Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hans Werner Kettenbach: Zu Gast bei Dr. Buzzard. Teil 1

23.02.2006.
1

In ebendem Augenblick, in dem Lilly Hanebeck den kleinen Saal betrat, wußte er, daß etwas passiert war.
     Er hatte von seinem Platz auf dem Podium Hanebecks Frau durch die o ene Flügeltür schon gesehen, als sie in das Foyer gekommen war. Hin und wieder wurde sie von den Leuten verdeckt, die zeitig den Saal aufsuchten, um sich ihre Plätze zu sichern. Aber er sah ihren rotbraunen Haarschopf immer wieder. Sie blieb in seinem Blickfeld, tat in dem Foyer ein paar ziellose Schritte, als warte sie auf jemanden, blieb stehen, schaute um sich.
     Daß sie wartete, mußte noch nichts bedeuten. Es fehlten ja noch zwei.
     Sie hatten sich für den heutigen Morgen verabredet gehabt, er und seine Frau mit den Hanebecks. Am Vorabend waren sie noch getrennt zum Essen ausgewesen. Er hatte mit Charlotte an einer Dinnerparty der Architekten von Savannah teilgenommen. Unterdessen waren Roland und Lilly Hanebeck einer privaten Einladung gefolgt; ein Arzt, den Roland noch aus der High School während seines Austauschjahres in Savannah kannte, hatte die beiden zum Essen bei sich zu Hause abgeholt.
     Hernach fanden sie sich dann doch wieder zusammen, bei einem Absacker in der Bar des 'Marriott'. Der Arzt hatte die Hanebecks vor dem Hotel abgesetzt, sie hatten an der Rezeption erfahren, daß er und Charlotte schon zurück und eben in die Bar gegangen waren, und sie folgten ihnen auf der Stelle. So kam die Gemeinsamkeit, die Schumann schon seit dem Abflug in Düsseldorf gelegentlich ein wenig lästig geworden war, erneut zustande.
     Er hatte vorbeugen wollen und noch während des ersten Drinks erklärt, er müsse heute abend aber endlich ein bißchen früher ins Bett kommen, wegen des Referats, das er am anderen Vormittag zu halten hatte. Lilly hatte gezögert, aber dann, als könnte sie damit nicht an sich halten, mit einem etwas verlegenen Lächeln gesagt, sie käme mit Roland allzugern zur Academy, um ihm zuzuhören; doch da seien wohl nur geladene Gäste zugelassen. Er hielt es zwar für sehr unwahrscheinlich, daß Roland sich tatsächlich für Überlegungen zum Museumsbau interessierte, aber er hatte erwidert, er werde versuchen, außer für Charlotte auch noch für sie beide einen Platz reservieren zu lassen. Und Roland hatte tatsächlich mit einem "Sehr schön, danke!" seinen Arm berührt.
     Es war also nicht alarmierend, daß Lilly wartete. Aber es war schon recht merkwürdig, daß Roland und Charlotte offenbar nicht gemeinsam mit ihr zur Academy gekommen waren.
     Als er gegen halb neun das Hotel verlassen hatte, um in der frischen Morgenluft zu Fuß zum Ort der Konferenz zu gehen, war Charlotte gerade in die Badewanne gestiegen, er hatte den Duft ihres Schaumbads durch die Tür riechen können. Von Roland und Lilly war im Frühstückszimmer noch nichts zu sehen gewesen.
     Er hatte, während er in den Sonnensprenkeln unter den Bäumen der Liberty Street entlangging, sich vorgestellt, daß die drei ausgiebig miteinander frühstücken und schwätzen und vielleicht gegen halb elf ein Taxi nehmen würden, Charlotte und Lilly auf dem Rücksitz und Roland neben dem Fahrer, um im Gespräch mit ihm seine Erinnerungen an Savannah aufzufrischen. Der Fußweg hätte auch den dreien gutgetan, aber Lilly ging nicht gern zu Fuß; sie hatte einige Kilo zu viel, und es war ihr peinlich, daß sie schon nach ein paar hundert Metern kurzatmig wurde.
     Um zehn hatte er im Hotel angerufen und ihnen ausrichten lassen, daß drei Plätze für sie reserviert seien. Diesen Anruf hatte er mit ihnen verabredet, denn er war nicht sicher gewesen, ob das Sekretariat der Konferenz die Reservierung so spät noch annehmen würde; allerdings hatte er die drei auch indirekt mahnen und dafür sorgen wollen, daß sie nicht in letzter Minute oder gar verspätet ihre Plätze einnähmen. Sein Referat sollte um elf Uhr beginnen, und er war schon seit dem Vorabend nervös. Um Viertel vor elf ließ er sich auf dem Podium hinter seinem Namensschild nieder, begann, in seinen Papieren zu kramen, und entdeckte schließlich Lilly im Foyer.
     Um fünf vor elf trat Lilly allein in den Saal ein. Ihr Mann und Charlotte waren nicht erschienen. Irgend etwas mußte passiert sein.
     Er suchte Lillys Blick, aber sie sah ihn nur kurz an, nickte ihm mit einem Lächeln zu und begann dann, die Blätter mit dem Programm des heutigen Tages zu studieren, die auf den Stühlen ausgelegt worden waren. Der kleine Saal war voll geworden, einige Leute standen im Hintergrund und an den Seiten neben den Stuhlreihen. Die beiden Plätze, die er für seine Frau und Roland Hanebeck hatte reservieren lassen, waren als einzige frei geblieben. Kurz vor elf beugte ein Herr, der in Begleitung einer Dame neben der Reihe, in der Lilly saß, gestanden hatte, sich zu Lilly hinüber und deutete fragend auf die leeren Stühle. Lilly nickte, der Herr und die Dame rückten in die Reihe und nahmen neben ihr Platz.
     Ihm blieb keine Zeit mehr nachzudenken. Der Tagungsleiter, ein Experte namens Samuel Harper, der die Stadt Savannah vertrat, eröffnete die Sitzung des Vormittags und kündigte einen sehr interessanten Exkurs nach Deutschland an. Zur Debatte werde ein Werk von Professor Kurt Schöne-Bergmann gestellt, dem wohlbekannten und international angesehenen deutschen Architekten, der erst kürzlich durch einen progressiven Museumsneubau in einer mittelgroßen Stadt - einer Stadt von der Größe Savannahs - weithin Aufmerksamkeit auf sich gelenkt habe.
     Leider habe Professor Schöne-Bergmann nicht persönlich zu diesem Symposion nach Savannah kommen können; er habe vor drei Wochen einen Unfall erlitten und müsse noch das Bett hüten. Es sei gewiß im Sinne aller Teilnehmer der Tagung, wenn er Professor Schöne eine gute und schnelle Genesung wünsche.
     Nachdem der Beifall verebbt war, sagte Sam Harper, um so mehr freue er sich, daß der Erste Assistent des Professors, Diplom-Architekt Hans Schumann, im Auftrag Professor Schönes nach Savannah gekommen sei. Mr. Schumann habe seit einer Reihe von Jahren an allen Projekten Schöne-Bergmanns verantwortlich mitgearbeitet, so auch bei dem jüngsten Museumsbau. Er werde über diese höchst interessante Novität berichten und habe sicher eine Fülle von Anregungen für das gleichgeartete Projekt in Savannah mitgebracht.
     Harper trat einen Schritt zur Seite, lächelte ihn an, wies mit einer einladenden Geste auf das Rednerpult und sagte: "Your turn, Mr. Schumann!"
     Er griff nach seinen Papieren, nickte lächelnd Harper zu, der seinen Platz am Tisch des Panels einnahm, und ging zum Pult. Die dunkelhäutige Studentin, die neben dem Pult saß, um ihm bei der Präsentation zu assistieren, bedeutete ihm durch ein strahlendes Lächeln, daß sie bereit sei. Er schlug sein Manuskript auf, ließ einen Blick über das Auditorium wandern und begann mit seinem Referat.
     Anfangs bedrückte ihn noch die Frage, was mit Charlotte und Roland geschehen sein mochte. In den kleinen Pausen, die er einlegte, blickte er hinab zu Lilly und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen; aber sie saß da, offenbar entspannt, mit verschränkten Armen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als interessiere sie nichts anderes als sein Vortrag. Später, als die Leuchten an der Decke und den Wänden des Saals gedämpft wurden und die Studentin seine Fotos und Zeichnungen auf die Projektionswand schickte, entfiel auch diese Ablenkung, er nahm die Gesichter des Auditoriums nur noch als eine Ansammlung heller Flecken wahr und gab es auf, nach Lilly zu suchen und nach dem, was sie wissen mochte.
     Mehr und mehr absorbierte ihn auch sein Thema, zu dem er in den vergangenen Jahren eine sehr enge Beziehung entwickelt hatte. Dieses Museum war und galt als das Werk seines Chefs; aber daß sein eigener Anteil an der Verwirklichung des Projekts sehr beachtlich war, stand für ihn außer Zweifel.
     Außerdem war ihm jederzeit bewußt, daß sein Auftritt ihrem Büro einen Zugang zu dem höchst interessanten Museumsprojekt von Savannah eröffnen konnte, und das bedeutete, wenn auch nur mit viel Glück, den Zugang zu einem millionenschweren Auftrag von internationalem Gewicht. Einstweilen war freilich davon auszugehen, daß einer der namhaften Amerikaner der Westküste oder New Yorks oder vielleicht auch ein Japaner am Ende das Rennen machen würde. Aber eine Außenseiterchance hatten sie, sonst wären sie wohl gar nicht zu dieser Konferenz eingeladen worden. Und er war, nachdem nun auch noch Schöne-Bergmanns Pech ihm dazu verholfen hatte, das Büro zu vertreten, ehrgeizig genug, diese Chance zu der seinen zu machen.

Teil 2