Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hans Werner Kettenbach: Zu Gast bei Dr. Buzzard. Teil 2

23.02.2006.
Als er nach fast einer Stunde zum Ende des Referats kam, hatte er Charlotte und Roland völlig vergessen. Er nahm wie in Trance den starken Beifall wahr und den kräftigen Händedruck, mit dem Harper ihn am Rednerpult abholte. Erst als er wieder Platz genommen hatte, Delen ihm seine Frau und sein Jugendfreund ein, und daß sie o enbar nicht hatten hören wollen oder hören können, was er zu sagen hatte. Er hielt nach Lilly Ausschau. Sie lachte ihn an und klatschte noch immer mit erhobenen Händen Beifall.
     Er stand die Diskussion ohne große Mühe durch, und auch die Einzelgespräche, die etliche Leute noch mit ihm führen wollten. Als er sein Pensum absolviert hatte und sich in dem Saal umsah, der sich allmählich leerte, fand er Lilly nicht mehr. Ihm wurde kalt. Es war völlig albern, aber ihm fielen das Voodoo-Geraune und die Schauergeschichten ein, die Roland von Savannah zu berichten gewußt hatte, von "America s most haunted city", der am meisten von Gespenstern heimgesuchten Stadt Amerikas, in der schon so mancher als Schemen wiedergekommen war.
     Auf der Suche nach Lilly ging er hinaus in das Foyer. Sie stand, eine Zigarette rauchend, in der offenen Tür zur Terrasse und sah ihm entgegen. Als er zu ihr trat, streckte sie die Rechte aus. "Ich gratuliere dir. Das war großartig." Sie lächelte. "Und ich hab sogar alles verstanden. Fast alles."
     Er sagte: "Danke. Aber wo waren denn dein Mann und Charlotte? Sind sie nicht mit dir gekommen?" Sie schüttelte stumm den Kopf. Er fragte: "Ist irgendwas passiert?"
     Sie sagte: "Ich weiß es nicht." Nach einer Pause sagte sie: "Ich hab nur eine Vermutung."


2

Eine der Sekretärinnen der Konferenz, eine stattliche Schwarze von Mitte Vierzig, die einen lachsfarbenen Hosenanzug trug, näherte sich ihnen. Sie blieb drei Schritte vor ihnen stehen und sagte: "Mister Schumann - entschuldigen Sie bitte."
     "Ja, bitte?"
     "Mister Davenport möchte Sie gern zum Lunch einladen. Kann ich ihm zusagen?"
     Er sah sie ein wenig ungläubig an. "Luther Davenport?"
     "Ja, Sir. Mr. Luther Davenport, junior."
Er räusperte sich, dann sagte er: "Oh... o ja, gern. Sagen Sie ihm bitte zu. Ach so, und ... wo soll das sein? Und wann?"
     "Um ein Uhr in 'The Olde Pink House'. Es ist nicht weit von hier, wenn Sie zu mir kommen, zeige ich Ihnen den Weg auf dem Stadtplan. Wir können Ihnen aber auch einen Wagen bestellen."
     Er sah auf seine Uhr. "Okay, ich komme gleich zu Ihnen."
     "Danke, Sir." Sie nickte, warf einen Blick auf Lillys Zigarette und wandte sich ab.
     Er sagte hastig: "Und vielen Dank, Ma'am!"
     Sie blickte zurück, lächelte. "Gern geschehen, Sir."
     Er sah Lilly an, die interessiert zugehört hatte. "Tut mir leid, Lilly, aber das konnte ich nicht abschlagen."
     "Nein, natürlich nicht." Sie lächelte. "Warum solltest du das denn abschlagen?"
     "Luther Davenport ist der Spiritus rector dieses ganzen Museumsprojekts, der Big Boss, weißt du. Heißt zwar Luther junior, aber ist ziemlich ausgewachsen, Chef einer Anwaltskanzlei, steinreich, und einer der bedeutendsten Kunstsammler in dieser Region." Sie nickte anhaltend, aber er war nicht zu bremsen. "Wenn nicht der ganzen Ostküste. Und er will sich unbedingt ein Denkmal setzen, hier, in seiner Heimatstadt. Dieses Museum, verstehst du, und darin seine Sammlung."
     Sie öffnete den Mund, aber er war noch immer nicht fertig: "Und es schreckt ihn auch nicht ab, daß gerade jetzt ein anderes, großes Museum hier gebaut wird."
     Sie hob die Hand, lächelte. "Ja, ja, ich weiß. Ich hab ja darüber gelesen. Das ist doch toll, daß er dich einlädt. Dein Referat muß ihm sehr gefallen haben."
     "Ich weiß gar nicht, ob er hier war. Ich hab ihn jedenfalls nicht gesehen."
     "Dann wird man ihm gesagt haben, wie gut es war."
     Er zuckte die Schultern. "Schön wär s." Er räusperte sich. "Na ja, kann sein, natürlich." Nach einem Blick auf die Uhr sah er sie an. "Und was machst du jetzt?"
     Sie zog an ihrer Zigarette, schloß die großen braunen Augen bis auf einen Spalt und blies den Rauch zur Seite.
"Ich werd ins 'Marriott' fahren." Sie lächelte. "Und dann werde ich abwarten, was passiert. Und ob überhaupt etwas passiert."
     Ihm wurde heiß. Charlotte, verdammt. Er hatte sie schon wieder vergessen. Charlotte und Roland, ja. "Natürlich, entschuldige. Du hattest ... du hast gesagt, du hättest eine Vermutung?"
     Sie drückte in der schmiedeeisernen Schale, die neben ihr auf einem Sockel stand, sorgfältig die Zigarette aus. "Die beiden haben mich ... versetzt." Sie sah ihn an. "Ja, so kann man sagen. Sie haben mich in voller Absicht ausgetrickst. " Sie lachte. "Sie haben mich mit einem primitiven Trick abgehängt."
     "Entschuldige, aber ... warum sollten sie das denn tun?"
     Sie sagte: "Ich bin nach dem Frühstück noch mal aufs Zimmer gegangen. Ich hab im Frühstückszimmer gegenüber von einem Spiegel gesessen, dieser Spiegel auf dem Pfeiler in der Mitte, weißt du, und ich hab dauernd die Ohrclips gesehen, die ich angezogen hatte." Sie lachte. "Sie haben mich gestört. Und deshalb bin ich noch mal aufs Zimmer gegangen und hab ein paar andere angezogen." Sie hob die Rechte zum Ohr, drehte das Ohr ein wenig in seine Richtung. "Diese hier."
     Er sah flüchtig auf den Clip, warf dann einen Blick auf seine Uhr: "Ja, sehr schön. Und was dann?"
"Ganz einfach." Sie zuckte die Schultern. "Wir sind alle drei zusammen vom Frühstück aufgestanden und in die Lobby gegangen und ich zum Aufzug und die beiden zu dem Shop, dem gleich neben der Rezeption, weißt du, Charlotte hat gesagt, sie wolle noch ein paar Ansichtskarten kaufen. Und ich bin in den Aufzug gestiegen, und die beiden sind in den Shop gegangen."
     Sie schwieg. Er starrte sie an. Sie sagte: "Ich nehme an, sie sind ohne Aufenthalt durch den Shop hindurchmarschiert und an dem Ausgang zur Straße gleich wieder raus. Und da haben sie ein Taxi genommen. Und weg waren sie."
     Er räusperte sich. "Und warum sollten sie das tun?" Sie zuckte die Schultern, lächelte. Nach einer Pause sagte sie: "Ich hab die Verkäuferin in dem Shop gefragt, aber die konnte sich nicht einmal an die beiden erinnern. Geschweige denn an die Ansichtskarten, die Charlotte kaufen wollte."
     Er schwieg eine Weile, dann sagte er: "Hat Roland hier Kontakte aufgenommen ... zu irgendwelchen Leuten, die er vielleicht von früher kannte, außer dem Arzt, meine ich, bei dem ihr eingeladen wart, und der Familie, bei der er damals gewohnt hat? Ich meine ... zu irgendwelchen, sagen wir - zweifelhften Leuten?"
     Sie zog die Augenbrauen hoch, sah ihn aus den großen Augen an. Plötzlich begann sie zu lachen. "Glaubst du etwa, daß die beiden unter die Räuber gefallen sind? Daß sie womöglich entführt worden sind?"
     Die stattliche Frau in dem lachsfarbenen Anzug erschien in der Tür des Foyers, warf einen Blick herein und ging wieder. Lilly sagte: "Ja, sicher, ich weiß, er hat mir ja auch seine Gruselgeschichten erzählt, die von früher, und außerdem, daß diese Stadt ein heißes Pflaster ist, die Kriminalitätsrate ist hoch und was sonst noch. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß jemand sie verhext hat? Oder entführt?"
     Er wandte den Blick ab. Sie sagte: "Du hast doch dein Handy dabei, oder? Ist denn schon eine Lösegeldforderung eingegangen?"
     Sie lachte wieder. Er sah auf die Uhr. "Tut mir leid, Lilly, aber ich muß jetzt gehen. Wir können ja nachher weiterdiskutieren. Falls das dann noch nötig sein sollte."
     Sie sagte: "Ja, natürlich." Plötzlich faßte sie ihn am Arm, rüttelte den Arm ein wenig. "Hör zu, mein Lieber: Diese beiden mußt du nicht entführen, damit sie von der Bildfläche verschwinden. Meinen Mann nicht, und deine Frau auch nicht."
     Sie schob ihn in Richtung des Ausgangs, gab ihm einen Klaps auf den Rücken. "Und jetzt geh zu dem großen Zampano, das ist wichtig."
     Er sah sie an, zögerte einen Augenblick. Dann sagte er: "Ich komme so schnell wie möglich ins Hotel."


3

Er ging zu Fuß zum 'Olde Pink House', ging schnell, weil bis ein Uhr nicht mehr viel Zeit übrig war, warf hin und wieder einen Blick auf die alten, gepflegten Häuser inmitten üppiger Gärten und lief, als er die Drayton Street noch überqueren wollte, obwohl die Ampel schon auf Rot gesprungen war, fast vor ein Auto. Aber als er an dem zweigeschossigen, tatsächlich pinkfarben schimmernden Gebäude am Reynolds Square ankam, las er zufrieden von seiner Uhr die Zeit ab - eine Minute vor eins.
     Er hätte sich gern das Haus ein wenig genauer angesehen; er wußte, daß es eines der ältesten Häuser von Savannah war, er hatte gelesen, daß es 1771 für den reichen James Habersham gebaut worden war. Doch das blonde Mädchen in schwarzem Kleid, das ihn am Empfang begrüßte, führte ihn sogleich über die gewundene Treppe ins Obergeschoß und dort in einen der hinteren Räume des Restaurants.

Teil 3
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