Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Janos Sekely: Der arme Swoboda. Teil 2

20.02.2006.
Die Wittib lebte nun also vom Müll. Wie eine große aufgeplusterte Henne stocherte sie den ganzen Tag in den Abfällen herum. Doch wenn es Abend wurde, wartete sie gewaschen und geschrubbt und nach Talgseife duftend auf ihren Swoboda, um ihn mit einem leckeren Abendessen zu empfangen. Sie war eine große, dunkelhaarige Frau in den Vierzigern, und sie vergötterte Swoboda. Schwer zu sagen, ob sie Swoboda seinetwegen oder nur seines männlichen Drums-und-Drans wegen liebte. Ist ja auch egal, sie war jedenfalls ganz närrisch nach dem rothaarigen Koloß. Die Leute in der Stadt behaupteten, sie spioniere hinter ihm her und mache ihm schreckliche Szenen, wenn sie ihn mit einer anderen Frau sah. Natürlich wurde Swoboda deswegen ständig aufgezogen.
     "Warum heiratest das alte Mädchen nicht?", fragten ihn die Leute. "Hättest zumindest ein Dach überm Kopf."
     "Freili, habts recht", nickte Swoboda stolz, und das war's.
     Er hatte guten Grund, nicht heiraten zu wollen. Er verheimlichte nämlich der Wittib seinen Sparbatzen.Tatsächlich, Swoboda hatte Geld auf der Bank! Dreihundertundachtzehn Sokol auf einem Sparheft bei der Öffentlichen Sparkasse. Seine wohlmeinenden Freunde versuchten, ihn davon zu überzeugen, daß seine Frau ohne seine Bewilligung keinen Heller abheben konnte. Vergeblich. Er berief sich auf den traurigen Fall eines Ingenieurs, der an der Eisenbahnstrecke gearbeitet und vierhundertzwanzig Sokol gespart hatte, ja und dann sei seine Frau krank geworden, und das Geld "habts gsehn".
     "Fürs Gschpusi bzahlst nix; fürs Gschpons bzahlst. So steht?s im Gesetz." Seine Haltung war nicht eben nobel, soviel ist sicher. Aber Swoboda hatte fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um sich seine dreihundertundachtzehn Sokol vom Mund abzusparen. Es gibt Männer, die Regale mit Bücher füllen, andere wiederum bauen ihr Lebenswerk aus großen Firmen; Swobodas Lebenswerk belief sich auf dreihundertundachtzehn Sokol. Alle Welt bewundert Tolstoi, dem sein Lebenswerk ebenfalls wichtiger war als das häusliche Glück. Warum also Swoboda einen Vorwurf daraus machen?
     Doch Swoboda liebte sein altes Mädchen, wenn auch auf seine Art. Vielleicht mochte es ihm an Grips fehlen, aber er hatte ohne Frage ein großes Herz. Wenn er nachts im verdunkelten Bahnhof auf seiner Flöte spielte, trieben ihm die schlichten Melodien, die er von seiner "Mamiiinka" gelernt hatte, die Tränen in die Augen. Swoboda besaß eine natürliche musikalische Begabung. Wenn er eine Melodie einmal gehört hatte, spielte er sie auf seiner rohen handgeschnitzten Flöte fehlerlos nach, deren sanften Töne ebenso zu den Sommerabenden gehörten wie das Zirpen der Grillen. Es waren immer die gleichen wehmütigen slawischen Volksmelodien, seufzend und hoffnungslos wie das Elend. Stundenlang konnte er so in der besternten Dunkelheit vor sich hin flöten.
     Fast ein Vierteljahrhundert lang war dies Swobodas Leben gewesen; und so wäre es weitergegangen bis zu seinem letzten Tag, wäre er nicht unversehens zum politischen Mörder befördert worden.


2. Kapital

Die kleine Stadt

Im Frühjahr 1939, als die deutsche Armee die Tschechoslowakei "eroberte?, ohne auch nur einen Schuß abzugeben, meldeten die Zeitungen einen geplanten Anschlag auf Hitler. Die angebliche Verschwörung sei von einer kleinen Stadt in Böhmen ausgegangen. Als der Führer am 15. März seine denkwürdige Reise nach Prag antrat, sei eine Brücke in der Umgebung der Stadt vermint worden in der offenkundigen Absicht, den Sonderzug des Diktators in die Luft zu sprengen. So jedenfalls die amtliche Agenturmeldung.
     Die fragliche Stadt hätte vollumfänglich in einem New Yorker Wolkenkratzer Platz gefunden. Sie zählte vier-, höchstens fünftausend Einwohner - die meisten davon ältere Leute - und lag etwa zwanzig Kilometer von einem wichtigen Industriezentrum Böhmens entfernt, Sitz der ältesten und berühmtesten Porzellanmanufakturen. Der Gründer dieser Porzellanmanufakturen war es gewesen, der sich vor ungefähr hundertachtzig Jahren in der hügeligen Gegend ein Haus hatte bauen lassen. Es hieß, er sei ein exzentrischer alter Herr gewesen, der sich mit sechzig von seinen Geschäften zurückgezogen und die Fabrik seinem Sohn übergeben hatte, um samt seiner Sorgen aufs Land zu ziehen. Schon bald folgten andere, ebenfalls in die Jahre gekommene Porzellanfabrikanten seinem Beispiel und investierten ihre Ersparnisse in kleine Landhäuser auf den sanften Hügeln zwischen den duftenden Tannen und weißsilbernen Birken.
     Im Lauf der Zeit setzten sich zahlreiche Angestellte der Porzellanmanufakturen ganz selbstverständlich in der neu entstandenen Stadt zur Ruhe, weil dort das Leben nicht nur billiger, sondern auch gesünder war als in der rußigen Kreisstadt. Schließlich folgten pensionierte Beamte, Rentner, ältere Ehepaare, alles Leute mit bescheidenen Ansprüchen, die sich ihr Leben lang abgerackert und gespart hatten, um ihre alten Tage in ländlichem Frieden zu beschließen.
     Einhundertachtzig Jahre! Eine lange Zeit. Vieles änderte sich auf der Welt. Nationen vereinigten und trennten sich wieder. Die Porzellanmanufakturen gingen in andere Hände über. Der Mittelstand jedoch verfolgte ungerührt seinen Traum, den Lebensabend in der hügeligen Landschaft zu verbringen.
     Bevor man sich in dem Städtchen niederließ, übertrug man Geschäft oder Handwerksbetrieb den Söhnen; die Töchter, sofern es welche gab, waren längst verheiratet. Die alten Herren trippelten noch ein paar Jährchen über die Kopfsteinpflaster der gewundenen Gäßchen, bis sie eines Tages unauffällig von ihrem Landhäuschen zum Friedhof auf dem Hügel umsiedelten, als seien sie das Nichtstun müde.
     Hundertundachtzig Jahre lang war es der friedlichste Ort auf Erden gewesen. Lediglich an den Sonntagen verirrten sich ab und zu Wanderer oder Ausflügler in die Stadt und brachten ein bißchen Leben in die Gassen. Die meisten Einwohner allerdings begegneten diesen "Fremden" mit Mißtrauen und blieben lieber zu Hause. In der Hauptstraße des Städtchens, wo die wohlhabenderen und notableren Bürger wohnten, befanden sich auch die vornehmen Geschäfte und die entzückende Konditorei "Biedermeier", wo die beherzteren alten Damen ihren mit einer dicken Schlaghaube gekrönten Nachmittagskaffe ausgiebig genossen.
     Um den Masaryk-Platz in der Stadtmitte scharten sich das Rathaus, die Kirche, die Gendarmeriewache, das Postamt und der einzige Gasthof, ein erst vor sechzig Jahren gebautes zweistöckiges Gebäude, das modernste der Stadt also. Aus unerfindlichen Gründen hatte der erste Besitzer es "Im Zeichen von Gottes Auge" genannt, denn Gäste sah "Gottes Auge? nur wenige. Der einzige Dauergast war ein einarmiger Oberst im Ruhestand. Alle anderen Zimmer waren von Montag bis Freitag frei. An den Wochenenden stiegen hier gelegentlich Ausflügler ab oder Liebespaare, die inkognito bleiben wollten.
     Das hingegen sehr gut besuchte Kaffeehaus im Erdgeschoß war der Treffpunkt der "besseren Kreise", und damit die Haupteinnahmequelle. Hier tranken die distinguierten alten Herren ihren Nachmittagskaffee mit einem doppelten Schlag, begleitet von einem Stück auf der Zunge zergehenden böhmischen Kuchen, dem köstlichsten auf der ganzen Welt.
     An milden Sommerabenden kamen die beherzteren alten Damen ihre Ehemänner abholen, und die Paare spazierten vor dem Abendessen Arm in Arm vom Masaryk-Platz die Hauptstrasse hinauf und zurück.
     Im Winter oder bei schlechtem Wetter mußte allerdings auf dieserart Vergnügungen verzichtet werden. Also besuchte man sich gegenseitig. Die Damen plauderten über ihren Näharbeiten, während die alten Herren Karten spielten oder ernst über über den Lauf der Welt berieten und dabei ihre Pfeife schmauchten - vorausgesetzt, der Arzt hatte ihnen das Rauchen nicht verboten. All dies galt als Zeitvertreib. Meistens jedoch verbrachten die älteren Herrschaften die langen Winterabende trübselig, ihre schmerzenden Gelenke salbend, zwischen ihren vier Wänden. Hin und wieder starb jemand, normalerweise an Altersschwäche. Doch selbst die Urältesten konnten sich nicht zurückerinnern, daß in in der Stadt jemals etwas Aufregendes passiert war.
     Einhundertachtzig Jahre lang war es die friedlichste kleine Stadt, die man sich nur vorstellen konnte. Im März 1939 jedoch schlug die Ruhe in einen ebenso plötzlichen wie verheerenden Sturm um.

Teil 3