Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Jagoda Marinic: Die Namenlose. Teil 1

16.07.2007.
(Seite 18 ff)

Schlafen, eins

Es klingelt. Ich drücke auf 'snooze'. Noch ein paar Minuten! Es klingelt. Ich drücke auf snooze'. Noch ein paar Minuten! Es klingelt. Ich drücke auf 'snooze'. Noch ein paar Minuten! Seit drei Jahren beginnen meine Tage mit diesem zärtlichen Geräusch. Die Beziehung zur 'snooze'-Taste ist eine meiner festeren. Jedes Klingeln ruft eine weitere Schicht von mir ins Leben. Das erste Klingeln ist das Zeichen dafür, daß ich denke: Ah, es gibt mich. Und es gibt einen Tag. Dann erst mal auf die Taste drücken. Nach fünf Minuten klingelt es, und ich denke: Ah ja, es gab mich doch eben schon einmal. Also gibt es mich wohl wirklich. Und diesen Tag auch. Und er ist hartnäckig. Doch ich auch. Unbeirrt schlage ich noch mal auf diese kleine Taste, bis es fünf Minuten später wieder nach mir ruft, und ich denke: Es gibt nicht nur mich und diesen Tag, es gibt auch noch etwas, was ich an diesem Tag zu tun habe. Scheiße! Ein letztes Mal noch 'snooze'. Dann habe ich meine persönliche Klingelreihe abgeschlossen, bemerke, daß es nicht nur mich gibt, diesen Tag und seine Pflichten, sondern zu allem Überfluß auch noch ein Leben, das ich mir jeden Morgen aufs neue anziehen muß. Und das dauert:
Junge Frau, geboren als Tochter einer Apothekenhelferin und eines Verwaltungsfachangestellten in der deutschen Provinz. Erwachsen geworden als Tochter einer Kioskbesitzerin und eines Süffels - ebenfalls in der deutschen Provinz.

Ich spaziere durch die Hauptstraße der Kleinstadt. Ein zerlumpter, ungewaschener Mann mit einem ehemals schönen Gesicht macht mir Avancen. Er denkt nicht an die Tochter, die er mit sieben Jahren zurückgelassen hat, während er mir nachstellt. Hast hübsche Beine, lallt er besoffen und folgt mir. Ich gehe schneller. Er geht schneller. Ich drehe mich nicht um, das Klacken seiner Absätze folgt mir nach. Er ist nahe dran. Zu nahe. Ich renne. Wieso denkt er nicht daran, wie alt das Mädchen ist, das er verlassen hat? Vielleicht denkt er, sie müßte aussehen wie die Frau, die er verlassen hat.

Ich komme nach Hause und berichte Mutter, daß ich ihn gesehen habe und wie. Hör endlich auf, ihn deinen Vater zu nennen! schreit sie. Er ist nicht dein Vater! schreit sie. Seit du sieben Jahre und vier Tage alt bist, hast du keinen Vater, schreit sie, und ich schließe die Tür zu meinem Zimmer und zerschmettere ihre Sätze mit lauter Klavierklassik, von der sie keinen Schimmer hat.


Nach diesem Vorfall den Vater für nichtexistent erklärt. Mit siebzehn folge ich schließlich dem Beispiel meiner Mutter und vollziehe die Auslöschung. Kurz darauf suche ich eine Lehrstelle. Bibliothekarin. Ich finde nichts. Wieder etwas später verliert Mutter ihre Arbeit, mietet einen billigen Kiosk, betreibt und bewohnt ihn. Wenig später ernährt sie sich vom Inhalt der Likörfläschchen ihrer Kioskbude. Also erkläre ich auch Mutter für nichtexistent. Was mit einem Vater geht, geht ebensogut mit einer Mutter.


Ich wälze mich endlich aus dem Bett und gehe zu meinem Schreibtischstuhl. Daß man jeden Morgen dieses ganze Leben mit anziehen muß. Zusammengefaltet erwarten mich meine Kleider für den heutigen Tag. Mutter, als sie noch Mutter war, legte mir meine Kleider für die Schule nachts auf meinem Schreibtischstuhl bereit. Ich nehme sie im Schlaf kaum wahr, wenn sie spätabends in mein Zimmer kommt und mir die Kleider auf dem Schreibtischsessel bereitlegt. Ich liege eingemummelt unter der 95-Grad-Bettwäsche, und der Duft von LouLou steigt mir in die Nase. LouLou. Dieser unerreichbare blaue Plastikflakon im Badregal. Jeden Morgen, wenn ich mir die Zähne putze, sehe ich nach oben zu dem blauen Plastikflakon und denke: Da ist der Duft meiner Mutter drin. Heute lege ich mir meine Kleider vor dem Schlafengehen selbst auf den Schreibtischstuhl.

Der Geruch von Wandfarbe hängt in der Wohnung. Seit Wochen hängt dieser verdammte Geruch in der Luft und mischt sich mit dem Gestank von Tapetenkleister. Ich stand auf, um in die Schule zu gehen, als sie längst bei der Arbeit war. Morgen für Morgen: Meine Kleider in die Hände nehmen, sie betrachten, versuchen, sie so zu entfalten, wie sie sie gefaltet haben könnte. Ich weiß, wie sie Kleider faltet, schließlich beobachte ich sie jedes Wochenende beim Bügeln. Jedes Wochenende dasselbe: Sie stellt das Bügelbrett auf, stützt sich einmal mit ihrem ganzen Gewicht darauf, bis es klack macht, wirft die Glotze an und zischt mit dem Bügeleisen zum Fernsehprogramm. Ich sitze im rosa Flanellschlafanzug auf der Couch und sehe ihr zu, wie sie sorgsam Falten in Hosen bügelt, wie sie kleine schwarze Höschen bezischt und zusammenlegt, um sie dann auf einen großen Stapel zu türmen. Unterhemden, Bettwäsche, meine Kordhosen, die ich hasse, ihre langen Kleider, die ich ihr neide. Mit einem Auge verfolge ich das Abendprogramm, mit dem anderen ihre Handgriffe. Morgens weiß ich die Kleider genauso zu entfalten, wie sie sie zusammenfaltet - so was können nur Verbündete. Morgens mit den Fingern über den Stoff fahren, mir vorstellen, wie sie die Kleider am Abend zuvor auf den Schreibtischsessel legt: als wäre sie da.

Ich nehme meine Kleider vom Stuhl. Kleider, nichts als Kleider - heute ein knielanger Rock in Grüntönen, ein weißer Rollkragenpulli, eine schwarze Strumpfhose, dunkle Stiefel.*
      * "- jedesmal, wenn ich in meinen Händen nichts weiter spüre als Stoffe und Kleider, denke ich daran, wie es war, diesen Moment geliebt zu haben - und sie."
Kennte sie mich, ihre Geschichte, dann hätte sie vielleicht, unter unzähligen anderen, diesen Gedanken gehabt. Ich werde in dieser Woche, dann und wann, unter die losen Beobachtungen, die sie ihre Innenwelt nennt, kleine Injektionen von Schmerzgedanken setzen, täglich eine kleine Wahrheit aus ihrer persönlichen Unterwelt in ihr Bewußtsein führen.Vielleicht erreicht es sie, erreicht es dich, du Namenlose.



An dem Tag, an dem ich Mutter nicht mehr Mutter nenne, beschließe ich meinen Umzug nach Berlin. Es ist der Tag, an dem ich sie im Kiosk besuchen will und darin niemanden stehen sehe. Ich rufe ihren Namen und erhalte keine Antwort. Ich gehe zur Tür des umfunktionierten Wohnwagens, sie steht offen, dabei soll sie die Tür nicht immer offen lassen, denke ich noch, während ich die Tür öffne und Mutter sehe, am letzten Tag, da sie noch Mutterwar, auf dem Boden liegend, aus dem Mund quillt Schaum. Als erstes weine ich, als zweites nehme ich das Geld aus der Kasse, als drittes verlasse ich den Wagen. Ich renne auf die Straße und zur nächsten Telefonzelle, gebe der Polizei Bescheid, daß eine fette Frau in ihrem Kiosk auf dem Boden liegt und Likör spuckt. Ich verstecke mich hinter einer Hecke, bis der Krankenwagen einfährt. Ich sehe, wie sie auf einer Liege in den Krankenwagen getragen wird, wie sie ihren Kopf hinund herbewegt und lallt. Sie schlagen die Türen zu und zischen mit Blaulicht davon. Ich sehe die Polizei einfahren und die Bude durchsuchen. Dann fahren auch sie davon, und ich lasse den Alarm im Kopf ausklingen.

Am selben Tag noch erreiche ich Berlin. Berlin scheint weit weg und das Gegenteil von Kleinstadt. In Berlin lebe ich nun schon genauso lang, wie ich in der Provinz gelebt habe, unglaublich, daß soviel Zeit vergangen ist, denn ich lebe mit meinen dreiunddreißig Jahren noch immer fast zweiundzwanzigjährig und das ist gut so, denn ich muß dem Leben etwas Zeit zurückstehlen. Ich lebe mit Juliana und Paul, dreißig und siebenunddreißig. Auch sie leben zweiundzwanzigjährig, obwohl sie, im Gegensatz zu mir, nicht so aussehen. Ich hingegen könnte mich, ohne daß es einer merkte, inmitten einer Horde Gymnasialoberstufenschüler ins Kino schleichen.*
     * "Oft denke ich, daß das Leben mild zu mir ist, viele beneiden mich sogar darum, daß es mich so langsam altern läßt; doch manchmal denke ich, es ist härter zu mir als zu anderen, weil ich in meinem Gesicht nichts von dem sehen kann, was ich versäumt habe zu tun, zu fühlen, zu leben. In meinem Gesicht keine Spur von der Mutter, die ich nie geworden bin und vielleicht nicht werde."

Oft, wenn ich mich in einem Spiegel sehe, frage ich mich, wann ich eigentlich vorhabe, so alt auszusehen, wie ich tatsächlich bin. Ich werde alles verpassen, was Menschen in meinem Alter zu erledigen haben, nur, weil keiner mir dieses Alter abkauft, nicht mal ich selbst. Die Männer sehen in mir ein Kind, und ein Kind benutzen sie nicht für Kinder. Manchmal, wenn ich in Parks sitze und mir Mütter ansehe, frage ich mich: Warum sind sie Mütter und ich ein Kind? Juliana hingegen sieht aus, als wäre sie Mutter, ist aber keine, das ist vielleicht eine Kombination, die ebenfalls keine Freude bereitet.


Juliana und Paul teilen sich diese Wohnung mit mir. Ich wollte mir nie eine Wohnung teilen, muß aber. Eine Geldfrage. Jeden Morgen aufs neue verfluche ich mich dafür, daß ich in einer Wohngemeinschaft lebe - oder nein, noch einen Schritt vorher verfluche ich mich: dafür, in einer Stadt zu wohnen, in der ich bis heute Angst habe, alleine zu wohnen. Nein, noch einen Schritt vorher verfluche ich mich: Hätte ich nicht etwas lernen können, womit man Geld verdient, Geld genug, um in einem sogenannten "guten Viertel" alleine zu wohnen? Wer weiß, was dir dann gefehlt hätte, sagt Mutter, als sie noch Mutter war, in mir.Wem etwas fehlt, dem fehlt einfach, daß ihm nichts fehlt, und das wird immer so bleiben, sagt sie.


Ich frühstücke nicht. Nie. Ich nehme meine Jeansjacke vom Garderobenständer, schließe die rote Wohnungstür und gehe den Hausflur entlang zu meinem Klapprad. Mein richtiges habe ich vor Monaten verliehen, mich mit dem Leiher zerstritten und nie wieder danach gefragt. Es soll auch etwas wie Anstand geben, aber der Glaube daran hat mir mein Fahrrad bislang nicht wiedergebracht. Manchmal male ich mir aus, auf einem entlegenen Fest, vielleicht in Treptow, mein Fahrrad mitsamt dem alten Schloß wiederzufinden und es mitzunehmen.

Teil 2