Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Jagoda Marinic: Die Namenlose. Teil 3

16.07.2007.
Wachen, zwei

Wie müde ich bin. Es gibt Tage, da erwache ich müder, als ich es war, bevor ich zu Bett ging.

Was tun wir, während wir das tun, was wir schlafen nennen? Wo sind wir, während wir träumen? Gibt es irgendwo ein anderes Leben, ein wilderes, brennenderes, wahnsinnigeres, eins, in dem alles verschmilzt, in dem sich Grenzen, auf die wir so bedacht sind, verwischen? Gibt es mich noch einmal irgendwo anders?


Träume verfremden sich dem Träumer erst mit dem Erwachen. Erst in dem Moment, in dem diese Welt wieder gilt, in der Ausschließlichkeit, in der sie Geltung beansprucht, erst dann wird der Traum zum Traum. Davor war er Gefühl. Durchlebtes. Was wäre, wenn wir aus dieser realen Welt, die wir unser Leben nennen, plötzlich wie aus einem Traum erwachten? Gleiten wir nicht auch tagsüber von Welt zu Welt, von Traum zu Traum? All die Welten, die sind. Welten, die wir nie kennen werden. Wie soll man ein einziges Leben wählen?


Die eigene Lebenswelt ist nichts als ein inneres Standbild, der fixierte Ausschnitt einer endlosen Wirklichkeit. Sich ein Leben lang vorsichtig durch diesen kleinen Ausschnitt tasten, soll das alles sein? Dieses Standbild, das zum Abbild einer ganzen Welt erhöht wird? Wieviel geht dabei verloren?


Manchmal, wenn die Namenlose durch diese große Stadt geht und Großbauten betrachtet, immer wieder übermenschliche Betonbauten mit Stützwerken davor und winzig wirkenden Männern darauf, bleibt sie stehen und starrt. Stützwerke mit endlosen blauen Müllröhren vom obersten Stockwerk bis zum Container auf dem Boden, Leitern von Stockwerk zu Stockwerk, dazwischen immer wieder winzig wirkende Männer, von einem Stockwerk in das andere kletternd.

Manchmal, wenn sie so dagestanden hat, bringt sie mir diese Bilder mit in die Nacht, und ich muß mit ihren Bildern weiterdenken ? Ich stelle sie mir inmitten all dieser rohen Gebäude vor, sie und ihre endlose Angst davor, auch nur einen Schritt aus ihrem inneren Wirklichkeitsgebilde herauszutreten. Sich von Balustrade zu Balustrade hangeln - welch ein Wagnis.

Ihr Leben: ein winziges Polaroid der Wirklichkeit. Über all die Jahre sieht sie nichts als dieses Polaroid, bis es sich als einzige Wahrheit in ihr festsetzt, wie bei den meisten Menschen. Kein Gedanke daran, daß es weitergehen könnte, daß da mehr zu tun, zu sehen, mehr abzubilden wäre. Tagaus, tagein dieselben Balustraden, weil es keine Vergewisserung gibt, ob auch andere Bretter halten und daß nicht, sobald sie einen Schritt ins Unbekannte macht, alles zusammenbricht. Sie hängt an ihrem kümmerlichen Stützwerk gerade so, als wäre es in der Lage, ihr wirklichen Halt zu geben.


Ist der Traum das versuchsweise Betreten anderer Stützwerke? Oder ist Träumen das Erdenken von etwas ganz anderem? Oder ist das alles jenseits dieser Fragen? Ach, irgendwann muß ich zu dieser Geschichte kommen. Und dazu, wie ich sie erzählen soll. Jetzt, da ich weicher werde und der Sehnsucht wieder nachgeben will, um das Leben zurück zu mir zu führen, mich zurück ins Leben zu führen, jetzt versuche ich, eine Geschichte für die Namenlose zu schreiben. Es wäre schön zu wissen, wie diese Geschichte erzählt sein will.


Was ich früher alles geschrieben habe! Früher. Bevor ich mich in die Nächte habe sperren lassen. Das Verbot der Namenlosen, das mich in die Nächte sperrte, mich mitsamt meiner verdammten Sehnsucht, wie sie sagt. Wie löse ich dieses Verbot wieder auf? Komm, Sehnsucht, ich erzähl dir eine Geschichte. Damit du bei mir bleibst, damit wir die Namenlose rühren! Ich will nicht länger gegen dich kämpfen.


Etwas in mir sagt, daß ich mich mit der Sehnsucht verbinden muß, wenn ich wieder Zugang zum Tag finden möchte. Doch wonach verlangt die Sehnsucht? Nach einer langen Geschichte, einer kurzen? Es muß auf jeden Fall eine Geschichte sein, die den Moment, den die Namenlose ohne ihr Wissen sucht, enthält. Noch läßt sie sich von diesem Moment eher jagen, als ihn zu suchen. Doch ich werde alles daransetzen, diesen Moment zu finden. Bis dahin müssen Geschichten erzählt werden, und wenn es die falschen sind! Ich muß den Raum freihalten für den Schmerz, den sie einst verlor. Vielleicht ist das die Geschichte: Als sie den Schmerz verlor.


Obwohl ich früher mit all meinem Sentiment einen Platz in ihren Tagen hatte, spürte ich, daß das nicht alles sein kann, hatte eine leise Ahnung davon, daß zwischen mir und dem Leben, wie es sein kann, eine Trennung besteht. Vielleicht hatte ich schon damals eine Ahnung von dieser unerzählbaren Geschichte. Doch nicht Ahnung genug, um mich in Bewegung zu setzen. Wie hätte ich wissen sollen, daß es mehr gibt, wenn ich nur mein Leben kannte, hätte ich einer bloßen Ahnung vertrauen sollen? Vielleicht gibt es Menschen, die dafür stark genug sind. Ich war es nicht. Ich mußte warten, bis sie mich absperrte, und jetzt, da ich in der Nacht sitze, hat dies trotz allem Schmerz über meine Abgeschiedenheit einen Gewinn gebracht: Meine Sehnsucht nun so unermeßlich, daß sie gewiß ist.


Manchmal denke ich, daß ich, wenn ich die Geschichte, nach der ich mich so sehne, greifen könnte, die Namenlose ihr Leben erhielte, nicht ein zweites, sondern das eigene,wenn ich diese Geschichte finde, wird sie endlich zu ihrem Leben finden. Sie liegt in mir. Seit Jahren liegt diese Geschichte in mir, ja, eigentlich spüre ich sie schon immer, doch von ihr zu wissen, das wäre das Ziel.*
      * Ja, es gibt mich schon lang, es gibt mich, seit es diese Teilung in ihr gibt, gibt mich, seit sie ihren Namen verloren hat. Ich behaupte hier und jetzt, daß sie ihren Namen mit ihrem Schmerz verloren hat. Den Schmerz, den ich verursacht habe, gibt es schon seit langem. Doch erst Jahre später wollte sie ihre Geschichte nicht mehr tragen, verlor den Schmerz ganz.Als es an der Zeit war, ein Leben zu gestalten, ein selbständiger Mensch zu werden, fehlte ihr die eigene Geschichte. Unvorstellbar,was das bedeutet, seinen Schmerz nicht kennen zu wollen.Wer seinen Schmerz nicht kennt, fürchtet noch den kleinsten Schlag als Schicksalsschlag. Bitte, Nacht-Ich, finde mich, damit sie ihren Schmerz wiederfindet, damit sie endlich das fühlen kann,was ist, und nicht das,was war. Ich unterwandere das Nacht-Ich mit meiner Sehnsucht, gekannt zu sein. Das Nacht-Ich hat ja noch Gefühle, Gedanken, Träume, die der Namenlosen fehlen. So tastet sich das Nacht-Ich im Dunkeln voran. Immerhin bin ich schon soweit, daß das Nacht-Ich sich von der Sehnsucht weg und hin zur Geschichte wagt. Es weiß nun - und freut sich darauf -, eine Geschichte zu finden. Es ahnt, daß es die Geschichte finden muß, wenn es sich auflösen und wieder leben will.

     Doch wie soll ich das Ungekannte greifen? Das Gefühl schreibt sich zwar seitenweise in mich, doch mit keiner Zeile eine Geschichte aufs Papier. Ich habe nur Bilderfetzen, die ich nicht zu einem Ganzen ordnen kann.*
      * Als lägen Geschichten einfach in der Gegend herum. Die eigene Geschichte muß erfunden werden, nur dann entsteht daraus vielleicht ein Leben - wenn man Glück hat und zu den Bildern die richtige Geschichte erfindet.

Die Tatsache, daß Menschen es wagen, Geschichten zu erfinden, Leben zu erfinden, macht uns einmalig; die Geschichte, die jeder für sein Leben findet, ist das, was jeden einzelnen Menschen vom anderen unterscheidet, weil jeder eine andere Geschichte erzählen wird. Selbst über das gleiche werden verschiedene Geschichten erzählt, weil das gleiche sich im Erleben des einzelnen auflöst und einmalig wird.*
      * Ich, die Geschichte, erinnere mich an eine andere Geschichte, die meine Namenlose einmal in einem kleinen Buch las. Jemand hatte diese Geschichte erfunden, und die Namenlose beheimatete sich darin. Ein kleiner Platzhalter, bis sie die Spur zu ihrer eigenen Geschichte findet: Das Ende der kleinen Geschichte erzählte sich wie folgt: "Warum die Dame allerdings ihr Leben lang in diesem kleinen Kino, in diesem kleinen Glaskasten, Karten verkauft hat, wußte dann dennoch keiner so genau zu sagen, und nur das fragten sie die alte Dame, wenn sie sie außerhalb des Glaskastens trafen. Sie wiederum konnte nur darauf keine Antwort geben und hielt sich deshalb mit der Zeit lieber in ihrem Glaskasten als in ihrem Tag auf, denn in ihrem Glaskasten, da konnte sie den Leuten Karten geben, aber in ihrem Tag, da konnte sie nichts geben, schon gar keine Antworten. Also schwieg sie, die alte Dame."
     Wenn ein Mensch des Geschichtensammelns müde wird, seine gesammelten Geschichten nicht mehr tragen kann, gibt er die vielen Geschichten, die seine Geschichte sind, an der Pforte zum Jenseits ab. Wie Mäntel hängen sie dort von Kleiderbügeln, unsere Geschichten, und versuchen, den Nachgeborenen etwas zu sein.

Doch kaum einer beachtet sie, kaum einer wird mich jetzt nicht für verrückt erklären, weil ich das zu wissen meine. Aber ich weiß es. Ich weiß, daß wir unsere Geschichten am Ende hinter uns lassen werden, daß wir Geschichtensammler nur zu Lebzeiten sind. Was wollen sie im Jenseits mit unseren Geschichten? Wollte man sie da, wäre auch das Jenseits ein Diesseits. Und somit wäre man auch dort dem Tod zu nah, um jenseits zu sein. Die Angst vor dem Tod ist die Angst, keine Geschichten mehr sammeln zu können.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Nagel und Kimche
(copyright Nagel und Kimche)

Informationen zum Buch und zur Autorin hier