Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Attia Hosain: Licht auf zerborstenen Säulen. Teil 3

14.09.2006.
"Dreißig, aber er sieht jünger aus. Er sieht gut aus ... also so, wie ein Mann aussehen sollte. Helle Haut, sogar ziemlich hell."
"Hatte er in eine Familie eingeheiratet, die du kennst?"
"Ja, bevor er zur Ausbildung nach England ging. Er war ein guter Ehemann. Seine Frau starb vor vier Jahren bei der Geburt ihres Kindes. Glücklicherweise ist das Kind auch gestorben, also wird unsere kleine Zahra keine Stiefmutter, sie kann ihre eigene Familie gründen." Er lachte leise.
"Gott gebe, daß sie blühe und Frucht trage!" rezitierte ihre Mutter.
"Und seine Eltern?" fuhr Tante Abida mit unveränderter Stimme fort.
"Sie leben in ihrem Dorf. Gut, sie besitzen nicht viel Land, aber was bedeutet das schon, wenn einer im Staatsdienst ist und eine gesicherte Zukunft hat?"
"Ja, seine Zukunft ist gesichert, also braucht uns seine Vergangenheit nicht zu kümmern; auch nicht die Tatsache, daß seine Herkunft an unsere nicht heranreicht. Was heißt das schon? Schließlich ist er Beamter ..."
Onkel Mohsin schlug mit seinem Stock gegen die Kante des Diwans, während er mit lauter Stimme Tante Abida unterbrach: "Ich habe Fürsten und Maharajas, geachtete Freunde deines Vaters, vor Beamten den Hut ziehen sehen, nur weil sie weiße Sahibs waren! Der einzige Mensch, vor dem Baba Jan sich verneigte, war der Gouverneur - und seine Tochter ist ledig, weil kein Mann gleichen Ranges zu finden war."
"Mohsin, warum mußt du so reden?" jammerte Tante Majida. "Warum Schatten der Bitterkeit und des Ärgers auf die Zukunft meines Kindes werfen? Laß uns warten, bis unser Bruder kommt, und dann mit kühlem Herzen und klarem Verstand entscheiden."
Doch bevor sie eine Antwort bekam, und während Onkel Musa die Namen Allahs mit noch größerer Inbrunst flüsterte, Zahra sittsam schwieg und ich ängstlich in das angespannte Gesicht Tante Abidas schaute, klangen ärgerliche Stimmen vom Flur her; Hakiman Bua schlurfte zur Tür und rief aufgeregt:
"Abida, komm schnell!"
Tante Abida stand auf und schaute instinktiv zur Tür, die zum Zimmer ihres Vaters führte. Dann drehte sie sich ärgerlich um und rief: "Hört mit dem Lärm da draußen auf! Vater schläft."
Baba Jan schlief in seinem Zimmer, aber wie stets war er überall gegenwärtig, und das drohende Ende trug noch zu seiner Macht bei.
Ich folgte Tante Abida aus dem Zimmer, weil es mit Onkel Mohsins Gegenwart und Gedanken vollgestopft war. Zahra war bereits im Flur, die Neugier machte ihr Beine. Dieselbe Neugier hatte auch die Dienstboten, den Waisenjungen, der dem Koch aushalf, und die Frauen der Gärtner und Wachleute in den Korridor geführt.
Sie alle starrten auf eine kleinere Gruppe im Vordergrund: Jumman, der Wäscher, stand drohend über seiner Tochter Nandi, die zu seinen Füßen kauerte und ihren Kopf gegen den Schlag zu schützen suchte, der in seinen Augen lauerte, während seine Frau, vor Angst zitternd, an der Wand lehnte, mit dem Sari über dem Kopf, so daß er ihr Gesicht verbarg.
"Ich bitte Sie um Hilfe!" rief er heiser mit zitternden Lippen.
"Ruhe!" rief Tante Abida ärgerlich. "Habt ihr denn den Verstand verloren, daß ihr hierherkommt und losschreit? " Ihre Stimme durchfuhr sie alle wie eine Klinge. "Kommt mit mir nach draußen!"
Die schweigende Prozession schlurfte hinter ihr her bis in den Hof. Eine sanfte Brise bewegte die Blätter der Palmen in ihren riesigen roten Töpfen; auf den Treppen zum Rasen hinunter sonnte sich ein Papagei in seinem silbernen Käfig und plapperte auf seiner Schaukel: "Piaray Mithoo, Mithoo Betay. Allah il- Allah", parodierte er Hakiman Buas Stimme.
"Jumman, was ist los mit dir, daß du ins Haus stürzen und diesen Krawall direkt vor Vaters Zimmertür inszenieren mußt?"
Diese Übertreibung konnte die Autorität in ihrer Stimme nicht schmälern; andererseits schienen alle Emotionen in diesem eng begrenzten Haushalt übertrieben.
"Ich hätte sie am liebsten umgebracht", sagte Jumman, "aber dieses Weib, ihre Mutter, sagte, ich sollte Sie um ein Urteil bitten - verzeihen Sie mir! Meine Ehre ist befleckt, und ich war wie von bösen Geistern besessen. Ich überlasse sie jetzt Ihnen, machen Sie, was Sie wollen", und er stieß Nandi grob von sich.
Jumman in Wut erschien fremd: Sein dunkles Gesicht, aus dem ein dichter kurzgeschorener Schnurrbart hervorstach, erhielt durch seine großen dunklen Augen einen sanften Ausdruck ohne Aggressivität. Er trug einen dicken silbernen Armreif um die breiten Handgelenke und einen goldenen Ring im Ohr. Sein weißes, makelloses Lendentuch war hoch über den knochigen Knien geschürzt, denn er stand viele Stunden lang im Wassertank und wusch Kleider, indem er sie in gleichmäßigem Rhythmus von Atem und Bewegung gegen den schrägen gewellten Rand des Tankes schlug.
Aber jetzt verdrehte er die Augen, seine Stimme war rauh; er stieß mit dem Fuß gegen Nandi, die auf dem Boden kauerte und ihr Gesicht verbarg, von dem Hakiman Bua immer sagte, es werde für ihre Eltern zum Verhängnis werden, denn es war nicht das Gesicht eines Mädchens aus einer niederen Kaste.
Früher war Nandi meine liebste Spielgefährtin - sorglos glücklich, furchtlos und frei, anmutig wie eine Gazelle. Wenn ich respektlos war, sagte Hakiman Bua, das käme daher, daß ich mit Dienstbotenkindern spielte. Ich stahl mich davon und fand Nandi in ihrem dampfenden kleinen Zimmer in den Unterkünften der Dienstboten voller feuchter Wäschehaufen, überhitzt von der glühenden Kohle, die bereitstand, um die schweren, schwarzen Bügeleisen zu füttern.
Versteckt in der dichten Hecke am Brunnen, so daß niemand diese Schamlosigkeit sehen konnte, spielte Nandi am liebsten eine Braut. Ich vollzog die Zeremonie, bei der das Antlitz der Braut zum ersten Mal den versammelten Gästen vorgeführt wird, und zog ihr die Hände vom Gesicht mit den fest verschlossenen Augen, hob ihr Kinn und sagte: "Masha Allah! Die Braut ist wunderschön", dabei drückte ich ihr imaginäre Geschenke in die weichen Hände.
Aber als Nandi jetzt ihr Gesicht in den Händen verbarg, war das kein Spiel; das waren nicht die gespielten Tränen einer Braut, die durch ihre Finger fielen.
"Was hat sie wieder angestellt?" fragte Tante Abida scharf.
Vor kurzem hatte Nandi gezielt einen scharfkantigen Stein nach dem Stallburschen einer englischen Familie von nebenan geworfen, weil er über die Mauer geschaut hatte, während sie in dem abgeschlossenen Bereich badete, in dem sich eine Wasserstelle für die Frauen befand. Ein paar Tage später hatte sie den Postboten gebissen und behauptet, er habe sie belästigt.
"Der Fahrer hat die Unselige mit dem Reiniger in der Garage gefunden", sagte Jumma, und seine Stimme war heiser vor Scham und Ärger.
"Ich wollte ihm nur ein Hemd geben, das er vergessen hatte", jammerte Nandi.
"Sei still, du schamloses Flittchen!" donnerte Jumman. "Ich habe ihr verboten, allein in die Männerquartiere zu gehen. Jetzt mußte ich die Demütigung ertragen, daß der Fahrer sie nach Hause schleifte, und mir seine Anschuldigungen anhören. Ich kann jetzt nicht mehr in demselben Haus wie die beiden leben!"
Gegenüber dem Fahrer Noor Khan, der erst seit drei Jahren bei uns arbeitete, beachteten meine Tanten die Purdah-Vorschriften. Jumma und davor Jummas Vater hatten seit ihrer Jugend für unsere Familie gearbeitet; außerdem kamen sie aus unserem Dorf.
Tante Abida wandte sich müde Onkel Mohsin zu und meinte: "Du solltest Noor Khan fragen, was geschehen ist, das ist Männersache." Onkel Mohsin stieß Nandi verächtlich mit seinem silbergriffigen Stock: "Diese Schlampe ist eine Lügnerin, eine Dirne."
Nandi schaute verängstigt auf, sah sich in dem grausam schweigenden, gaffenden Kreis ihrer Verfolger um und schrie: "Schlampe? Dirne? Und gerade Sie sagen das, Sie, der mich dazu gemacht hätte, wenn ich es Ihnen erlaubt hätte?"
Onkel Mohsins Gesicht war verzerrt, als er den Stock hob und ihr damit über die Schultern schlug. Nandi fiel nach vorne, und als ich zu ihr rannte, traf der nächste Schlag meinen Arm; ich schrie: "Ich hasse dich, ich hasse dich", und rannte tränenblind in mein Zimmer.

Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlags-Anstalt

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