Vorgeblättert

Leseprobe zu Sabine Kray: Diamanten Eddie. Teil 3

17.02.2014.
Alles verdichtete sich. Die russische Armee hatte vor ein paar Tagen ihren Angriff von Osten aus begonnen, die Regierung und die meisten Soldaten von dieser Front waren nach Rumänien geflohen, wo sie nun interniert waren. Vom Westen kamen die Deutschen. Die Anspannung der Menschen in Zamosc wuchs stetig, denn die Berichte über die marodierenden deutschen Truppen wurden Tag für Tag schrecklicher. Niemand wollte seine Kinder in dieser Zeit zu weit entfernt von sich wissen.
     Edward hatte auch aufgehört, abends Radio zu hören, versuchte sich taub zu machen für die Gespräche der Menschen auf der Straße und im Krankenhaus, doch jede Nacht öffnete neue Räume der Angst und der Bedrängnis. Jedes Geräusch trat eine Lawine von Bildern in ihm los. Boleslaw in den Armen des Vaters. Genowefa, deren kräftige Beine so merkwürdig verdreht gewirkt hatten unter dem langen dunklen Rock. Die Menschen mit den blutverschmierten Hemden und der verschleierte Blick des Vaters, als der ihn das letzte Mal angesehen hatte.


"Verdammt!" Ärgerlich schlug er gegen die Kellertür. Weil in der vergangenen Nacht erneut jemand in den Kohlenkeller des Hauses eingebrochen war und Kohlen gestohlen hatte, musste Edward ein neues Schloss anbringen. Doch es wollte einfach nicht halten.
     Natürlich hatte er versucht, das alte Schloss zu reparieren, hatte es ausgebaut, gerade gezogen und dann wieder eingebaut. Zwei Stunden hatte das gedauert. Doch es funktionierte nicht mehr, und so hatte er in der Werkzeugkiste des Vaters ein neues gesucht. Er hatte auch ein passendes gefunden, aber der Einbau wollte ihm einfach nicht gelingen.
     In diesem Moment kamen drei Männer auf den Hof. Schwarzes Haar, zerfurchte, dunkle Gesichter, leinene Bündel. Sie wollten etwas zu essen kaufen. "Nur ein paar Kartoffeln und etwas Brot", sagte der Älteste von ihnen. "Niemand möchte uns etwas verkaufen", fügte er hinzu
und strich sich verlegen über den breiten Schnurrbart.
     Eine Frau mit einem kleinen Baby hatte auf der Straße gewartet. Liebevoll schaukelte sie das Kind, das unter einem bunten Tuch an ihrer Brust schlief, während sie sprach: "Wir kommen von Westen. Überall sind Soldaten, sie haben unsere Häuser verbrannt, dann haben sie uns davongejagt." Edward sah von einem zum anderen, wusste nichts zu sagen. Schließlich bedeutete er ihnen zu warten und stieg in den Keller hinunter, wo er einige Kartoffeln und Äpfel aus dem Versteck seiner Mutter in einen Sack legte. Bald würde es leer sein.
     Als er wieder auf den Hof kam, machte sich einer der Männer am Schloss des Kohlenkellers zu schaffen. "Was machen Sie da?", fragte er nervös. "Du hast die falsche Schraube benutzt, sie geht nicht tief genug ins Holz hinein", sagte der Mann und hielt die Schraube, die Edward verwendet hatte, neben das Schloss, das nun einwandfrei in der Tür saß. Edward sah genau hin und erkannte, dass der Mann recht hatte. "Danke!", sagte er und reichte ihm den Sack. Mit der Linken holte er einige Münzen aus der Tasche seiner zerschlissenen Hose, doch Edward winkte freundlich ab: "Ist schon gut."
     Nachdem die kleine Familie den Hof verlassen hatte, sah Edward ihnen noch lange nach. Die vier waren Zigeuner, vielleicht Schausteller oder fliegende Händler, auf jeden Fall war er sich sicher, dass sie nie ein Haus besessen hatten. Er fragte sich, was ihnen wirklich zugestoßen sein mochte. Und natürlich musste er an Tadeusz denken. Der liebte fahrendes Volk. Wann immer eine Gruppe von ihnen in die Stadt gekommen war, hatte er einen Weg gefunden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
     Vor einigen Jahren, Edward war erst fünf gewesen, hatte sein Bruder eine Zigeunerfamilie auf den Hof in der Löwenstraße gebracht. In der Abenddämmerung hatten sie auf ihren Instrumenten gespielt, und auch die Nachbarn waren aus ihren Häusern gekommen, um ihnen zuzuhören.
     Es war ein warmer Spätsommertag mit schwerer, gelber Luft gewesen. Drei Männer. Eine Geige, eine Flöte und eine mit glänzendem Ziegenleder bezogene Trommel. Laut und eindringlich war ihr Spiel gewesen, und Edward hatte sich dicht an Genowefa gehalten, die staunend die Frauen betrachtet hatte. Die tanzten. Sich drehten. Junge Mädchen in bunten Röcken, die Kleinste von ihnen kaum älter als Edward damals, leichtfüßig und ausgelassen.
     Eine sehr alte Zigeunerin hatte sich auf einem großen Stein vor den Musikern niedergelassen. Ihre Augen waren matt gewesen, fast blind. Doch ihre Hände, Edward sah sie immer noch vor sich: Ihre runzeligen, mit großen Ringen geschmückten Hände hatten mit einer winzigen Rassel den Rhythmus geschlagen und der Musik damit ihre Magie gegeben. Tadeusz hatte ihnen noch angeboten, über Nacht zu bleiben, doch sie hatten abgelehnt und waren mit Einbruch der Dunkelheit für immer verschwunden.

In eine Decke gehüllt saß er mit seinem Schachbrett am Küchentisch und experimentierte mit verschiedenen Eröffnungen, als es plötzlich laut und unnachgiebig an der Tür klopfte. Es war halb elf, und er konnte sich nicht vorstellen, wer ihn um diese Zeit noch besuchen sollte. Angst machte sich in seinem Magen breit. Schon seit einigen Tagen waren deutsche Soldaten in der Stadt, vielleicht handelte es sich um eine Kontrolle. Bei der letzten hatten sie das Radio konfisziert, doch sie hatten ihm geglaubt, dass seine Eltern bloß ausgegangen waren. Die Großmutter auf dem Dorf besuchen.
     Leise ging er ins Wohnzimmer, zog vorsichtig den Vorhang zur Seite und blickte hinaus. Vor der Tür standen die Zigeuner. Was wollten sie wieder hier? Und so spät am Abend? Er stand hinter der Gardine und beobachtete sie. Wartete. Doch sie verließen den Hof nicht. Die Männer setzten sich auf die drei großen Steine, die am Zaun lagen. Sie zündeten sich ihre Pfeifen an, während die Frau auf und ab lief und leise summte, um das Kind zu beruhigen, das sich kräftig mit den Füßen in ihre Seiten stemmte und den Rücken bog, um heruntergelassen zu werden.
     Nach einer Weile klopfte der Jüngste, ein drahtiger kleiner Kerl mit durchdringenden grünen Augen erneut an der Tür. Edward blieb still hinter der Gardine stehen, bis der Kerl, die geöffneten Hände an die Schläfen gelegt, dicht ans Fenster trat, um hineinzusehen. Schnell wich Edward einige Schritte zurück und verbarg sich hinter dem großen Schrank.
     Das Gesicht hinter dem Vorhang war nur ein Schatten, doch schon am Nachmittag hatte Edward es genau studiert. Der Junge musste ungefähr in seinem Alter sein. Forsch, ein wenig abweisend, ganz anders als die Älteren. Als er sich endlich vom Fenster zurückzog, huschte Edward aus der Stube heraus in die Diele. Er lehnte sich an die Wand. Hier konnte ihn niemand sehen. Noch immer verunsichert, tastete er sich durch den dunklen Flur in die Küche. Was wollten sie noch von ihm? Bestimmt hatten sie gemerkt, dass er hier allein war. Waren sie zurückgekommen, um ihn zu berauben?
     Dann dachte er an Tadeusz, der ihm erklärt hatte, dass die Ehre unter Zigeunern und Zirkusleuten alles bedeutete. Kurz entschlossen lief er in den Keller, holte eine Papiertüte mit Haferflocken, schnitt ein Stück Speck ab und verpackte alles in einem großen Bogen Zeitung. Dann ging er damit zur Tür. Nur einen Spalt breit öffnete er sie, schob den Arm und das Bündel hindurch. "Hier habt ihr noch etwas zu essen", sagte er liebenswürdig, doch er öffnete die Tür keinen Millimeter weiter.
     "Wir kommen nicht für Essen, mein Junge, wir wissen nicht, wo wir schlafen sollen. Können wir bitte hier übernachten?", sagte der Älteste und trat einen Schritt auf die Tür zu. Unsicher klammerte Edward sich an das raue Holz und musterte den Fremden. Was hätte die Mutter getan?
     "Wir können bezahlen!", setzte der Mann eilig hinzu, und weil Edward noch immer zögerte, streckte er ihm eine kräftige Hand entgegen: "Ich bin Vito." Edward streckte seine aus und schüttelte die Hand, die weicher war, als er erwartet hatte. "Edward!", sagte er leise. "Ich bin Edward." Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Gardine in einem der Fenster des Nachbarhauses bewegte. Schnell öffnete er die Tür etwas weiter, sodass die kleine Gruppe eintreten konnte.

Ungläubig riss der große Vito die Augen auf. Rieb sie. Demonstrativ. Kniff sie fest zusammen und öffnete sie wieder. Dann schüttelte er den Kopf und wich, die Augen voll stummen Entsetzens auf die Bestie gerichtet, Schritt für Schritt zur Wand zurück. Mit einem Satz stand er auf einem der Stühle und seine Knie schlackerten so sehr, dass er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Die kleine Runde lachte und Edward verlor sich ganz in der dramatischen Pantomime des Zigeuners.
     Da sprang Galo, der jüngste der drei Männer, vom Stuhl auf und schritt, die Peitsche zum Schlag bereit, auf die Bühne zu. Vito, der noch immer zitternd auf seinem Stuhl stand, schlug beide Hände vor die Augen und spähte durch einen Spalt zwischen seinen Fingern hindurch, als Galo die Schultern straffte und mit stechendem Blick zwei Schritte auf das Tier zuging.
     Mit einem Mal unentschlossen hielt er inne, schaute, ging einen Schritt vor, dann einen zurück und wandte sich mit einem fragenden Blick an sein Publikum. Edward nickte ihm aufmunternd zu. Ungläubig sah der ihn an. "Wirklich?", schienen seine Augen zu fragen. "Ja!", nickte Edward. Wieder straffte der Gaukler die Schultern, hob die Peitsche, dann lief er gleich drei Schritte nach vorn. Den Kopf ein wenig geneigt, betrachtete er den Löwen. Und dann, ganz plötzlich, lächelte er, öffnete die geballte Faust und ließ die Peitsche fallen, um das wilde Tier hingebungsvoll zwischen den Ohren zu kraulen.
     Vito, der Feigling, betrachtete das Geschehen noch immer von seinem Stuhl aus. Ergriffen, voller Neugierde. Schließlich hob er einen Fuß, als wolle er hinabsteigen, dann zögerte er doch und schüttelte, an seine Zuschauer gewandt, den Kopf. "Lieber nicht!", sagte seine Geste, und Edward juckte es in den Fingern, den Feigling von seinem Stuhl herunterzuholen. "Na los! Jetzt trau dich doch!", rief er in die gespannte Stille hinein.
     Tatsächlich stieg der Zigeuner von seinem Stuhl herab. Gerade machte er einen ersten, einen winzigen Schritt auf Galo und die Bestie zu, als der plötzlich mit schreckensgeweiteten Augen zurücksprang, die Peitsche aufhob, zu tänzeln begann und sich schließlich hastig zu Boden fallen ließ. Flach auf dem Boden, schützte er den Kopf mit den Händen, während hinter ihm Vito, der große Feigling Vito, mit einem Schlag lang hinfiel.
     Vito lag auf dem Rücken und atmete schwer. Edward wollte aufspringen, ihm helfen. War der große Zigeuner plötzlich ohnmächtig geworden? Doch Jela legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Vito riss die Augen auf und füllte die Backen, das Gesicht ganz rot vom Gewicht des gewaltigen Tieres auf seiner Brust. Er starrte es an, ungläubig zunächst, dann empört. Er begann, mit beiden Händen den verliebten Löwen von sich zu schieben.
     Doch obwohl seine Arme schon zitterten vor Anstrengung, bewegte sich nichts. Die kleine Stube bebte vor Gelächter. Schließlich sprang er einfach auf, wischte sich mit dem Ärmel durch das Gesicht und verbeugte sich mit großer Geste zunächst vor Galo, dann vor seinen Zuschauern. Auch Galo sprang auf, neigte den Kopf und ließ sich schließlich auf einen der Stühle an dem Tisch fallen, auf dem noch die Reste ihres Abendessens standen.
     Fasziniert beobachtete Edward, wie die beiden Männer von einem Moment auf den anderen wieder sie selbst wurden. Sie waren wirklich Meister ihrer Kunst.

Langsam blinzelte er in den hellen Morgen und bemerkte, noch bevor er die Augen richtig geöffnet hatte, dass Hedwig, die seine Gesellschaft in den vergangenen Tagen beharrlich gemieden hatte, sich zu seinen Füßen eingerollt hatte. Warm und schwer lag die schöne, bunt gefleckte Katze auf seiner Decke und beinahe wäre er wieder eingeschlafen, hätte er nicht plötzlich die Hand bemerkt, die von der oberen Etage des Bettes herabhing.
     Lange betrachtete er die fremden Finger. Sie waren schlank. Die Nägel ein wenig zu lang und schmutzig. Der Rücken der Hand war sonnengegerbt und eine sternförmige Narbe prangte zwischen den Gelenken von Ring-und Mittelfinger. Er hatte nicht geträumt. Die Narbe war die Erinnerung an den Biss eines Fuchses und die schlanken Finger tanzten über den Tischrand, wann immer Galo etwas zu erzählen hatte.
     Leise stand er auf und zog sich an. In der Küche konnte er Jela leise summen hören. Er öffnete die Küchentür und sah sie vor dem Herd stehen, das Kind wie immer im bunten Tuch an ihrer Brust. Sie lächelte, während sie ein Stück Speck abschnitt und energisch die Pfanne damit ausrieb. Das Fett knisterte. Mit sicherer Hand schnitt sie einige dünne Streifen vom verbleibenden Stück und warf sie hinein. "Edward, mein Lieber", sagte sie, wobei sie die Vokale dehnte und jedes R rollte, bis es vibrierte, "geh und wecke die trägen Faulpelze, wirst du?"
     Vito und David, die beiden älteren, waren schnell geweckt, doch Galo erwies sich als besonders hartnäckig. Edward stieß ihn zunächst nur leicht an, worauf es keinerlei Reaktion gab. Als Nächstes schüttelte er ihn zaghaft an der Schulter. Dann heftiger. Doch der Junge drehte sich nur schnaubend auf die andere Seite. "Galo, es gibt Frühstück", flüsterte er. Mit einer rüden Geste wehrte der Schlafende auch diesen Versuch ab, und fast ein wenig beleidigt ging Edward ohne ihn in die Stube, wo die anderen bereits mit dem Essen begonnen hatten.
     "Er war einfach nicht wachzukriegen", sagte er entschuldigend. Jela schüttelte energisch den Kopf. Mit langen Schritten ging sie durch den Flur in Edwards Zimmer, wo sie eine heftige Schimpftirade auf den bockigen Schläfer herabregnen ließ, und es war noch keine Minute vergangen, da kehrte sie mit ihm in die Stube zurück. Gemeinsam frühstückten sie, dann steckte Edward, wie es auf den Bekanntmachungen in der ganzen Stadt verlangt wurde, seine Papiere ein und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus.

"Den Ausweis!" Der Soldat war klein, kaum größer als Edward, und trug eine deutsche Uniform. Seine Hände waren sehr weiß, die Nägel kurz und sauber. Während Edward mit der Rechten den Ausweis in seiner Jackentasche suchte, versuchte er sich mit der Linken unauffällig den Speicheltropfen von seiner Wange zu wischen, der aus dem Mund des Soldaten dorthin geflogen war.
     Kritisch betrachtete der Soldat Edwards Papiere, hielt sie dicht vor das Gesicht und kniff die Augen hinter der Brille zusammen. "Kraj - was ist das für ein Name?", fragte er argwöhnisch. "Kraj heißt Land", Edward begegnete dem herausfordernden Blick des Mannes. Erst nachdem er minutenlang seinen Ausweis studiert hatte, durfte Edward seinen Weg fortsetzen.
     Die Gegenwart der Deutschen war von einem Tag auf den anderen in der ganzen Stadt zu spüren. Ihre Bekanntmachungen fanden sich an jedem öffentlichen Platz und der Lärm ihrer Fahrzeuge füllte bis spät in die Nacht alle Straßen und Wege von Zamosc.
     Vor der Gemischtwarenhandlung Tutasz standen gleich drei deutsche Wagen. Wie Reptilien, die Flanken verkrustet von Schlamm und Staub. In einiger Entfernung blieb Edward stehen und beobachtete das Geschehen. Neben den Autos, rauchend und feixend, warteten Soldaten, die offenbar Lebensmittel aus Herrn Tutasz' Laden auf ihre Lastwagen bringen ließen.
     Männer in Tadeusz' Alter, manche kaum erwachsen, verhöhnten und schubsten Konrad, den Sohn von Herrn Tutasz, während dieser eine Kiste nach der anderen hinausschleppte. Sein Vater, zu alt zum Schleppen, stand neben der Tür des Ladens. Blass vor Verzweiflung und Zorn sah er dabei zu, wie die Waren einfach aus seinem Geschäft herausgetragen wurden.
     Edward ballte die Fäuste. Wut und Angst drückten heftig auf seinen Kehlkopf. Eine der Schwestern im Krankenhaus hatte ihn gewarnt. Er solle sich fernhalten von den Deutschen. Auf keinen Fall in ihr Visier geraten. Stattdessen wanderten seine Gedanken zu Tadeusz. Auch sein Regiment musste vor den russischen Soldaten nach Rumänien zurückgewichen sein. Nun waren sie alle in rumänische Gefangenschaft geraten. Frau Kowalska hatte das von einer Freundin erfahren, deren Sohn ebenfalls an der ukrainischen Front gewesen war.
     Er versuchte, an andere Dinge zu denken. Im Krankenhaus erzählte er dem Vater von seinen Plänen, ein Schachprofi zu werden, und für einige Stunden vergaß er den Krieg, die Besatzung, die Kontrollen und die Unsicherheit, die den Horizont verdunkelte.
     Auf dem Heimweg schwand seine Zuversicht. Die unersättliche Meute überschwemmte die Stadt. Sie überschwemmte ganz Polen und niemand konnte sie aufhalten.
Überall waren Soldaten. Sie durchsuchten und schikanierten die Leute, konfiszierten Lebensmittel, Radiogeräte und sogar Menschen.
     Ängstlich dachte er wieder an Tadeusz. Wie mochte es ihm ergehen in der Gewalt der Feinde? Es musste unerträglich sein. Und was, wenn er jetzt auch noch den Bruder verlor und ganz allein zurückblieb? Edward legte den Kopf in den Nacken, um die Tränen aufzuhalten, doch es half nichts.
     Ratlos blieb er vor dem Haus stehen. Vito, Jela, David und Galo hatten die Wohnung aus Angst vor den deutschen Streifen seit Tagen nicht verlassen. Sie aßen seine Vorräte, lagen in den Betten seiner Familie und so erleichtert er anfangs gewesen war, nicht mehr allein sein zu müssen, so sehr fühlte er sich jetzt bedrängt von ihrer ständigen Gegenwart.
     Resigniert strich er am Haus entlang und sah durch die Fenster in seine Wohnung. Alte, einfache Möbel, ein abgenutzter brauner Teppich auf dem Fußboden in der Stube, die Porzellanfigurensammlung der Mutter auf der Anrichte neben der Tür. Auf einmal war ihm das alles fremd. Eine fremde Wohnung, ein fremdes Haus, ein fremdes Leben.
     Ein Streifen Licht fiel spitz in die Stube. Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte sich darin ein Schatten, und Edward beeilte sich, hinter das Haus zu gelangen. In der Stille des Abends hockte er sich mit dem Rücken an die Hauswand und sah auf die wilde Wiese, die sich vor ihm ausdehnte.
     Hedwig war ihm gefolgt, strich an seinem Knie entlang, stieg mit ihren Vorderpfoten auf seinen Oberschenkel und sah ihn neugierig an. Einen Moment lang erwiderte er ihren forschenden Blick, dann ertrug er die Nähe des Tieres nicht mehr: "Geh! Hau ab! Lass mich in Ruhe!" Mit einer heftigen Bewegung wischte er ihre Pfoten von seinem Bein und sah sie zornig an. Beleidigt zog sie ab, zischte erhobenen Hauptes durch ein Loch im Zaun auf die wilde Wiese. Noch ein letztes Mal sah er ihren weißen Schwanz aufblitzen, dann war sie verschwunden.
     In der Küche fand er Jela und die anderen am Ofen, wo sie das Brot vom Vortag rösteten. Im Keller hatten sie auch ein Glas Brombeermarmelade aus dem letzten Herbst gefunden, und die Stimmung in seiner Küche war so ausgelassen, dass er selbst in der Diele noch jedes Wort verstehen konnte. Sie sprachen über andere Zeiten, über das Leben vor dem Einmarsch. Er wollte nichts davon hören, wollte schon in sein Zimmer verschwinden, als Jela in den Flur trat und ihn mit beiden Händen in die Küche zog.
     Widerwillig trank er eine Tasse heißen Tee, aß eine süße Schnitte und sah zu, wie Galo mit einem Löffel die letzten Reste aus dem Marmeladenglas kratzte und noch mit dem Finger unter den Rand fuhr, um auch an das letzte bisschen zu gelangen. Wie gierig der Zigeunerjunge war. Doch er wollte kein schlechter Gastgeber sein, also konzentrierte er sich auf Jela, die jetzt alles über Tadeusz wissen wollte. Vito, David und Galo machten unterdessen Faxen, gaben ihre Kunst zum Besten und lachten dabei so wild, dass Jelas Kleiner vor Freude gluckste.
     Schließlich ließ er ihre Späße dann doch alles davonspülen. Vito mimte einen Käfer, Galo seinen Fänger und ihre Gesten nahmen den kleinen Raum bis zur Decke ein. Und als Galo endlich den alten Kochtopf ergriff und ihn dem verdutzten Vito über den Kopf stülpte, da erzwang sich das Lachen seinen Weg und zusammen mit Galo, der jetzt völlig überwältigt vom eigenen Witz um Atem rang, ließ er es die Küche füllen.
     Jetzt tat es ihm leid, dass er Hedwig verjagt hatte, und während die Männer eine Pause machten, ging er hinüber in die Stube an das Fenster, von dem aus man über den Hof blicken konnte. Es dämmerte bereits.
     Statt der Katze sah er einen schweren Wagen auf der Straße vor dem Haus. Ein deutsches Auto. Edward kniff die Augen zusammen, um die weißen Gesichter im Inneren des Wagens besser erkennen zu können, als der Wagen plötzlich langsamer wurde und auf den Hof rollte.
     Erschrocken zog er die Gardine vor das Fenster und lief durch den Flur in die Küche, wo Vito ein weiteres Stück zum Besten gab. Da klopfte es bereits heftig an der Tür. "Wer ist das?", fragte Vito und ließ den gespielt erschrockenen Gesichtsausdruck von seinem Gesicht in den Schoß fallen. Wahrer Schrecken trat auf sein Gesicht, als es klopfte: "Gestapo! Aufmachen, sofort aufmachen!"
     Edward rang noch um Worte, da waren Vito, David und Galo schon auf den Füßen und rissen das Fenster auf. Die Scheibe brach, als es gegen den Schrank krachte, und noch bevor Edward verstand, was vor sich ging, stand Vito auf dem Fensterbrett und sprang. Galo und David folgten ihm. Jela ergriff den Kleinen, raffte ihre Röcke zusammen, um auf die Fensterbank zu steigen, doch die Gestapo hatte bereits die Tür aufgebrochen. Zu dritt füllten sie die schmale Diele und drangen in die Küche ein.
     Einer zerrte die junge Frau vom Fenster weg. Sie schrie und wehrte sich heftig, bis der Mann ihr eine derbe Ohrfeige gab. "He!", rief Edward empört. "Lassen Sie das!" Doch der Schläger beachtete ihn nicht, er hatte Jela in eine Ecke gedrängt, fixierte sie mit beiden Händen. Das Kind an die Brust gedrückt, blieb sie stehen und blickte ihn aus hasserfüllten Augen an.
     Ein anderer eilte zum Fenster. "Über alle Berge, das Pack", rief er voller Ärger. "Die kriegen wir schon noch!", sagte der Dritte, der sich im Hintergrund gehalten hatte.
"Sind Sie Stanislaw Edward Kraj?", fragte er in geübtem Polnisch. Edward nickte. "Mein Name ist Lüders, Kriminalassistent Lüders", sagte der Mann. Er hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme und sie vibrierte vor Selbstgewissheit, als er hinzufügte: "Ich bin hier, um Sie zu verhaften."
     Edward begriff kein Wort mehr von dem, was er sagte: "Zigeuner … Elemente … Hinweise … illegal." "Ich weiß gar nicht, was ich getan haben soll!", stammelte er und wich vor dem großen Mann an die Wand zurück. "Ich habe nichts Verbotenes gemacht. Ich - ich bin erst fünf-
zehn."
     Der Mann sah ihn nicht an, sondern schrieb etwas in sein Notizbuch. Mit stolpernder Stimme fuhr Edward fort: "Meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester sind gestorben, mein Vater liegt im Krankenhaus und …", er hob die Stimme: "Sie können mich nicht verhaften!" Sein Flehen überschlug sich, als er weitersprach: "Sie können mich nicht verhaften, weil ich meinen Vater im Krankenhaus besuchen muss. Es geht ihm schlecht. Sehr schlecht."
     Verzweifelt rang er nach Atem. Endlich sah der Mann ihn wieder an, ließ den Füller zwischen Zeige- und Mittelfinger wippen. Edward versuchte seinen Blick zu fangen, suchte nach Worten: "Mein Bruder, mein Bruder ist in Gefangenschaft, aber bald kommt er wieder. Bestimmt! Sie können mich nicht verhaften!"
     Der Stift wippte immer schneller. Der Mann zeigte kein Mitleid: "Nimm deine Jacke, wir nehmen dich jetzt mit."

                                                                  *

Auszug mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Verlagsanstalt.
(Copyright Frankfurter Verlagsanstalt GmbH)


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