Vorgeblättert

Leseprobe zu Sergio Bizzio: Stille Wut. Teil 2

12.07.2010.
Das Gespräch ging noch ein paar Minuten auf diese Art weiter. Keiner von beiden wollte gehen: Bei ihnen hatte der Blitz eingeschlagen. Nicht einen Millimeter hatten sie sich während des Gesprächs von der Stelle bewegt; mit den Hüften ausgleichend, hatten sie ihre Oberkörper einander angenähert und waren zurückgewichen, immer vom selben Punkt aus, als wären sie am Boden festgenagelt.
Der Portier vom Gebäude nebenan beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Das Mädchen hatte er schon häufiger gesehen, immer allein, doch ihn sah er zum ersten Mal, und es gefiel ihm überhaupt nicht, wie der Kerl mit ihr sprach. Er stand im Eingang und spitzte die Ohren, um das Gespräch zu belauschen; er schnappte Bruchstücke auf, Gesprächsfetzen, wie "Und wen hast du gewählt?" - "Aber das ist doch geheim", und er spürte, wie eine Welle der Wut in seiner Kehle hochstieg: Es war offensichtlich, dass der Unbekannte
das Hausmädchen der Blinders anmachte.
Auch wenn es eigentlich keine festen Verhaltensregeln im Viertel gab, so folgte man doch einer Art instinktivem Kodex, der über Äußerlichkeiten wie Qualität der Kleidung, Haut- und Haarfarbe, Sprechweise, Körperhaltung hinausging. Sobald ein Fremder im Viertel auftauchte, nahm man ihn fest ins Visier und vermittelte ihm so das Gefühl, dass er überwacht wurde. Es war eine wirkungsvolle, bewährte, von allen Bewohnern und einer großen Zahl von Haustieren praktizierte Form des Affronts. Und so beobachtete der Portier die beiden schon bald nicht mehr verstohlen, sondern ganz offen, ja er ging sogar einen Schritt auf sie zu, damit er besser hören konnte, worüber sie redeten.
Viel erfuhr er nicht, denn Jose Maria und Rosa waren dabei, sich zu verabschieden. Das Einzige, was er klar und deutlich hörte, war ihr gegenseitiges Versprechen, sich bald wiederzusehen. Rosa eilte im Laufschritt zur Villa, während Jose Maria ihr noch einen Moment lang nachsah, sich dannumdrehte und auf den Weg zur Baustelle machte.
Pfeifend und die Tüte mit dem Grillfleisch und dem Brot schwenkend ging er an dem Portier vorbei. Dieser, jetzt, da der andere zu entschwinden drohte, erst recht angriffslustig, machte einen Schritt nach vorn, als gäbe es am Bordsteinrand etwas zu sehen, und versperrte Jose Maria den Weg. Das geschah ebenso schnell wie wohlüberlegt: Er wollte Jose Maria zwingen, hinter ihm vorbeizugehen, dann konnte er auf dem Absatz kehrtmachen und ihm nachschauen - eine offene Provokation. Doch der Portier, ein träger Dürrer mit schmalen Schultern und vor allem ein schlechter Menschenkenner, hatte nicht damit gerechnet, dass der Unbekannte sich tatsächlich beleidigt fühlen würde.
"Was gibt?s da zu glotzen, du Idiot?", sagte Jose Maria im Vorbeigehen und war schon an der Straßenecke, als der Portier seine Sprachlosigkeit überwunden hatte. Mein Gott, ist der flink, dachte er. Ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass der mit einem Satz auf der anderen Straßenseite ist.
Ein paar Stunden später sah er ihn wieder. Genau gesagt, um halb sieben. Frisch geduscht und umgezogen stand er wieder im Eingang des Gebäudes und gab sich wie jeden Tag enorme Mühe, gelangweilt zu wirken. Jose Maria hatte Feierabend; auch er hatte sich frisch geduscht und umgezogen und war jetzt auf dem Weg zur Villa der Blinders.
Es war das erste Mal, dass er nach der Arbeit dort vorbeiging, gewöhnlich nahm er die Straße von der Baustelle Richtung Bajo und stieg dort in den Bus nach Capilla del Señor, wo er wohnte. Schon bei dem Gedanken an die zweistündige Fahrt wurde er müde. Kopfschüttelnd ging er an dem Portier vorbei.
"Ach, du schon wieder", sagte der Portier.
Jose Maria blieb stehen. Er sah ihn an. Nicht von oben nach unten, sondern direkt in die Augen und fragte:
"Was ist?"
"Hab ich dir was getan?"
"Wieso?"
"Du hast heute morgen 'Idiot'? zu mir gesagt."
"Tut mir leid. Ich hab mich hier mit einer jungen Dame unterhalten, und du hast uns belauscht und . . . ach, was weiß ich. Kennen wir uns?"
"Glaub ich nicht."
"Na eben. Leute begaffen kommt nicht gut. Und dann hast du dich mir noch ganz aus Versehen in den Weg gestellt. Deshalb habe ich Idiot zu dir gesagt."
"Das hat mir nicht gefallen."
"Und, was soll ich jetzt machen?"
"Du könntest dich wenigstens entschuldigen."
Jose Maria war müde, er hatte keine Lust auf Streit, also lachte er und ging weiter. Der Portier postierte sich mitten auf dem Bürgersteig und wollte ihn zurückrufen, doch kein Ton kam aus seinem Mund. Frustriert und wütend ging er in seine Wohnung. Er knallte die Tür so heftig zu, dass seiner Frau der Salzstreuer in den Topf fiel.
"Zum Henker mit dem Scheißpack!", sagte er und wählte eine Telefonnummer.
"Hallo ... Israel?", hörte der Angerufene jemanden am anderen Ende sagen. "Ich bin?s, Gustavo, störe ich?"
Israel verdrehte die Augen. "Du hast ein Talent, genau zur richtigen Zeit anzurufen, Gustavo", sagte er. "Ich bin gerade beim Essen."
"Dann rufe ich später noch mal an ..."
" Nein, was ist?"
Unterdessen war Jose Maria an der Ecke Avenida Alvear und Rodriguez Peña stehen geblieben, um sich die Villa anzusehen. Die Fenster waren dunkel, bis auf das in der Küche im Erdgeschoss und ein weiteres im ersten Stock. Ein beeindruckenes Haus: grau, von Moos überzogen, hier und da bröckelte der Putz - es wirkte wie in einen Rauchschleier gehüllt. Man musste nicht sonderlich gebildet sein, um die grandiose Patina zu bemerken, mit der es überzogen war; allein die sich bis in den Vorgarten erstreckende weiße Marmortreppe sah aus, als wäre sie mit einer Spritztüte hingegossen worden. Wirklich schön, dachte er. Er kratzte sich unter dem Arm und murmelte mit fast geschlossenen Lippen: "Rosa, Rosita ..." So etwas hatte er noch nie gemacht. Er war wohl dabei, sich zu verlieben. Aber sein Herz schlug wie immer, nicht schneller und auch nicht heftiger. Wind kam auf, wirbelte ein Zeitungsblatt in die Luft, ließ es ein paar Meter weiter wieder fallen, fuhr in die Krone eines Baumes, brachte ein Plakat zum Erzittern, entschwand in die Ferne. Die Leute beschleunigten ihre Schritte. Jose Maria sah zum Himmel auf, wo zwischen tiefschwarzen Wolken ein Gewitter saß. Jeden Moment konnte der Sturm losbrechen.


2

Am nächsten Tag war der Himmel blank wie ein Spiegel, nicht ein Tropfen Regen war gefallen. Die anderen machten sich über Jose Maria lustig, als er mit einem Schirm auf der Baustelle auftauchte. "Ich bin eben nicht wie du erst vor zehn Minuten aufgestanden", sagte er zu dem Vorarbeiter, einem kräftigen Kerl mit Dali-Schnauzer, der sich bei den Sticheleien als Wortführer hervorgetan hatte. Um diese Zeit (es war sieben Uhr morgens) war niemand gut aufgelegt, und so
ergingen sie sich in Nichtigkeiten, billigen Witzen und Zoten. Dem Vorarbeiter schmeckte Jose Marias Bemerkung überhaupt nicht. Er packte ihn am Arm und zog ihn von den anderen weg, bis sie außer Hörweite waren.
"Hör mal zu, du Kasper, das war ?n Witz, jetzt hab dich nicht so, ich bin nicht so harmlos, wie ich aussehe", sagte er.
"Ach was, hätt ich nicht gedacht."
"Was hättest du nicht gedacht?"
"Nichts, schon gut. Wenn du nicht so harmlos bist, wie du aussiehst, belassen wir es wohl besser dabei."
"Willst du mich provozieren? Kapierst du nicht, dass ich dich auf der Stelle rauswerfen kann, wenn ich will?"
Jose Maria nickte stillschweigend, ohne auch nur eine Sekunde seinen Blick von dem anderen zu lösen.

Der Vorarbeiter hielt stand und ließ seinen Arm nicht los; mehr noch: Er verstärkte seinen Druck auf Jose Marias Arm in der Erwartung, dass dieser zum Schlag ausholte. Vor ein paar Wochen hatte er beobachtet, wie Jose Maria sich mit den Händen an einem Balken hochgezogen und aus Spaß einen Kollegen mit den Beinen gewürgt hatte; damals hatte ihn seine Gelenkigkeit sehr beeindruckt. Doch Jose Maria spuckte nur zur Seite und sagte: "Komm, lass uns arbeiten, sonst ist der Tag rum."
Erst da ließ der Vorarbeiter seinen Arm los.
Jose Maria zog sich um. Die Atmosphäre blieb angespannt; selbst die Kollegen, die später kamen, spürten schon beim Betreten der Baustelle, dass etwas nicht stimmte. Keiner sagte ein Wort; alle bewegten sich
vorsichtig, den Blick zu Boden gerichtet, und sie blinzelten weniger als sonst.
"Was so ein Schirm alles anrichten kann", bemerkte einer leise.
"Ach was, nicht der Schirm, es war der Witz", erwiderte ein anderer. "Man sollte wissen, mit wem man sich anlegt. Dieser Maria ist gefährlich, ob mit oder ohne Schirm."
Alle nannten ihn Maria. Das hatte sich so ergeben, und ihm machte es nichts aus. Auch Rosa hatte irgendwann damit angefangen, ihn so zu nennen. Da war etwas an seinem Äußeren - der schlanke, drahtige Körper, die langen Wimpern -, das einen gar nicht erst auf die Idee kommen ließ, ihn einfach Jose zu nennen. Und ebenso wie man ihm auf einen Blick ansah, dass er beweglich wie ein Hochleistungssportler war, so nahmen sich die Leute instinktiv vor ihm in Acht und sprachen den Namen Maria leise aus, als fürchteten sie, er könnte sich beleidigt fühlen.
Dem Vorarbeiter, einem Choleriker, war bei Marias kaltem Blick das Blut in den Adern gefroren, aber jetzt, da alles vorüber war, brodelte es wieder in ihm. Und so entging ihm, wie gefährlich Maria tatsächlich war. Genau wie dem Portier. Wären die beiden ein wenig aufmerksamer oder sensibler gewesen, hätten sie sich nicht mit ihm angelegt. Sie hatten Streit gesucht.
Rosa dagegen war geblendet; sie war ein unterwürfiges, willenloses Mädchen voller Träume, die sie nie verwirklichte. Marias Gefährlichkeit, die sie für sich als "Willensstärke" auslegte ("Er provoziert einfach
gern . . . "), war die ideale Ergänzung, das fehlende Teilchen in ihrem System. Sie war sehr gern mit ihm zusammen. Sie fühlte sich beschützt. Er gab ihr das Gefühl, gemeinsam könnten sie Berge versetzen. Sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
Maria kam jeden Tag nach der Arbeit vorbei, immer um halb sieben. Sie trafen sich am Dienstboteneingang der Villa und schmiedeten zwischen Küssen banale, für sie jedoch bedeutende Pläne, wie ein kurzes Treffen im Supermarkt am nächsten Tag oder eine Liebesnacht in dem kleinen Hotel im Bajo am Samstag.
Rosa und Maria liebten sich jeden Samstag, manchmal auch am Sonntag. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten sie es jeden Tag getan, und Rosa hatte auch jederzeit Ausgang, aber ihre Finanzen gaben das nicht her. Sie verdienten beide siebenhundert Pesos im Monat. Die zwei Stunden im Hotel kosteten sie fünfundzwanzig Pesos, sie gaben also allein hundert Pesos monatlich dafür aus, dass sie sich einmal in der Woche, samstags, liebten, und zweihundert, wenn sie es auch sonntags taten. Sie teilten sich die Kosten (mal zahlte er, mal sie), aber Maria hatte weit höhere Ausgaben als Rosa, denn er musste täglich von seiner Wohnung in Capilla del Señor zur Arbeit und zurück fahren, und das kostete ihn zusätzliche zweihundertsechzig Pesos im Monat. Dreihundertzehn Pesos gingen also für Sex und Fahrtkosten drauf. Wäre das alles gewesen, hätte er von den restlichen dreihundertneunzig Pesos bequem leben können, aber er war schließlich auch nur ein Mensch und musste essen und rauchen und (wenn er gelegentlich mal Kavalier sein wollte) das Bier oder den Kaffee zahlen, wenn sie ausgingen, und so blieb ihm keine andere Wahl, als die Liebe auf den Samstag zu beschränken. Rosa bedauerte das, aber sie musste auch weniger haushalten als Maria. Sie konnte sogar etwas sparen. Kost und Logis waren frei, sie hatte keine Fahrtkosten und auch sonst kaum Ausgaben: Kleidung kaufte sie selten (das traf allerdings auch auf Maria zu), Zeitschriften schon gar nicht. Herr Blinder, der Hausherr, war Abonnent des Reader?s Digest; die Ausgaben kamen regelmäßig per Post, und sie packte sie
aus und las sie als Erste.
Maria verstand nicht, warum Rosa genauso viel verdiente wie er, denn er fand, dass sein Job weit anstrengender war. Das stimmte, was den körperlichen Kraftaufwand betraf, nicht jedoch, was die Arbeitszeit anging, denn Rosa arbeitete doppelt so lange wie er. Zeit aber zählte für Maria, in dessen Denken sich alles um Muskeln drehte, nicht.

Teil 3