Vorgeblättert

Martin Pollack: Anklage Vatermord, Teil 1

15.07.2002.
Erstes Kapitel

Über den Beginn der Bergtour ins Tiroler Zillertal wurde im nachhinein kaum mehr gesprochen. Immer nur und immer wieder über die späteren Ereignisse. Wer was gesagt hatte. Wann das gewesen war. Wer wo gesehen wurde. In welchem Aufzug. In welcher Gemütsverfassung. Was er wohl gedacht haben mochte. Erinnerungsfragmente und Spekulationen wurden zu immer neuen Szenen zusammengefügt, die doch nie ein überzeugendes Gesamtbild ergaben oder die ganze Wahrheit enthüllten. Stets blieben Zweifel und Fragen zurück.
Vom Anfang der Tour wissen wir nur so viel, daß Morduch Halsmann und sein Sohn Philipp in Jenbach in den ersten Zug der Zillertalbahn stiegen, der um sieben Uhr abfuhr. Beim Frühstück im Gasthof Goldener Stern, in dem sie übernachtet hatten, hatte Morduch Halsmann seinen Sohn mit barschen Worten zur Eile angetrieben, weil sie sonst noch den Zug versäumen würden. Der Kellnerin, die das Frühstück auftrug, war das grobe Benehmen des Vaters dem erwachsenen Sohn gegenüber in Erinnerung geblieben. Es hatte keinen guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Der junge Mann tat ihr leid. Im Zug waren die beiden keinem aufgefallen.
In Mayrhofen, der Endstation der Zillertalbahn, schlugen die Halsmanns den Weg nach Ginzling ein, der in ihrem Reiseführer verzeichnet war: Sie gingen vom Bahnhof durchs Dorf und weiter zwischen Bauernhäusern bis zur Brücke über den Ziller, dann auf der anderen Seite des hellgrünen Flusses entlang bis zu einem Gasthof, hinter dem sie in einen schmalen Feldweg einbogen, der in den Zemmgrund, ein Seitental des Zillertales, führte. Nach drei Stunden erreichten sie Ginzling, eine kleine Häusergruppe am Zemmbach, aus der ein spitzer Kirchturm mit rotem Dach ragte. Hinter dem Weiler wurden die Hänge auf beiden Seiten des Baches, den dichtes Erlengebüsch säumte, immer steiler. Auf den Wiesen standen Braunvieh, Ziegen und manchmal auch Pferde, semmelblonde Haflinger, die den Wanderern nachschauten. Am frühen Nachmittag erreichten die beiden Männer den Gasthof Breitlahner, wo sie Rast einlegten. Es war Samstag, der 8. September 1928. 
Der Alpengasthof Breitlahner, an der Stelle errichtet, wo sich das Tal gabelt und der Zamser Bach in den Zemmbach mündet, war eher ein Alpenhotel als ein Gasthof: Ein mächtiges, langgestrecktes Holzhaus, zweistöckig, mit gemauerten Fundamenten, einer geräumigen, verglasten Veranda und vierzig Zimmern. Der Gasthof verfügte schon damals, wie eine zeitgenössische Anzeige vermerkte, über "eigenes elektrisches Licht", eine eigene Bäckerei, die das Brot bis nach Ginzling lieferte, und sogar eine Sodawassererzeugung. Daneben betrieb der Breitlahnerwirt Wilhelm Eder eine Almwirtschaft, die den Gasthof mit Milch, Butter und Käse versorgte. In der geräumigen Gaststube saßen Sommerfrischler und Bergsteiger mit einheimischen Bauern, Jägern und Hirten zusammen, und manchmal kehrte auch Fürst Franz Josef Auersperg mit einer Gesellschaft ein. Der Fürst besaß im Zillertal ausgedehnte Jagdgründe und war bei der Talschaft sehr beliebt, weil er bei den großen Treibjagden, die er für seine Gäste veranstaltete, die Männer aus Ginzling als Helfer beschäftigte und gut entlohnte. Obendrein ließ er den Großteil des Wildbrets an einheimische Jäger, Treiber oder auch bedürftige Menschen, die sich kein Fleisch leisten konnten, verteilen und behielt nur die Trophäen und die Decken.
Hinter dem Gasthof überschritten die Wanderer auf einer überdachten Holzbrücke den Zemmbach und stiegen dann in engen Serpentinen steil bergan. Gegen sechs Uhr abends erreichten sie das Gasthaus Zur Alpenrose. Weil die Dunkelheit hereinbrach und sie schon seit dem Morgen unterwegs waren, beschlossen sie, in der Alpenrose zu übernachten. Dem Wirt Josef Geisler fiel auf, daß Morduch Halsmann für sich und seinen Begleiter, den er als seinen Sohn vorstellte, zwei Einzelzimmer verlangte. Als ihm erklärt wurde, daß alle Einzelzimmer belegt seien und es nur noch Doppelzimmer gebe, beharrte er auf dem Wunsch nach getrennten Zimmern und nahm, ungeachtet der Kosten, zwei Doppelzimmer, was Josef Geisler, wie er später sagte, stutzig machte, weil Bergsteiger für gewöhnlich sparsame Gäste waren und jeden Groschen zweimal umdrehten.
Im Gasthof Zur Alpenrose herrschte an diesem Wochenende reger Betrieb, neben Bergsteigern, die von hier zu weiteren Touren aufbrachen, waren zahlreiche Sommerfrischler aus Mayrhofen und Ginzling unter den Gästen, die den in allen Wanderführern als leicht und gefahrlos beschriebenen Weg bis zur Alpenrose auf sich genommen hatten, um von hier den prachtvollen Blick auf die Eiswelt des Waxeck- und Horngletschers zu genießen. In der Gaststube wurde Karten gespielt, getrunken und gelacht, und Morduch Halsmann schloß rasch mit den Leuten an seinem Tisch Bekanntschaft, von denen ihn manche später als gesellig und unterhaltsam beschrieben, während andere meinten, er habe sich angebiedert. Josefine Gehwolf aus München hatte an diesem Samstag, dem Maria-Geburt-Tag, mit dem Chemiestudenten Max Schmid aus Nürnberg eine Tour auf das Schönbichlerhorn unternommen und war über den sogenannten Berliner Höhenweg zum Zemmgrund abgestiegen und in der Alpenrose eingekehrt. Sie erinnerte sich an Morduch Halsmann als einen älteren Herrn mit rundlichem Gesicht, beginnender Glatze und dünner Goldbrille, hinter der lustige Augen blitzten. Er redete viel und laut, mit deutlichem Akzent, der den Ausländer verriet, und machte gern Witze, die manchmal vielleicht etwas gewagt waren, aber schließlich war man auf einer Hütte und unter Bergkameraden, weshalb sie das nicht weiter übelnahm. Der Sohn war im Gegensatz zum Vater auffallend einsilbig und wirkte durch sein Äußeres noch fremder als dieser: gewelltes, schwarzes Haar, nach hinten gekämmt, ein schütteres Oberlippenbärtchen, schwarze Hornbrillen.
Im Gespräch stellte sich heraus, daß Morduch Halsmann Zahnarzt in Riga war, während sein Sohn Elektrotechnik in Dresden studierte. Die beiden erklärten, sie wollten am nächsten Tag "den Schwarzenstein machen", und zwar ohne Führer, weil die Tour in ihrem Buch als einfach und völlig gefahrlos beschrieben wäre. Josefine Gehwolf gab zu bedenken, daß viele Gletscher um diese Jahreszeit tückische Spalten und Schründe aufwiesen, weshalb es ihr doch ratsam erscheine, sich einem Ortskundigen anzuvertrauen, umso mehr, als die Halsmanns, wie sie selber sagten, kaum Bergerfahrung und auch nur eine äußerst dürftige alpine Ausrüstung besäßen. Sie hatten weder Steigeisen noch Eispickel dabei, nur gewöhnliche Wanderstöcke. So könne man auch auf einer an sich ungefährlichen Tour leicht in sein Unglück stürzen, sagte Josefine Gehwolf. Der ältere Halsmann gab ihr recht und erklärte sich bereit, ihrem Rat folgend, einen Führer zu nehmen, ungeachtet der Kosten. Dann fügte er feixend hinzu, sein Sohn würde es vielleicht gar nicht so ungern sehen, wenn er, der Vater, abstürze, denn er warte ja nur darauf, ihn zu beerben, doch diesen Gefallen wolle er ihm nicht tun. Die Gehwolf und ihr Begleiter hielten die Bemerkung für einen Scherz und lachten pflichtschuldig, während Philipp keine Miene verzog und schwieg. Auf Josefine Gehwolf wirkte er verschlossen und mürrisch. Am selben Abend machten die Halsmanns noch die Bekanntschaft eines weiteren Münchner Touristen, der allein unterwegs war und sich bereit erklärte, am nächsten Tag mit ihnen den 3369 Meter hohen Schwarzenstein zu besteigen - auf diese Weise könnten sie die Kosten für den Bergführer teilen und kämen billiger davon. Die Führertaxe von der nahen Berliner Hütte zum Schwarzenstein und zurück war offiziell festgelegt und betrug zwanzig Schilling.
Am frühen Morgen des nächsten Tages stiegen die Halsmanns mit ihrem neuen Bekannten, dem Münchner Elektroingenieur Josef Weil, in Begleitung des Bergführers Franz Steindl zur Berliner Hütte auf, wo sie Steindl an seinen Kollegen Max Pfister aus Jochberg übergab, weil er selber schon eine andere Tour verabredet hatte. Max Pfister war mit seinen Schützlingen bereits einige Zeit unterwegs, als Morduch Halsmann ihn beiläufig fragte, ob er nicht etwas von seinem Tarif nachlassen könne, was Pfister entschieden ablehnte. Er sagte, wenn die Fremden nicht bereit seien, den offiziellen Tarif zu bezahlen, müsse er auf der Stelle umkehren. Halsmann lenkte sofort ein, und der Aufstieg wurde ohne weitere Unterbrechung fortgesetzt. Sonst stellte Pfister den beiden Halsmanns ein gutes Zeugnis aus: Sie gingen sicher und schwindelfrei und hatten nur am Gletscher einige Probleme, weil ihre Bergschuhe zwar neu, aber fürs Eis untauglich waren. Von Unstimmigkeiten zwischen den beiden wollte Pfister nichts bemerkt haben. Morduch Halsmann war gut gelaunt, begrüßte die Bergsteiger, denen sie unterwegs begegneten, mit einem lauten "Berg heil!" und knüpfte gleich eine Unterhaltung an. Auch auf dem Schwarzenstein plauderte und scherzte er angeregt mit anderen Wanderern, besonders mit zwei jungen Schwestern, die in Begleitung von Johann Bauer, Buchhalter eines Sägewerks in Mayrhofen, kurz nach Pfisters Gruppe den Gipfel erreichten. Er zeigte großes Interesse für die alpine Ausrüstung der Tiroler, die Eispickel, Steigeisen und Schneebrillen mitführten. Besonders die Schneebrillen hatten es ihm angetan. Die seien sehr praktisch, sagte er zu seinem Sohn, solche Brillen sollten sie sich für die nächste Tour auch besorgen. "Ach was, das ist nur Einbildung", erwiderte Philipp abschätzig. Steigeisen seien für solche Höhen unbedingt anzuraten, sagte Johann Bauer, und Marianne Oberforcher, eine der Schwestern, warnte die Fremden, daß eine mangelhafte Ausrüstung ihren Träger leicht in Gefahr bringen könne. "Die Berge verzeihen keinen Fehler", sagte sie. Als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, wiederholte Morduch Halsmann seine Äußerung vom Vortag, wonach sein Sohn nur darauf warte, daß er abstürze. Auch diesmal faßten alle die Bemerkung als Scherz auf und lachten. Philipp nahm es gelassen und sagte ironisch: "Sehen Sie, wie schlecht mein Vater von mir denkt?!" Als Johann Bauer später dazu befragt wurde, glaubte er sich allerdings mit einem Mal zu erinnern, daß der Fremde diese Äußerung doch ernst gemeint haben könnte. "Jedenfalls erschien sie mir recht ungewöhnlich."
Bevor die kleine Gruppe den Abstieg antrat, ersuchte Morduch Halsmann den Bergführer, ihm die Besteigung des Dreitausenders in seinem Notizbuch mit Unterschrift zu bestätigen, wovon Pfister anfangs nichts wissen wollte. Er brummte bloß, so etwas sei in den Bergen nicht üblich, solche Bestätigungen würden nur auf Hütten erteilt. Doch Halsmann ließ nicht locker und meinte, seine Freunde zu Hause in Riga würden ihm sonst nie die Besteigung eines Dreitausenders abnehmen und ihn als Aufschneider verhöhnen, worauf Pfister unwillig ein paar Worte in das hingereichte Notizbuch kritzelte. Die Einheimischen verfolgten die Szene mit amüsiertem Grinsen. Philipp Halsmann sagte rückblickend, die Tiroler hätten sich über sie lustig gemacht, weil sie in ihnen Juden erkannt hätten.

Teil 2
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