Vorgeblättert

Leseprobe zu Yoram Kaniuk: 1948. Teil 2

14.01.2013.
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Mitten im Kriegsgeschehen kehrte ich von einem Gespräch mit meinem Vorgesetzten in Kirjat Anavim zurück und legte mich schlafen. Vorher hatte ich noch ein Stück trockenes Brot mit wilden Malvenfrüchten gegessen. Das Brot war mit Weinblättern umwickelt, und jemand sagte, ich hätte vor Schmerz die Augen zugedrückt, weil ich verwundet war oder vielleicht einfach durstig. Dann kam einer an und weckte mich, um mich mit ein paar Kumpels zum Kastel an der Straße nach Jerusalem raufzuschicken. Er sagte, nachts habe man in verbissenem Kampf die Anhöhe erobert und die Kameraden dort seien müde und müssten abgelöst werden. Wir stiegen bergan, und sie kamen uns entgegen. Sie wirkten todmüde, stapften wankend wie eine Prozession von Toten. Einer, der mich kannte, kam näher und sagte: Hör auf mich, geh nicht rauf, das ist ein beschissener Ort. Ich sagte, ich müsste raufgehen. Er drückte ein Stück Gaze mit Salbe auf eine Wunde am Arm und sagte lächelnd: Weißt du, warum das Gaze heißt? Weil es aus Gaza kommt. Ich fragte ihn, ob es deshalb wäre, weil man eines Tages Gaze in Gaza gefunden habe, und er strich mir übers Gesicht und sagte lachend: Zu Römerzeiten oder später - weiß nicht mehr genau, wann, ich war noch ein Kind - gab es in Gaza die beste Watte im Land, und da hat man eine Gazefabrik aufgemacht.

Der Anführer versetzte ihm einen Tritt, damit er weiter ging, und wir riefen Ahalan zur Begrüßung, obwohl ein Abschiedsgruß angebrachter gewesen wäre, und preschten die Anhöhe hinauf bis zu dem großen Haus auf der Kuppe. Mein Gruppenführer Kuschi - bis heute weiß ich nicht, wie er wirklich hieß - hatte einen anderen Weg genommen und erwartete uns schon. Er wies uns an, den Gipfel zu bewachen und, wenn wir eine verdächtige Bewegung sähen, Alarm zu schlagen und notfalls zu schießen, und außerdem sollten wir auf die Jerusalemer Soldaten aufpassen, die noch kein echtes Feuer gesehen hätten und vielleicht türmen würden. Wir kamen an ein schönes Steinhaus im Schatten dichter Bäume und setzten uns. Zwei spielten Karten. Ich sah mir die Landschaft an. Über uns flogen diese hübschen Vögel, die Arabesken an den Himmel malen. Man hörte sie zwitschern. Noch heute, im Nebel des Vergessens, kann ich sie singen hören.

Wir sahen nichts Verdächtiges, und auf einmal kam mein Freund Ari-Name-geändert an und sagte, er habe unten im Dorf Haschisch gefunden und es in einen Sack gesteckt. Den wolle er am Abend nach Kirjat Anavim runterbringen, und ich solle ihn bloß nicht verpfeifen, denn für das Haschisch würde er viel Geld einstreichen. Kuschi sah ihn, und da er seinen Mut kannte, schickte er ihn umgehend auf Meldegang runter, wollte ihm eigentlich auch zürnen, aber in diesem Moment verfielen zwei Jerusalemer in Panik und schrien, sie wollten heim, und wir beide redeten mit ihnen. Sie bettelten, wir sollten sie abhauen lassen. Ich sagte ihnen, das ginge nicht. Sie jammerten noch ein bisschen und beruhigten sich schließlich, und ich schlief ein. Nach kurzem Schlaf aß ich etwas Brot, das wir im Dorf gefunden hatten, und geschlagene Oliven, die großartig schmeckten, und ein bisschen Johannisbrot, aus dem wir Tee aufbrühten. Gegen Morgen kam Ari-Name-geändert freudestrahlend zurück und sagte, unterwegs nach Kirjat Anavim habe er auf der beschissenen Straße einen Jerusalemer Zivilisten getroffen und ihm gleich angesehen, dass das ein Schnäppchenjäger war, denn solche Typen erkenne er auf Anhieb, und tatsächlich habe der Mann, als er von dem Haschisch hörte, Geld aus der Tasche gezogen und es ihm gegeben, und dann sei er, Ari, zum Pfeffermann-Haus runtergerannt, um seine Meldung zu machen. Ari-Name-geändert wollte mir ein paar Pfund unter Freunden abgeben, aber ich sagte, hier im Krieg sei man zum Schluss entweder tot oder verrückt, und ein Verrückter brauche kein Geld.

Plötzlich hörten wir es "Feuer!" schreien und gleich darauf "Hey!". Jemand rief: Ich hab zwei Kugeln abbekommen. Das stimmte, wir haben ihn untersucht: Eine Kugel war einen Millimeter an seinem rechten Ohr vorbeigesaust, die andere etwa einen Millimeter am linken, und er hatte nur zwei Schrammen abbekommen. Wir lachten, und dann schlug mir seltsamerweise eine Kugel neben dem einen Auge ein. Es tat schrecklich weh, brannte, die Kugel war mir offenbar in die Hauttasche, die das Auge hält, gefahren, und das Auge fiel heraus. Ich fing es in der Hand auf. Da die Kugel wohl am Ende ihrer Flugbahn angelangt war, hatte sie mir nur eine Schramme verpasst, und das Auge, das ich in der Hand hielt, war ganz geblieben. Ich setzte es wieder in seine Höhle ein, und der Sanitäter legte mir einen Verband an.

Die Schüsse fielen häufiger, und wir witzelten, der mit den Schrammen an den Ohren würde jetzt besser hören und ich würde besser sehen, und dann kam ein Brummeln auf und danach etwas, das sich wie ein anbrandendes Meer anhörte, und langsam steigerte sich das Rauschen zum Sturmgebraus. Wie einfallende Heuschrecken schwärmte eine Menschenmenge bergauf. Die schwarzen und roten Kafijas kamen angestürmt, setzten über Felsbrocken. Hunderte von Männern rannten und sprangen den Südhang herauf. Wir wussten nicht, wo dieses große Heer plötzlich herkam, wo es sich vorher verborgen hatte. Es war erschreckend, sie anströmen zu sehen, wie eine Herde Affen, die einen Baum erklimmt und schießt.

Kuschi war im ersten Moment genauso verdattert wie wir, und Chaim K. rannte wie von Sinnen zu dem Scheichgrab am Hang zur Straße und geriet unter Beschuss, aber die Patronen verfehlten ihn, und Kuschi entsandte einen Soldaten zum Hauptquartier, um Meldung zu machen, und wir schossen nun wahllos auf die Angreifer, die wir kaum sehen konnten. Sie schrien Alehum und Allahu akbar und al-yahud basurmeya, was der Jude in der Sohle bedeutet, und Kuschi lachte, mitten in dieser Hölle, und ich dachte, wir kämen hier nicht wieder lebendig raus. Jemand fing an, Bésame Mucho auf Arabisch zu singen: Albi Machruf ..., und so kapierten wir, dass das unser Ende war.

Wir waren zehn müde Krieger vor dem Haus des Dorfältesten, umringt von Olivenbäumen, und die Massen stürmten von allen Seiten an, preschten zu Hunderten herauf, und wir schossen auf sie und schafften es irgendwie, zwischen den Schüssen nicht einzuschlafen, und ich sah eine prächtige Kefiya, von einem golddurchwirkten Akal gehalten, und darunter einen Mann mit Säbel am Gürtel, und Mosche schrie, guckt euch den an, quasi Rudolph Valentino! Und der Buck Jones mit der Kefiya rief auf Englisch: Hello Boys, und wir verstanden nicht recht, warum man uns auf Englisch anredete, und seine Kameraden schossen auf uns und sprangen weiter, und Mosche traf Valentino exakt in dem Moment, als der seinen Irrtum begriff und die Pistole zog, um auf uns zu feuern, und ein Mordstumult brach aus. Einige von uns wurden verwundet, die Zeit schien stillzustehen, und es gab jede Menge Feuer.

Bis heute verstehe ich nicht, wieso sie das Dorf nicht zurückerobert haben. Sie waren sehr viele und so hellwach, als hätten sie die ganze Nacht schwarzen Kaffee getrunken. Uns blieb nur noch wenig Munition, aber bald schon drang ein Schrei aus dem Funkgerät: Wir kommen.

Während wir noch schossen, kam ein Trupp von dreiundzwanzig Mann unter dem Befehl von Nachum Arieli angerannt. Sie preschten durch den Feuerhagel herauf. Nachums Stellvertreter befahl uns abzuziehen und rief: Die Soldaten zurück. Die Anführer decken den Rückzug! Die Felsen schrien vor Schmerz. Johannisbrot fiel vom Baum. Feigen stürzten zu Boden. Schimon Alfassi, der gerufen hatte, die Soldaten zurück, die Anführer decken den Rückzug, werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Einige der besten Kommandeure der Brigade, von denen man jedem Einzelnen prophezeite, er würde mal Präsident irgendeines Staates oder General werden, stürmten herbei, um die sieben oder acht einfachen Soldaten zu schützen, die noch am Leben geblieben waren, Hosenpisser, die auf Befehl das Weite suchten.

Die Kommandeure unter Nachum Arielis Befehl bildeten ein Spalier zu beiden Seiten der Gasse, zwischen verrußten Häusern, unter einem wahren Höllenfeuer, und wir schritten zwischen ihnen hindurch wie auf dem Weg zum Hochzeitsbaldachin. Einer nach dem anderen fielen sie unter den Schüssen, und die noch Stehenden deckten uns weiter, schossen auf die Angreifer und starben. Mit einem Auge sehe ich sie mich verteidigen und dabei umfallen wie Dominosteine, und ich will schießen, habe aber keine Munition mehr.

Die schwarzen Massen erreichten die Kuppe am Haus des Scheichs, und ehe sie noch die Anhöhe gänzlich erobert und uns und unsere Anführer allesamt umgebracht hatten, fingen sie schon an, die Leichen zu schänden. Nicht alle waren ganz tot, und so begannen sie, unsere blutenden Verwundeten mit Messern abzuschlachten. Und wir rannten abwärts, ohne innezuhalten, wollten auf die Mörder schießen, konnten es aber nicht. Auch den anderen war die Munition ausgegangen, und wir erreichten das Scheichgrab unten an der Straße nach Jerusalem, und auch aus Colonia, jenseits des Tals, schossen sie auf uns - und dann plötzlich sahen wir sie alle innehalten. Große Stille. Sie standen vor den Leichen, die sie misshandelt hatten, und fingen an zu heulen. Standen vor der Reihe der Toten und schrien und wiegten sich wie besoffene Tänzer, und statt den Berg zu erobern, den sie schon in ihrer Gewalt hatten, verfielen sie plötzlich in furchtbare Trauer. Wir begriffen nicht, was sie hatten. Wir sahen unsere Verteidiger, mit Dolchen erstochen, auf der Erde verbluten, und die siegreichen Araber liefen zwischen den Leichen davon.

Wir waren schon runter von der leeren Anhöhe, hatten keine Ahnung, was wir machen sollten, unsere Augen tränten von dem Feuer, wir robbten davon, erreichten schließlich Kirjat Anavim, und einer der Befehlshaber dort blickte auf die Papiere, die einer von uns dem Valentino mit der prächtigen Kefiya und dem golddurchwirkten Akal aus der Tasche gezogen hatte, und sagte, Himmel, das ist ja Abdel-Kader al-Husseini. Der elegante Mann war schon in den dreißiger Jahren der legendäre Anführer der arabischen Truppen in der Gegend gewesen und darüber hinaus auch noch ein Cousin des Muftis von Jerusalem. Statt also den Berg zu erobern, den sie schon in Händen hatten, waren sie in ihrem großen Schmerz über den Tod ihres Befehlshabers nach Jerusalem zurückgekehrt, um ihm mit Tausenden anderen das Geleit zum königlichen Begräbnis zu geben.

Vielleicht hat sich in diesem Moment, als wir um ein Haar umgekommen wären und den wichtigsten Befestigungsposten an der Straße nach Jerusalem verloren hätten, in dem Gefecht, das Benny Marshak den "Krieg um die sechs Meter Straße zur Stadt" nannte, das Kriegsglück gewendet. Wir begriffen, dass man ein erobertes Dorf von strategischem Wert nicht einfach so wieder verlässt. Deshalb erstiegen die Kumpels von unserem Bataillon schnell die Anhöhe und sprengten einige der Häuser. Nun blieb nur noch Colonia, das schönste und grausamste der palästinensischen Dörfer, das sieben Serpentinen der Straße beherrschte, in denen wir viele Kampfsoldaten und Konvoi-Begleiter verloren hatten. Ohne groß nachzudenken, wurde beschlossen, einen Zug zur Bewachung von Kastel dazulassen. Das war, nach unserem komischen Sieg in Caesarea, das zweite Dorf, das im Krieg erobert wurde und künftig uns gehörte.

zu Teil 3

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