Vorgeblättert

Leseprobe zu Yoram Kaniuk: 1948. Teil 3

14.01.2013.
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Einige Zeit später saß ich an einem Brunnen in irgendeinem arabischen Dorf. Vielleicht in Zurif. Ich weiß es nicht mehr. Ich trank kühles Wasser aus einem Tonkrug und aß Sauerklee, und der Anblick der gemetzelten Leichen ging mir nicht aus dem Sinn. Warum waren sie gekommen?, dachte ich. Dreiundzwanzig der besten Leute waren heraufgezogen, um wie viele zu retten? Sechs, sieben, vielleicht acht. Wer wird jemals verstehen, was sich tatsächlich dort abgespielt hat, in jenem finsteren Tal, und ich dachte - ich erinnere mich, dass ich plötzlich nachdachte, vielleicht das erste oder zweite Mal in dem ganzen Krieg -, warum sind dreiundzwanzig Männer gekommen, um sechs zu schützen, warum dreiundzwanzig der Besten, die besser waren als ich im Gründen von Staaten, besser als all meine Pinkelbrüder, denn wer waren wir schon? Hatten wir eine Zukunft? Jene Toten hätten eine Zukunft gehabt. Sie hätten Geiger, Maler, Wissenschaftler, Feldherren werden können. Wer von uns würde etwas werden in der Zukunft, die diesen Toten schon genommen war?

Dreiundzwanzig Mann, jeder einzelne eine Legende, Männer, die sich bewiesen hatten, und allen voran Nachum Arieli, imponierend, er sang schön, sah gut aus, und er war gekommen, um mich zu decken - der edle Recke kam, um den beschissenen Clown zu retten, der ich damals war. Und ich dachte mir, was wird morgen, über morgen werden, man wird es als Hebel benutzen, wird sagen, seht mal, wie die Palmach ihre Leute verteidigt. Heute weiß ich, dass bei diesem Einsatz das legendäre "mir nach" geboren wurde, das "mir nach", das die Besten das Leben kostete. Zahlt sich das aus? Ist es klug? Musste jemand, der klüger und einsichtiger und älter war als ich, in der Todesliste über mir rangieren, musste er in den Tod springen, vor meinen Augen sterben, niedergemetzelt werden, nur damit ich, Mamas Liebling, am Leben bliebe? Was für ein Leben kann man nach dieser ganzen Geschichte noch führen?

Wenn wir letzten Endes siegten und der Staat Benny Marshaks und Ben Gurions und der Palmach-Unterhaltungstruppe Wirklichkeit wurde, würden ihn doch all die bevölkern, die nicht freiwillig eingerückt waren, nicht für seine Entstehung gekämpft hatten. Sie wären dann das Salz des Landes, der Zucker des Landes, die Sahnebonbons des Landes, die Süßen des Landes, der Feigenkaktus, der sich in herbe Schokolade Marke Lieber verwandelte. Was für Blumen aus Erez Israel würden wir werden, wir Unreinen, die es nicht verkrafteten, dass jemand Größeres für sie gestorben war. Wie sollte ich leben bei all dem Blut, das für mich vergossen wurde, damit ich nicht sterben sollte, dachte ich, als ich so dasaß. Oder vielleicht war das etwas später, als ich schon verwundet war und mich in der Pension Bickel erholte, im belagerten, geschlagenen, kranken, hungernden und durstenden Jerusalem.

Damals konnte ich noch denken, dass ohne Nachum Arieli und seine Kameraden kein Staat entstehen würde, dass mit ihnen die Truppe zerstört war, die nach uns hätte kämpfen sollen. Und jetzt, da ich dies schreibe, als alter Mann von schlechter Gesundheit, denke ich, dass das "mir nach" großartig und edel, aber irrig gewesen ist. Man hätte das "mir nach" auf der Anhöhe von Kastel nicht zum Mythos erheben dürfen. Die Besten sind immer mehr wert. Sie hätten das leisten können, was ich nicht bringen kann. Nachum Arieli wäre Generalstabschef oder Verteidigungsminister geworden, und ich bin ein Außenseiter geblieben, sitze abgeschieden in meinem Haus und schreibe nieder, was ich nicht war und nicht sein werde, vergleiche mein Leben mit dem von Nachum Arieli und von Schimon Alfassi, dem Heldenhaften, der den furchtbaren Satz schmiedete: Die Soldaten zurück. Die Anführer decken den Rückzug!, und der starb. Sie alle sind gestorben, bis zum letzten Mann.

Ich bin am Leben geblieben. Man hat auf mich geschossen. Danebengetroffen. Auch mal nicht daneben. Aber mein Leben ist nichts als die Banalität "eines Ysops, der aus der Mauer wächst", wie es in der Bibel heißt. "Mir nach" war der schlimmste und edelste Fehler in jenem grauenhaften Krieg, der sich heute schwer erklären lässt: Was es heißt, einen Krieg ohne Panzer und Flugzeuge zu führen, nur mit ein paar kleinen, fliegenden Rumpelkisten am Himmel, ohne Waffen, ohne Verpflegung, ohne Wasser, ohne Geschütze, ohne Kleidung zum Wechseln, ohne alles. Jerusalem belagert, ausgehungert, ständig schlagen Granaten ein, Menschen sterben beim Anstehen nach Wasser und Petroleum. Wie soll man jungen Soldaten, die in anderen Kriegen mit moderner Ausrüstung und gutem Training sterben werden, heute erklären, was der Geist der Palmach gewesen ist? Was der Geist des Menschen ist. Was eine Vision, was ein Traum ist. Wovon träumt man? Ich weiß es nicht. Vielleicht war alles vergebens.

Als ich halb tot aus dem Krieg zurückgekehrt war und das Land sich mit Holocaustüberlebenden füllte, die von unseren Spaßvögeln als Sabonim - Seifen - bezeichnet wurden, aber tausendmal stärker waren als wir, begriff ich, dass es sich doch gelohnt hatte. Aber auch dann: Wie erklärt man einem Jungen an Bord der "Van York", einem Jungen, der als Zwölfjähriger in Auschwitz Brillanten in den Aftern seiner toten Eltern gesucht hat, um sie an SS-Leute zu verkaufen, wie erklärt man dem, was in Kastel passiert ist? Kastel war doch eine nette Kindergeschichte im Vergleich zu dem, was der Junge mir in knappen Worten erzählte, ehe er dann sechzig Jahre lang darüber schwieg.

Viele Jahre später ging ich eines Tages arglos auf der Allenby-Straße, vorbei am ehemaligen Allenby-Kino, als unvermittelt ein grauhaariger, gertenschlanker Mann vor mir stehenblieb, an der Hand ein kleines Mädchen, vielleicht seine Enkelin - so hübsch und zart, etwas erschrocken vor dem fremden Mann, der ich mitten auf der belebten Straße für sie war -, und hinter ihm seine Frau. Er starrte mich fragend an, und ich war mir sicher, dass ich ihn kannte, aber woher? Du bist Yoram, sagte er. Ja, bestätigte ich. Und er sagte, erkennst du mich nicht?, und fing an zu lachen, und ich lachte mit und entsann mich auf einmal, seine Augen waren mir in Erinnerung geblieben, tief hinter all den Zwiebelschalen, mit denen jeder sich umhüllt. Wir fingen an zu reden, ein paar Sätze, ich sagte etwas, war aufgeregt, auch er war bewegt, und dann gingen uns auf einmal die Worte aus. Mein Leben und seins waren nicht mehr das gleiche. Wir teilten die Erinnerung an einen Tag an Bord des Schiffes, als er ein geschundener und zorniger Junge war, der die Brillanten seiner toten Eltern an SS-Männer verkauft hatte, und jetzt war er ein älterer Mann, der mir seine Frau und seine Tochter oder Enkelin vorstellte, ich weiß es nicht mehr genau. Wir verharrten einen Moment stumm und verabschiedeten uns dann, denn wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Die Erinnerungen wechselten Blicke und Sätze, aber uns fehlten nun die Worte.

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Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau Verlags.