Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulf Erdmann Ziegler: Hamburger Hochbahn. Teil 3

08.03.2007.
Skinker Boulevard


Was Tom sah, als er im brausenden Verkehr des Skinker Boulevards erwachte, war ein modernes Haus, das in See sticht, zum Greifen nah die Instrumente der Kajüte, Kompaß und Karte. Kaum saß er auf dem Sofa aufrecht, erkannte er den Glastisch, in dessen Grund der weiße Teppichflor erschien wie ein gerippter Wolkenhimmel, und die Spiegelung zeigte ein scharfgeschnittenes Geviert, die Unterseite des Balkons im siebten Stockwerk der Dorchester Apartments. Er war müde, voll bekleidet, verschwitzt, und sein Herz raste.
Am Horizont, drüben in Illinois, zeigte sich farbig die Dämmerung, während die Lichter der Stadt den Park noch immer rahmten wie einen dunklen Kubus. Eine Stelle, übernatürlich silbergrau, zeigte sich im Fernglas als Krümmung in der nördlichen Hälfte des Bogens. Während er ver­suchte, das Fernglas ans Fenster gepreßt, die Schärfe nachzustellen, verschwand der Bogen im Dunst. Die Lichter der Stadt waren bleich geworden.
Er blieb am Fenster stehen, fröstelnd, das Fernglas gesenkt. Das Licht erfaßte den Park, floß hinein in seine Masse, rollte ihm, dem Betrachter in der Fensterfront des Dorchester, entgegen, erfaßte die kahlen Baumkronen, die sich glitzernd belebten, gab ihnen einen Aprikosenton, der überging in Gold, in Orange, so weich, daß die Stämme und Äste, obwohl im Gegenlicht, keine Schwärzen mehr zeigten. Der warme Ton lief die Stämme hinab bis fast auf den Boden. Dann stand, durch einen Schleier zu sehen wie eine Medaille, die Sonne am Himmel, und der Winterparkfiel in schwärzliches Silber.
Elise, die Tagesdecke über den Kopf gezogen und zur Wand gekehrt, hatte die Offenbarungen der REM-Phase über sich ergehen lassen und erwartete nun, im dunklen Kanal dahingleitend, die Rückkehr des Ichs, das sich in Achtel- und Viertelportionen meldete. Sie war kein Freund ihrer Träume. Sie spürte sich wachsen, schwerer werden in Richtung Tag, nun zum Fenster gewandt. Die Lamellen der Jalousienfingen das Tageslicht auf und warfen es steil nach unten.
Tom, geduscht und frisch gekleidet, war durch die offene Tür eingetreten. Niedergekniet vor ihrem Bett, betrachtete er sie. Elise gehörte nicht zu denen, deren Gesicht im Schlaf davonlief. Ihre Züge waren eben, der Atem unhörbar, die Augen still. Er hatte sie oft betrachtet, ahnend, daß dies die einzige Möglichkeit war, sie ohne jede Verstellung zu bewundern, wie eine lebendige Totenmaske. Es gab etwas, das man in dieser Weise üben konnte auszusprechen, auch wenn es letztlich ungesagt bleiben würde. Ein wenig verachtete er die Rührung, die ihn dabei ergriff.
Er zuckte zusammen, und sie öffnete die Augen, als das Telefon in der Küche ansprang - ein übersteuertes Klirren, als wäre der Ton in Rohform angekommen, um keine Zeit zu verlieren -, gefolgt von einem artigen Echo des Telefons, das neben Elises Bett stand, so als trüge der Bote der Nachricht, die zu überbringen war, Glacehandschuhe. Er nahm den Hörer ab.
"Hallo?"
"Sag deinen Vornamen."
"Was?"
"Sag deinen Vornamen."
Dies war das Erscheinen einer Figur namens Ed, einer, nach dem man nicht gefragt und mit dem man nicht gerechnet hatte. Er war es, der handschriftliche Listen mit gebrauchten Möbeln zu schrägen Preisen in Supermärkten aushängte und für den die Welt oder der Alltag, dies eine Frage der Perspektive, aus Menschen bestand, deren Vornamen er sich merkte, denn sie waren seine Klienten und kamen zu ihm nach Haus zu bestimmten Terminen, die sich niemals überschneiden durften. Der Termin Tom wurde für den gleichen Tag auf drei Uhr dreißig am Nachmittag festgesetzt.
Die Büros der Akademie lagen im Keller, die Decken auf der Basis eines Quadratmoduls abgehängt, in dessen Raster man die weißen Kunststoffplatten jederzeit vertauschen konnte mit weißer, sparsamer Beleuchtung. Im Vorraum des Sekretariats hatte sich die ganze lehrende Fakultät in ­einem Schaukasten dargestellt, Fotos grinsender Gestalten, wie man sie im Familienalbum findet, mit Namen, Titeln und akademischen Lebensläufen.
Die Vorstellung, die folgte, legte die Ränge fest. Alle ­helfenden Berufe, von der Sekretärin bis zur Personallei­terin, waren glücklich, mit Vornamen angesprochen zu werden. Elise war im Handumdrehen Professor Katz geworden. Welche Anrede für Tom gelten sollte, blieb ungeklärt.
Elise war erwartet worden, wie ein Stapel von For­­mu­laren verriet, und würde drei von neun Wochen brauchen, um diverse Verfahren zu durchlaufen, die die Erlaubnis zu arbeiten brachten, den allgemeinen Zugang zu allen Einrichtungen der Universität und die Befreiung von der Steuer. Dies, und alle anderen Dinge, verstand eine Helen zu ordnen und zu lenken, die Elise zu trösten wußte, wenn es Probleme nicht gäbe, gäbe es ihren Arbeitsplatz nicht.
Das zentrale Gebäude der Universität lag hügelan wie eine Festung in Verlängerung jener Achse, die als Forest Park Parkway vom Fluß her kam. Wo die Universität begann, endete das Terrain der Stadt, die nicht wachsen konnte, weil sie von Gemeinden umstellt war, in die die Bürger von St. Louis flüchteten, sobald sie es sich leisten konnten, keine mehr zu sein. Tom, während Elise mit Helen die For­mulare ausfüllte, entschied sich für die Erkundung des Stirngebäudes, das aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stammen mußte - was schnell widerlegt war. Denn die Anlage der Flure, teils winzige Seminarräume und enge Sprechstundenzimmer, war nichts anderes als ein halbmoderner Funktionsbau, vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre alt, die aufwendige Sandsteinfassade falsches Altengland.
Die Fakultäten der Kunst und Architektur aber waren in einem klassischen Akademiegebäude untergebracht. Der gewichtige Bau, symmetrisch, sah aus hohen Fenstern herab auf den Parkplatz, der dem Campus vorgelagert war. Die Architektur besetzte den westlichen Flügel, die Kunst den östlichen, und in der Mitte war als forscher Neubau eine Bibliothek eingehängt, mit der Galerie im Souterrain und den Büros, auch Helens, im Keller.
Die Symmetrie der Kunst- und der Architekturakademie bestand nur äußerlich. Die Kunstakademie war labyrinthisch, zu betreten nur über einen unterirdischen Zugang; das Portal, einst der Haupteingang, sah man später von innen verschlossen. Die Klassenräume mit ihren hohen Türen waren verbunden über ein Netzwerk von Fluren wie ein Krankenhaus. Die Führung hatte Patricia Borrelli übernommen - Professor Borrelli oder Patty, der Elise die Einladung verdankte. So standen sie zu dritt in einem weißen Saal, durch Einbauten mehrfach unterteilt in Kojen. Dort sollte Elise die Nachwuchskünstler unterrichten.
"Das ist Ihr Atelier", sagte Patty.
Elise sagte nichts.
Die Architekturakademie jedoch beging man über das zentrale Treppenhaus, und die Arbeitsplätze der Studenten lagen über drei Etagen in linken und rechten Flügeln offen da. Den Sprung vom Zeichenbrett zum Computer machte man vom ersten Stockwerk zum zweiten, und im dritten arbeitete man wie in einem professionellen Büro mit allen Mitteln.
"Anch?io son un architetto", raunte Elise.
"Prächtig, nicht?" murmelte Tom.
Studenten, die vor einer Entwurfszeichnung standen, traten beiseite, um die Besucher heranzulassen. Sie zeigte die Fassadenansicht eines halbtransparenten Baus auf einem Handtuchgrundstück zwischen zwei heruntergekommenen Gebäuden, eine suggestive Montage aus dem Computer mit Anpflanzungen und Passanten.
"Die Rettung einer Straßenzeile?" fragte Tom.
"Ja, urbane Erneuerung", antwortete ein Student.
"Aufwertung von Nachbarschaft", sagte ein zweiter.
"Angelhaken für Investoren", grinste ein dritter, argwöhnisch beäugt vom ersten.
Im Hintergrund saß ein Mann auf einem gußeisernen Drehstuhl, weit zurückgelehnt, und beobachtete die Gruppe mit dunklen Augen durch eine randlose Brille. Er sagte nichts, aber unwillkürlich wandte sich die Gruppe ihm zu.
"Entschuldigung", sagte Pat Borrelli. "Dies ist Professor Katz, Elise Katz aus Hamburg, sowohl Gastprofessorin in der bildenden Kunst wie auch die Künstlerin unserer nächsten Ausstellung in der Universitätsgalerie."
Der Mann blieb sitzen und blinzelte.
"Und ihr Begleiter, Tom Shwortz."
"Willkommen in St. Louis", sagte der Mann, mit einem ironischen Unterton.
"Dies ist Professor Ted Kuhn", ergänzte Borrelli.
Der erhob sich, eine kleine, schmale Gestalt mit leichtem Bauchansatz, und gab erst Elise, dann Tom die Hand. Auf seinem verknitterten Jackett lagen einige Schuppen, die aus seinem dünn gewordenen, halblangen Haar gerieselt waren. Zum Jackett trug er Bluejeans und niedrig geschnittene Schuhe mit Ledersohlen.
"Entwurf im dritten Jahr", sagte er. "Nicht mehr weit von der Praxis."
"Ab nächstem Semester wird Schlips getragen", skandierte der dritte Student.
Kuhn: "Das ist Timothy, unser Kritikmonster."
Timothy riß scherzhaft den Mund auf wie das Krümelmonster aus der Sesamstraße.
Kuhn: "O, richtig. Zeit für Mittag."
Als Elise und Tom zum Auto zurückkehrten, fanden sie unter dem riesigen Scheibenwischer des Neon einen Strafzettel der Campus Police festgeklemmt. Das erinnerte Elise an den Stapel hochglänzender Pappen, die ihr Helen mit­gegeben hatte. Sie waren als Aufhänger geformt und mußten in die Halterung des Rückspiegels eingeklinkt werden. ­Zunächst sollte man drei Felder auskratzen, in denen dann fälschungssicher das Tagesdatum, der Monat und das Jahr erschienen.
"Das ist so eine Art Geschenk. Eigentlich muß man nämlich das Parken semesterweise bezahlen."
"Aber doch nicht als Lehrender?"
"Als jeder."
"Und was machen wir mit dem Strafzettel?"
"Den bringen wir zu Helen. Sie kann das irgendwie rückgängig machen."
"Was ist denn das eigentlich für ein Job, den die hat?"
"Eine Art Büro gegen die Bürokratie, glaube ich."
"Und was ist eine Campuspolizei?"
"Keine Ahnung."
Auf dem Weg zu Ed machten sie Station bei Harvey?s Bagel Company, ein freundlich gehaltenes Cafe am Supermarktplatz. Immer noch geistesabwesend durch die Zeitverschiebung, saßen sie da und beobachteten das Personal, fünf schwarze Frauen. Vier von ihnen waren ausladend, bei weitem nicht so schwer wie die Kundin bei Schnuck?s, die Tom am Vorabend entdeckt hatte, aber sie hatten dennoch den schweren Gang und paßten nur noch mit sichtbaren Kompromissen in die Harvey-Uniformen. Offensichtlich hatten sie sich gut abgestimmt in der Bedienung der Espressoautomaten, der Mikrogrills, des Sandwichtresens und der Kasse, denn sie schoben umeinander herum, Planeten auf unterschiedlichen Bahnen.
Die Gruppe, als die sich die vier Matronen darstellten, wurde konterkariert von einer jungen schwarzen Frau, ­deren Alter - anders als bei den Dicken - leicht zu schätzen war. Sie mochte zwanzig Jahre alt sein und trug die braune Uniform mit Anmut nach Vorschrift. Man würde sie überall wahrnehmen als wohlproportionierten Twen mit einem feinen Gesicht und einer sorgsam geglätteten Frisur. Sie war der Inbegriff all dessen, was die schweren jungen Frauen im Spiegel wünschen würden zu sehen. Das schien sie jedoch selbst nicht wahrzunehmen. Sie war vollkommen eingebunden in das routinierte Spiel der Gruppe hinter dem Tresen, so konzentriert und ökonomisch, schwesterlich und herzlich wie eine jede von ihnen. Sie hob das Gewicht der anderen auf.
Es paßte zu Ed und seiner rauhen Stimme und peniblen Diktion, daß er an einer Straße wohnte, die Wise hieß. Ihm war der weiße Bart aus dem Gesicht gewachsen, und die Brille hatte er seit den sechziger Jahren nicht mehr abgenommen. In der Fliegengittertür eines Holzhauses mit dem Charme der O?Keefe-Zeit nahm er die Kundschaft in Empfang und überreichte einen handgeschriebenen, fotokopierten Katalog - einen bekam Tom und einen Elise -, der Objekt für Objekt das verzeichnete, was er im staubigen Licht nackter Glühbirnen ohnehin vorführte: ein nahtlos gepacktes Warenhaus gebrauchter Kleinmöbel aus vier Dekaden. Ed hatte die Waren an den Wänden vom Fußboden bis zur Decke aufgestapelt, und um den Platz dessen, was einmal ein Wohn- und Schlafzimmer gewesen war, auch wirklich zu nutzen, freistehend Tapeziertische aufgebaut, auf und unter denen weitere Dinge geschachtelt, getürmt und ineinandergelehnt waren, so daß nur er allein die Aufgabe bewältigen konnte, eine Lampe oder einen Spiegel aus dem Konglomerat zu lösen. Es zeigte sich, daß alle Räume des Hauses in dieser Weise genutzt waren, und als sie die quadratische Küche passierten, wies er flüchtig auf die ohnehin unübersehbare Matratze, queen-size, die dort diagonal eingelegt war:
"Der einzige Platz, der mir selbst geblieben ist."
Noch bevor Tom seine Beobachtung artikuliert hatte, daß ein Schreibtisch, den zu besichtigen sie gekommen waren, sich im Inventar nicht fand, winkte sie Ed ins Dunkel der Vorstadtstraße, die, einen Block hinter dem Highway, dekoriert war mit Blinklichtern für Weihnachten und Flaggen für den Heldenkrieg. Es hätte 1942 sein können, in etwa das Jahr von Eds Geburt. Einige Häuser weiter öffnete er das hölzerne Doppeltor einer Gartengarage, in der sich das Lager in gleicher Manier fortsetzte, prekärer noch in der verschachtelten Ordnung. Niemand außer Ed durfte die Garage betreten, die Tom und Elise von draußen betrachteten wie eine Bühne. Dort fand sich ein Tisch, dessen Platte sie zur Probe auf ihrem massiven Unterbau absetzten, alles nach Eds Instruktionen - Warnungen, nicht das Falsche zu tun, gepaart mit Anweisungen, mit welcher Hand und welcher Drehung die Bewegung des Gegenstands ohne Mühsal und Verhängnis zu erfolgen habe. Eine dicke Schicht blauen Linoleums, einst eine tadellose Fläche, war an den Rändern aufgequollen und an zwei von vier ­Ecken weggebrochen. Dennoch bekam Ed achtundzwanzig Dollar und fünfzig Cent, und sie demontierten den Tisch und richteten nach seinen Maßgaben die Platte im Kofferraum des Mietwagens auf, wo sie steil herausstand als ungeschickte Erinnerung an eine Zeit, in der amerikanische Autos Flossen hatten.
Selbst im großen Schlafzimmer, ganz ans Fenster geschoben, sah der Schreibtisch noch riesig aus. Elise war begeistert von der simplen Konstruktion, dem H-förmigen Unterbau, in dem die Tischplatte über Zargen versenkt und nur durch zwei mächtige Schrauben und Muttern gesichert werden mußte. Auf diesem Tisch hätte man tanzen können. Tom strich über das kühle Linoleum, die leere blaue Fläche wie ein blind gewordener Spiegel.
Elise lag auf einem der Betten und beobachtete ihn.
"Was willst du tun?"
"Das, was sie in der Gauloises-Werbung tun."
"Nichts."
"Genau."
"Das ist das schwerste."
"Das wird sich zeigen."
Der Nieselregen hatte etwas Wärme mitgebracht. Die Heizung im Dorchester lief immer noch ächzend auf vollen Touren, als wenn das ganze Gebäude Fieber hätte. Er legte sich zu Elise, hinter sie, einen Arm gestreckt als Kissen und den anderen um sie gelegt. Sie lullten sich ein im automobilen Brummen, bewegtes Streulicht an der Decke, beruhigt von der animalischen Nachbarschaft; die kleinste aller Herden.

Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlages
(Copyright Wallstein Verlag)


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