Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Andre Gorz: Brief an D. Teil 2

09.08.2007.
Wir hatten es nicht eilig. Behutsam habe ich Deinen Körper entblößt. Der Perlmuttglanz Deiner Brust erhellte Dein Gesicht. Lange habe ich Dich stumm betrachtet, dieses Wunder an Kraft und Zartheit. Das griechische Ideal der weiblichen Schönheit hatte sich in Dir verkörpert. Es war, als wäre die Aphrodite von Milos aus ihrem marmornen Schlaf erwacht. Mit Dir habe ich begriffen, dass die Lust nicht etwas ist, was man nimmt oder gibt. Es ist eine Weise, sich hinzugeben und die Hingabe des anderen herbeizurufen. Wir haben uns ganz und gar einander hingegeben.

In den wenigen darauf folgenden Wochen haben wir uns fast jeden Abend getroffen. Du hast das durchgelegene alte Kanapee, das mir als Bett diente, mit mir geteilt. Es war nur sechzig Zentimeter breit, und wir schliefen eng aneinandergeschmiegt. Außer dem Kanapee enthielt mein Zimmer nur ein Bücherregal aus Brettern und Backsteinen, einen mit Papieren überhäuften riesigen Tisch, einen Stuhl und einen elektrischen Kocher. Du wundertest Dich nicht über mein klösterliches Dasein. Und ich wunderte mich nicht, dass Du es akzeptiertest.

Bevor ich Dich kennenlernte, hatte ich noch nie zwei Stunden mit einem Mädchen verbracht, ohne mich zu langweilen und es sie spüren zu lassen. Was mich bei Dir fesselte, war, dass Du mir Zugang zu einer anderen Welt verschafftest. Die Werte, die meine Kindheit beherrscht hatten, galten dort nicht. Diese Welt bezauberte mich. Ich konnte mich davonstehlen, wenn ich sie betrat, ohne Verpflichtungen und ohne Zugehörigkeit. Mit Dir war ich anderswo, an einem fremden, mir selbst fremden Ort. Du botest mir den Zugang zu einer Dimension von zusätzlicher Andersheit - mir, der ich jede Identität stets verworfen und Identitäten angehäuft habe, von denen keine die meine war. Indem ich Englisch mit Dir sprach, machte ich mir Deine Sprache zu eigen. Bis auf den heutigen Tag habe ich Dich auf Englisch angesprochen, auch wenn Du auf Französisch antwortest. Das Englische, das ich hauptsächlich durch Dich und durch die Bücher kannte, ist für mich von Anfang an gleichsam eine Privatsprache gewesen, die unsere Intimität vor dem Einbruch der uns umgebenden gesellschaftlichen Normen bewahrte. Ich hatte den Eindruck, mit Dir eine geschützte und beschützende Welt zu errichten.

Das wäre nicht möglich gewesen, wenn Du ein starkes Gefühl der nationalen Zugehörigkeit, der Verwurzelung in der britischen Kultur gehabt hättest. Aber nein. Du wahrtest gegenüber allem, was britisch ist, eine kritische Distanz. Ich sagte über Dich, Du seiest ein export only, das heißt eines jener dem Export vorbehaltenen und in Großbritannien selbst unauffindbaren Erzeugnisse.

Beide haben wir uns für den Ausgang der Wahlen in Großbritannien begeistert, aber nur, weil dabei die Zukunft des Sozialismus, nicht die des Vereinigten Königreichs auf dem Spiel stand. Man konnte Dir keinen schlimmeren Schimpf antun, als Deine Parteinahme für Patriotismus zu erklären. Dafür sollte ich sehr viel später den Beweis erhalten, als die argentinischen Streitkräfte die Falklandinseln überfielen. Einem illustren Besucher, der Deine Parteinahme mit Patriotismus erklären wollte, hast Du schroff erwidert, nur Dummköpfe sähen nicht, dass Argentinien diesen Krieg lediglich führte, um eine verabscheuenswürdige faschistische Militärdiktatur aufzupolieren, der Sieg der Briten aber schließlich den Zusammenbruch der Diktatur herbeiführen werde.

Doch ich greife vor. In diesen ersten Wochen bezauberte mich Deine Freiheit gegenüber der Kultur Deiner Herkunft, aber auch der Gehalt dieser Kultur, wie er Dir als kleines Kind übermittelt wurde: eine bestimmte Art, auch die ernstesten Prüfungen ins Lächerliche zu ziehen, eine als Humor verkleidete Schamhaftigkeit und ganz besonders Deine ungemein nonsensical und kunstvoll rhythmisierten nursery rhymes. Zum Beispiel: "Three blind mice / See how they run / They all run after the farmer?s wife / Who cut off their tails with a carving knife / Did you ever see such fun in your life / as three blind mice?"

Ich wollte, dass Du mir von Deiner Kindheit in all ihrer trivialen Realität erzählst. Ich erfuhr, dass Du bei Deinem Paten aufgewachsen bist, in einem Haus mit Garten am Meer, mit Deinem Hund Jock, der seine Knochen in den Blumenbeeten verscharrte und sie dann nicht wiederfinden konnte; dass Dein Pate einen Radioapparat hatte, dessen Batterien jede Woche neu aufgeladen werden mussten. Ich erfuhr, dass Du regelmäßig die Achse Deines Dreirads zerbrachst, indem Du, ohne Dich aufzurichten, über den Bordstein fuhrst; dass Du in der Schule den Stift beharrlich in die linke Hand nahmst und Dich trotzig auf beide Hände setztest, wenn die Lehrerin Dich zwingen wollte, mit der rechten Hand zu schreiben. Dein Pate, der Autorität besaß, hat Dir gesagt, die Lehrerin sei eine dumme Gans und er werde sie zurechtweisen. Und da habe ich verstanden, dass grimmiger Ernst und Autoritätsgläubigkeit Dir immer fremd sein werden.

Doch nichts von alledem kann das unsichtbare Band beschreiben, durch das wir uns von Anfang an vereint fühlten. So verschieden wir sein mochten, immer spürte ich, dass uns etwas Fundamentales gemeinsam war, so etwas wie eine ursprüngliche Wunde - vorhin sprach ich von "grundlegender Erfahrung": die Erfahrung der Unsicherheit. Deren Natur war bei Dir nicht dieselbe wie bei mir. Gleichviel: Für Dich wie für mich bedeutete sie, dass wir in der Welt keinen festen Platz hatten. Wir würden nur den Platz haben, den wir uns schufen. Wir mussten unsere Autonomie auf uns nehmen, und später sollte ich entdecken, dass Du darauf besser vorbereitet warst als ich.


Mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlages
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