Vorgeblättert

Leseprobe zu Zsuzsa Bank: Die hellen Tage. Teil 3

07.02.2011.
Solange es der Herbst zuließ, saßen Aja und ich an den Nachmittagen in einem großen Tuch, das Evi zwischen zwei Bäume gespannt hatte. Sie und Zigi redeten in ihrer Sprache, und sie lachten so leise, als wollten sie es vor uns geheim halten, während wir in den Abend schaukelten, die Schatten länger und dunkler wurden, bis sie alles zudeckten und Evi vergaß, Aja ins Bett und mich nach Hause zu schicken. Dann stieg sie über die wenigen Stufen zum Fliegengitter und verschwand mit Zigi im Haus. Wir konnten sie in Evis Zimmer vor der neuen Glastür sehen, wenn sie sich an den Händen fassten, an den Schultern, wenn Zigi den Arm hob und Evi drehte, wenn sie ohne Musik mit schnellen Schritten durch den schmalen Flur tanzten, die Mäntel an den Kleiderhaken streiften und Zigi seinen Hut schnappte, um ihn Evi aufzusetzen. Wenn wir so schaukelten und schauten, Aja und ich, dann glaubten wir fest, dann wussten wir, so hatte es zu sein, und so würde es eines Tages auch für uns werden.

Nach Wochen reiste Zigi ab und ließ nichts zurück als feuchten Putz, der wegen des Wetters nicht trocknen wollte, und eine Tapete voller Rosen, die hinaus in den Garten strebten. Er fuhr an einem Tag, den er nicht angekündigt hatte, von dem Aja und Evi aber gewusst hatten, er würde kommen, schon als Zigi mit dem Hammer an die Regenrinne geklopft hatte, von Schelle zu Schelle, rund ums Häuschen, dem er eine schmutzig weiße Farbe gegeben hatte. Spätestens als Zigi in seinen Papierblock einen Bus, einen Zug und ein Schiff gezeichnet hatte, spätestens da hatten sie es gewusst. Sie brachten ihn zur Haltestelle, wo er den Bus zum Bahnhof nahm, um in einen Zug zu steigen, der ihn zu einem anderen Zug brachte, mit dem er am Abend die Stadt erreichte, wo das Schiff im Hafen lag, das er über eine breite Treppe bestieg. Eine Treppe, über die er nicht schnell und leicht hinaufging, sondern für die er Zeit brauchte, so schrieb er es jedenfalls in seinem Brief, den Aja heimlich las, nachdem der Postbote ihn Wochen später gebracht, mit dessen ersten Sätzen Zigi aber schon gleich nach dem Ablegen begonnen hatte. Wenn sich der Bus unter den Kastanien am Ende der Straße zeigte, griff Evi nach Ajas Hand, und wenn die Türen sich öffneten, zog sie Aja heran und legte den Arm um ihre Schulter, während Zigi seinen Koffer mit den wenigen Kleidern in den Bus warf, auf die Stufen sprang, mit einer Hand die Stange fasste und sich so zurücklehnte, als wolle er noch schnell mit dem Scheitel den Asphalt berühren, ein Bein vorgestreckt, den Rücken weit nach hinten gebogen, um mit dem schwarzen Hut in der Hand ein letztes Mal zu winken. Evi musste Aja und mir später immer wieder erzählen, wie sie ihm nachgeschaut hatten, als der Bus Zigi weggetragen hatte, mit diesem letzten Kunststück, das er für den Abschied aufgehoben hatte. Auch wenn es Aja selbst gesehen hatte, wollte sie es immer wieder aus Evis Mund hören. Wir fanden nie heraus, wie Zigi den Fahrer dazu brachte, die Türen offen zu lassen, ob er Geld dafür bekam oder mit Evi und Aja Mitleid hatte, wenn sie im Herbst allein zurückblieben, und er die Türen deshalb nicht schloss - bis zur nächsten Biegung, hinter der Zigi seinen Hut aufsetzte, seinen Koffer nahm, ausstieg und zu Fuß weiterging, weil ihm der Bus doch zu schnell fuhr, wie er später schrieb, und er es nicht mochte, sich so schnell zu entfernen, von der Haltestelle, an der Aja und Evi noch eine Weile standen, als wüssten sie nicht, wohin, von dem schma-len Pfad, über den sie langsam, mit kleinen zögernden Schritten, Hand in Hand zurückgingen zu ihrem Haus, das schmutzig weiß unter Birnbäumen stand und an das Zigi in den letzten Tagen noch zwei, drei Bretter genagelt hatte, in der Hoffnung, sie könnten den Winter fernhalten.

Neben seinem Geruch, der verfliegen würde, sobald Evi die Fenster öffnete, hatte Zigi zwischen den Kaffeetassen vom Morgen einen Stapel Zeichnungen zurückgelassen, und Aja nahm einige Blätter davon mit in ihr Zimmer, ließ sie in Schubladen unter Strümpfen und Hemden verschwinden oder klemmte sie ins Fenster, und Evi steckte sie mit Nadeln über ihrem Bett fest, damit sie vom Kopfkissen aus sehen konnte, was Zigi auf weißem Papier für sie dagelassen hatte, ein winziges Bund gelber Blumen, einen winzigen Zirkuswagen, ein winziges Dachfenster und darunter auf einem winzigen Laken ein winziges Kind. Mit der Zeit verschwanden die Bilder. Sie fehlten im Flur, sie fehlten in der Küche, in Ajas Zimmer, sie fielen herunter und rutschten unter den Backofen, hinter die Schränke und Betten, und Evi und Aja machten sich bald nicht mehr die Mühe, sie aufzuheben.

Evi ließ sich nichts anmerken, wenn Zigi verschwunden war, wenn er sich verabschiedet hatte, um in einem Jahr wiederzukommen, wenn er sie mit Aja zurückgelassen hatte, in einem Haus, das er selbst auf wenige Steine gesetzt und aus Holzplatten und dicken Nägeln gezimmert hatte und vielleicht deshalb aussah, als würde es schweben. Evis Leben lief weiter, auch wenn es ihr schwerfallen musste und sie schon das Kaffeekochen Kraft zu kosten schien, und Ajas Leben auch, nach einer stillen Pause, sobald Evi die Kinder vom Lattenzaun weggeschickt hatte, weil Zigi nicht mehr durch die Luft springen und Gläser mit rotem Saft auf der Stirn balancieren würde, sobald Aja begriffen hatte, Zigi würde nachts nicht mehr in der Küche sitzen und unter einem gelben Licht krumme Figuren zeichnen, die sie am Morgen ausmalen durfte. Wenn wir durchs Haus liefen, blieb jetzt immer etwas an unseren Strümpfen hängen, und es dauerte, bis Evi sich wieder fing und ihr auffiel, wie viel Staub und Schmutz an unseren Füßen klebte.

Den Winter über hielt sich Aja fest an Zigis Briefen, an den Zeichnungen, die er für sie in den Umschlag steckte, Männchen mit Pfeilen, die ihr zeigen sollten, welche Bewegungen er gerade einübte, und die wir sofort nachzuturnen versuchten. Aja nahm die Briefe in ihren Hosen und Kleidern mit und zog sie aus den Taschen, wenn wir auf unseren Wegen anhielten, am Bachlauf hinter dem Bahnwärterhäuschen. Zigi hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich meinen Namen zu merken, weil er sich niemals Namen merkte, wie Evi sagte, weil es ihm unwichtig und unsinnig erschien, auch weil sein eigener Name nicht sein wirklicher Name war, sondern einer, den er sich selbst gegeben hatte, in einem Jahr, das sich von Evi schon weit genug entfernt hatte, als Zigi zum ersten Mal ein Schiff bestiegen hatte, das ihn über den Ozean trug und fortriss aus allem, was ihn davor umgeben hatte, um an der Küste, die das Schiff wenige Tage später erreichte, unter einer Zirkuskuppel Tabletts auf seiner Stirn zu balancieren. Aber wenn er schrieb und seinen Brief enden ließ mit: Ich umarme Dich, Dich und Deine kleine Freundin, dann wusste ich, ich war gemeint.
Im Frühling, als ein wärmeres Wetter das erste Grün in Evis Garten setzte und uns über die Felder in den nahen Wald lockte, war es für Aja mit einem Mal besser zu ertragen, ohne Zigi zu sein, leichter noch im Sommer, der laue Nächte brachte und seinen weiten hellen Himmel über uns auswarf, wenn Evi im Korbsessel unter den Birnbäumen saß und mit nackten Füßen übers Gras strich, allein zwischen Stühlen und Tischen, als warte sie auf jemanden. Zigi hatte uns einmal erzählt, es schneie nicht nur im Winter, sondern im ganzen Jahr, wir könnten den Schnee nur nicht sehen. Also legten wir uns an Sommertagen zu Löwenzahn und Butterblumen und schauten hoch zum Kirchblüter Himmel, und wenn ihr die Wolkendecke dicht genug schien, sagte Aja, seht nur, es schneit.     
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Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

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