Vorgeblättert

Leseprobe zu Yu Hua: Brüder. Teil 1

30.07.2009.
I

Glatzkopf-Li, der Super-Multimillionär in unserer kleinen Stadt Liuzhen, hegte einen fantastischen Plan: Er wollte sich für zwanzig Millionen Dollar ein Ticket für das russische "Sojus"-Raumschiff kaufen. Mit geschlossenen Augen auf seinem stadtbekannten vergoldeten Klosett thronend, stellte er sich vor, wie er auf seiner Umlaufbahn durch die unendlichen Weiten des Weltraums kurven würde, ringsumher nichts als unermessliche Stille, während sich tief unter ihm die Schönheit unseres herrlichen Erdballs langsam entrollte, sodass ihm vor lauter Ergriffenheit Tränen in die Augen traten. In diesem Moment kam ihm zum Bewusstsein, wie einsam und verlassen er in dieser Welt war.
     Es gab einmal einen Menschen, der ihm nahestand wie kein anderer. Das war sein Bruder Song Gang, ein Jahr älter und einen Kopf größer als er. Doch dieser aufrechte, unbeugsame Mann, der seinem Namen alle Ehre gemacht hatte - gang bedeutet "stählern" -, war seit drei Jahren tot, war nur noch ein Häufchen Asche in einem kleinen Holzkasten. Selbst der kleinste Baum hinterließ mehr Asche, als von seinem toten Bruder übrig geblieben war!
     Als seine Mutter noch lebte, hatte sie oftmals zu ihm gesagt: "Wie der Vater, so der Sohn!" Damit hatte sie Song Gang gemeint. Ein aufrechter, ein guter Mensch sei der, genau wie sein Vater - zwei Melonen, die an einer Ranke gewachsen seien. Über Glatzkopf-Li sagte sie so etwas nicht. Sie schüttelte nur immer wieder den Kopf und meinte, Glatzkopf-Li und sein Vater seien grundverschieden.
     Ihre Meinung änderte sie jedoch gründlich, als ihr vierzehnjähriger Sohn dabei erwischt wurde, wie er in einer öffentlichen Toilette die Hinterteile von fünf Frauen ausspionierte. Da musste sie erkennen, dass der Junge und sein Vater in Wahrheit ebenfalls zwei Melonen an einer Ranke waren. Glatzkopf-Li entsann sich genau, wie erschrocken seine Mutter damals die Augen abgewandt und ihm den Rücken zugekehrt hatte, als sie unter Tränen murmelte: "Ach ja, wie der Vater, so der Sohn!"
     Diesen Vater hatte Glatzkopf-Li allerdings nie kennengelernt, denn der hatte am Tag seiner Geburt buchstäblich zum Himmel stinkend das Zeitliche gesegnet. Der Mutter zufolge war er ertrunken. Glatzkopf-Li fragte, ob im Fluss, in einem Teich oder im Brunnen, aber sie hatte eisern geschwiegen. Erst später, als er in der Toilette bei der Frauenarschbeschau ertappt wurde und sich sein schlechter Leumund mit Windeseile in unserer kleinen Stadt Liuzhen verbreitete, ging ihm auf, dass er und sein Vater tatsächlich zwei Melonen - zwei stinkende Melonen! - waren, die an ein und derselben Ranke wuchsen, denn der Vater war bei dem Versuch, Frauenhintern von unten zu beäugen, in der Jauchegrube des Plumpsklos ertrunken.
     Von da an machte der Spruch "Wie der Vater, so der Sohn!", in unserer kleinen Stadt Liuzhen die Runde - so gewiss jeder Baum Blätter hat, so unfehlbar führte jedermann diese Worte im Munde. Alte und Junge, Männer und Frauen, jeder ließ sich die sieben Silben genüsslich auf der Zunge zergehen. Selbst die Allerkleinsten, die gerade erst mühsam das Sprechen erlernten, konnten sie schon lallen. Man zeigte mit Fingern auf Glatzkopf-Li, zerriss sich hinter seinem Rücken das Maul und machte sich mehr oder minder unverhohlen lustig über ihn. Er aber spazierte mit ungerührter Miene durch die Stadt, als wäre nichts geschehen. Dabei konnte er sich das Lachen kaum verbeißen, denn mit knapp fünfzehn (so alt war er damals) wusste er bereits, was das ist - ein Mann.
     In der heutigen Zeit kannst du dich vor nackten Frauenärschen nicht retten. Im Fernsehen, im Kino, auf VCD und DVD, in der Werbung und in Illustrierten, auf Kugelschreibern und Feuerzeugen - überall lacht dich ein blanker Hintern an. Es ist gar nicht mit Blicken zu erfassen, was dir da alles geboten wird: weiße Ärsche und gelbe, schwarze und braune, importierte und einheimische, große und kleine, fette und magere, glatte und raue, junge und alte, falsche und echte ... Ein nackter Frauenhintern ist heute nichts Besonderes; du reibst dir die Augen und siehst einen, du musst niesen und hast einen vor dir, du gehst um die Ecke und stolperst über einen. Das war früher anders, da war ein blanker Hintern noch etwas, das nicht mit Gold aufzuwiegen war. Auch nicht mit Silber oder sonstigen Schätzen. Damals konntest du nur versuchen, im Klo einen zu erspähen. Ebendeshalb gab es solche kleinen Spanner wie Glatzkopf-Li, der sich dabei erwischen ließ, oder solche großen Spanner wie seinen Vater, den sein Trieb sogar das Leben kostete.
     Die öffentlichen Toiletten waren zu jener Zeit anders als die heutigen. Heute bekämst du selbst mit Hilfe eines Periskops keinen Frauenhintern zu sehen. Früher aber waren die Aborte für Männer und Frauen zwar durch eine dünne Trennwand voneinander geschieden, die Jauchegrube darunter jedoch war nicht unterteilt. Wenn jenseits der Trennwand eine Frau klein oder groß machte und du alle Geräusche klar und deutlich mit anhörtest, sodass du ganz gieprig wurdest, konntest du dich ungeachtet des beißenden Gestanks, der dir die Tränen in die Augen trieb, mit angelegten Armen wie ein Wettschwimmer auf dem Startblock kopfüber durch das eigentlich für deinen Hintern bestimmte Loch in dem Sitzbrett hinablassen und - mit Bauch und Beinen abgestützt, die Hände fest um den Rand gekrallt, von Schmeißfliegen umschwirrt (aber die bemerktest du gar nicht!) - dich von unten nach Herzenslust an den Hinterteilen der Frauen ergötzen, und zwar umso besser, je tiefer du in der Sitzöffnung stecktest.

Teil 2
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