreifen ? hier haben wir eine leicht fassliche und einfach zu lesende Analyse der Frage, wie das von Gelehrten auf dem Kontinent benutzte, schlechte Latein zu fehlerhaftem Denken führt, und dieses wiederum zu religiösen Schismen, Krieg, schlechter Philosophie ?"
"Hört sich wie Wilkins an."
"Wilkins! Ja! Ich habe überlegt, die Wände meinerseits mit einigen Graffiti zu verzieren und sie in universalen Zeichen zu schreiben ? aber es ist zu deprimierend. 'Seht her, wir haben eine neue philosophische Sprache entwickelt, damit wir, wenn Könige uns einkerkern, eine höhere Form von Graffiti in unsere Zellenwände ritzen können.'"
"Vielleicht wird das ja zu einer Welt führen, in der Könige uns überhaupt nicht mehr einkerkern können oder wollen -"
"Jetzt hört Ihr Euch an wie Leibniz. Ah, da sind ein paar neue mathematische Beweise ? nichts, was nicht schon von Engländern bewiesen worden wäre ? aber Leibniz? Beweise sind eleganter ? hier ist etwas, das er in aller Bescheidenheit Hypothesis Physica Nova betitelt hat. Nur gut, dass ich im Tower sitze, sonst hätte ich nie Zeit, das alles zu lesen."
Daniel machte über dem Feuer Kaffee - sie tranken ihn und rauchten Virginiatabak in Tonpfeifen. Dann war es Zeit für Oldenburgs Abendspaziergang. Er ging Daniel voran einen Stapel aus steinernen Tortenstücken hinab, die eine Wendeltreppe bildeten. "Ich würde Euch die Tür aufhalten und ?Nach Euch? sagen, aber angenommen, ich fiele - Ihr würdet, von mir zermalmt, im Keller des Broad Arrow Tower landen - und mir ginge es prächtig."
"Alles für die Royal Society", scherzte Daniel, der sich darüber verwunderte, wie Oldenburgs Masse die spiralförmige Röhre aus stehender Luft ausfüllte.
"Ach, Ihr seid wertvoller für sie als ich", sagte Oldenburg.
"Pah!"
"Mit meiner Nützlichkeit hat es bald ein Ende. Ihr steht erst am Anfang. Man hat große Pläne mit Euch -"
"Bis gestern hätte ich Euch geglaubt - dann hat man mich bei einem Gespräch zuhören lassen - für mich war es vollkommen unverständlich - aber es hörte sich furchtbar wichtig an."
"Erzählt mir von diesem Gespräch." Sie kamen auf der Krone der alten Blendmauer heraus, die auf der Südseite den Broad Arrow Tower mit dem Salt Tower verband. Arm in Arm schlenderten sie an den Zinnen entlang. Zu ihrer Linken konnten sie auf der anderen Seite des Burggrabens - eines künstlichen, mit der Themse verbundenen toten Flussarms - ein Verteidigungsglacis sehen, dahinter ein paar Baracken und Lagerhäuser, die mit der Navy zu tun hatten, dann die in eine Biegung der Themse geschmiegten Weidegründe von Wapping, trübe Lichter draußen in Ratcliff und Limehouse - und schließlich eine Schwärze, die unter anderem Europa barg.
"Die Personen der Handlung: John Wilkins, Lord Bischof von Chester, und der Hochwohlgeborene Mr. Samuel Pepys, Sekretär der Admiralität, Schatzmeister der Flotte, Schriftführer des Flottenamtes, Stellvertretender Bewahrer des Geheimsiegels, Mitglied der Fischereikommission, Schatzmeister des Tangerausschusses, rechte Hand des Earl von Sandwich, Höfling ? habe ich irgendetwas ausgelassen?"
"Fellow der Royal Society."
"Ja, richtig ? danke."
"Was haben sie gesagt?"
"Zunächst eine kurze Spekulation darüber, wer Eure Post liest ?"
"Ich nehme an, John Comstock. Er hat schon während des Interregnums für den König spioniert, warum soll er dann nicht auch jetzt für ihn spionieren?"
"Klingt plausibel ? das gab Anlass zu einigen Zweideutigkeiten über delikate Verhandlungen. Mr. Pepys meinte - und hier sprach er vom König von England - ?dass er sa soeur überaus liebevolle Gefühle entgegenbringt und ihr viele Briefe schreibt.?"
"Nun, Ihr wisst sicher, dass Minette in Frankreich ist -"
"Minette?"
"So nennt König Charles seine Schwester Henrietta Anne", erklärte Oldenburg. "Ich empfehle Euch aber, diesen Namen in der feinen Gesellschaft nicht zu verwenden - es sei denn, Ihr wollt bei mir einziehen."
"Ist sie nicht diejenige, die mit dem Duc d?Orleans** verheiratet ist?"
"Ja, und indem Mr. Pepys ins Französische verfiel, wollte er dies natürlich hervorheben. Bitte fahrt fort."
"Lord Wilkins fragte sich, ob sie auch antworte, und Pepys sagte, Minette habe einen Briefausstoß wie ein Diplomat."
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* Der Pansophismus war eine unter europäischen Gelehrten verbreitete Bewegung, innerhalb derer besagter Comenius eine wichtige Figur gewesen war; ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass Wilkins, Oldenburg und andere den Experimental Philosophical Club und später die Royal Society gründeten.

** Philippe, Duc d?Orleans, war der jüngere Bruder von König Ludwig XIV. von Frankreich

Teil 3